Dienstag, 13. Dezember 2016

Die verlorene Zeit des Marcel Proust

Um ganz ehrlich zu sein: ich hielt dich anfangs für einen vertäumten, wehleidigen, überspannten Luxusautor, über den man sagen konnte, er sei permanent à la recherche du temps perdu. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für ihn war die Entdeckungsreise nicht die Suche nach Neuem, sondern das Sehen mit neuen Augen. Lange Zeit verbrachte er kränklich im Bett. Das Ergebnis, eine Entdeckung: seine Vergangenheit in 7 Bänden. Um die 3000 Seiten. Es wäre unfein, Proust als einen Spinner abzutun. Übrigens wurde er in seinem Werk von Goethe inspiriert, der seine eigenen Lebenserinnerungen Dichtung  und Wahrheit nannte. Proust hatte eine wohlhabende jüdische Mutter und einen gelehrten und prominenten Vater. Seine Asthmaerkrankung machte ihn schon früh zu einem wohlbehüteten, ständig umsorgten Patienten.


Der schönste Roman der Welt, wurde dieser Romanzyklus genannt, nachdem er die Welt erobert hatte. André Gide als Lektor hatte ihm schließlich zu diesem Erfolg verholfen, nachdem er noch ein Jahr zuvor Prousts Werk als typisch versnobt abgetan hatte. 1913 war das Jahr, als, dank Marcel Proust, die Tasse Tee und das "Madeleinchen" bekannt wurden. Für immer. Marcel erinnerte sich an einen Duft in seiner Kindheit, als er ein Gebäck namens Madeleine in den Tee tauchte. Dieser Duft öffnete seine Kindheitserinnerungen. Damit begab er sich literarisch auf die Suche nach der verlorenen Zeit.


Wer hat nicht schon plötzlich an etwas gedacht, das vor vielen Jahren zutraf, wenn der Auslöser, ein bestimmter Duft war, sozusagen als  Transportmittel der Erinnerung? Ich werde sofort an meinen Kindergarten erinnert, wenn ich Bakelit rieche. Wir hatten ein Regal mit roten Bakelitbechern zum Zähneputzen. Dabei geriet das Kindernäschen in den Becher, der eigenartig süßlich roch. Genau wie der schwarzbraune Volksempfänger, ein Radiogerät der älteren Art, das auch einen süßlichen Geruch hatte. Sofort dachte ich an meine erste Geliebte, die mir im Kindergarten einen weichen, feuchten Kuss auf den Mund gab. Wir waren 5, und das gemeinschaftliche Zähneputzen machte Spaß.


Der Volksempfänger war für mich die Verbindung zur Welt. Der Krieg war zuende, und im Radio gab es Wunschkonzerte und unsäglich banale Wetterberichte. An Blasmusik kann ich mich erinnern. Das alles hat ein synthetischer Kunststoff bewirkt, den ein Belgier um die 1905 erfand und von Berlin aus weltweit vermarkete. Seine chemische Basis waren Phenol und Formaldehyd, das durc Wärme und Druck in beliebige Formen gepresst werden konnte. Schon denke ich an Fenster- und Türgriffe, Telefonapparate und an den Trabbi aus der DDR.  Alle enthielten Teile aus Bakelit.

Drei Jahre Wien. 
Marcel Proust hat also mit seiner "verlorenen Zeit" ein Lebenswerk erschnüffelt. Seine Erinnerungen müssen nicht immer die Wahrheit sein. Aber, sie sind Teil seines Lebens. Wir alle haben das Recht, Erinnerungen zu haben. Vor allem, wenn sie frei von traumatischen Alpträumen sind. Aber auch da können zum Beispiel Therapeuten helfen, den Schmutz vergangener Jahre (Krieg, Zertstörung, Missbrauch, Folter usw.) zu beseitigen. Nur die Erinnerung hilft, zu einer erträglichen und auch besseren Gegenwart zu kommen. Marcel Proust hat den Weg gewiesen: ein Tässchen Tee mit eingetauchtem Madeleinchen, und schon kann für jeden eine vergangene Welt wiederbelebt werden. Es gibt viele solche "Andenken", die einen rückwärts träumen lassen.










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