Mittwoch, 29. März 2017

Zum Knuddeln zu süß? Cuddle Workshop, endlich!

Ich hatte eine Tante Johanna, die, kinderlos, von einem Bus überfahren wurde, als ich noch Kind war.  Mir war damals nur aufgefallen, dass man mir diese Schreckensnachricht möglichst lange vorenthalten wollte. Wenn wir sie trafen, rastete sie gefühlsmäßig aus, nannte mich süß und knuddelte mich. Ein Bonbon gab es auch. Mir gefiel das. Dann war sie nur noch eine liebe
Erinnerung.


Viel später glaubte ich, dass Knuddeln eine besonders erotische Art ist, alles was man an Körperlichkeit an sich hat, dem geliebten anderen Menschen in Form von Armen um den Hals zu schlingen. Für mich war das immer sehr erotisch, nicht aber mit Sex zu verwechseln. Ansonsten ist ein Knuddel eine besonders liebevolle Art, ein Kleinkind heftig durchzuschütteln. Eine Großnichte (wie nüchtern das klingt), die mit ihren verliebten Eltern nicht weit von uns, hier in Yorkshire, entfernt lebt und erst einige Monate alt ist, könnte ein Lied davon singen, wenn sie schon singen könnte. Kaum wird sie zur Tür hereingetragen, raste ich aus und knuddle sie vorsichtig. Und sie gewährt mir ein süchtigmachendes Lächeln.

Ist er nicht süß? 
Noch viel später, als gestandener Mann, mit Freundschaften auch der männlichen Art, erfahre ich Seltsames: Während ich manchmal dachte, Umarmungen unter Männern hätten einen leichten Anstrich von Homosexualität (siehe USA), falsch verstandener Brüderlichkeit (Sowjetunion und DDR) und dubiosem Herumgetatsche (überall), entdeckte ich verschiedene Variationen von durchaus männlich-liebevollen Äußerungen von unverdächtiger Zärtlichkeit.

Russenknuddel 
Ernesto, ein enger spanischer Freund, sandte per Post un abrazo muy fuerte, und im direkten Kontakt behämmerte er mit seinen Händen deine Schultern so begeistert, dass du dich gerne unter der Last zusammengebrochen wähntest. Andere nahmen dich so in den Arm, dass du dich für Momente geborgen fühlen konntest. Wenn die Geste gekünstelt war, merkte man das schnell und nahm für immer Abstand. Mit anderen Worten: der körperliche Einsatz beim Begrüßen von männlichen Freunden schien mir immer etwas übertrieben. Meine angeborene Schüchternheit ließ mich oft ungeschüttelt herumstehen.


Jetzt hat sich die Welt auf einmal geändert. Brexit hat die englische Menschheit in 2 Teile geteilt, die von Europa weg wollen und die anderen. Seitdem wird das Knuddeln mit neuen Augen gesehen. Irgendwo stand ein junger Mann, mitten im Getümmel neben einem Schild. Darauf stand: Get a free cuddle. Meine Neugier brachte mich so nahe an ihn heran, dass er die Arme öffnete und mich herzlich umarmte. Ich hatte also ohne jeden Grund einen wildfremden Menschen geknuddelt. Liegt das Knuddeln heute, wo viele vereinsamt vor ihrem Rechner oder auf der Couch vor dem Fernseher sitzen, in der Luft? Gestern zeigte mir Cath ein Faltblatt mit der Aufschrift: Cuddle Workshop Yorkshire.


Ist es Zufall, dass die Austrittserklärung aus der EU gerade zu dem Zeitpunkt stattfindet, an dem die Nation vielleicht öffentlich beknuddelt werden möchte? Jetzt lese ich, dass beim Knuddeln ein Hormon im Spiel ist, das Liebeshormon namens Oxytocin. Wann wird es ausgeschüttet? Natürlich beim Orgasmus und bei der Geburt eines Kindes. Schon ist die Knuddelindustrie am Erwachen, nachdem man per Forschung entdeckte, dass Oxytocin Männer davon abhält, sich für andere Frauen zu interessieren. Be a better man, heißt die Devise. Und, wie Oxytocin dem Manne helfen kann, eine lebenslange Liebe aufzubauen. Die wissenschaftlich fundierte Botschaft lautet: Be mine for ever (sei mein für immer). Das alles soll ohne falsche sexuelle Regungen über die Bühne gehen. Ich werde wohl bald herausgefunden haben, ob ein Knuddelkurs für Fortgeschrittene den Engländern nach dem Brexit noch etwas bringt und ob ich als Kontinentaleuropäer überhaupt für die gehobenen Techniken des Knuddelns infrage komme.






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