Bis vor kurzem durfte man noch in der Vorstellung leben, dass der Niedergang der Berliner Mauer das größte historische Ereignis war, das uns zu Lebzeiten überrollt hat. Die ganze Welt wurde davon erfasst, Europa zutiefst verändert und aufgewühlt. Auf den gewichtigen Helmut Kohl folgte eine Angela Merkel, die den Ruf Kohls noch um vieles steigern konnte. Ihr solides Wirtschaften und ihre aufgeschlossene Politik gegenüber Hunderttausenden von Flüchtlingen machte sie - wie viele behaupten - zur mächtigsten Frau der Welt. Dann kam ein Umsturz in diese heile Welt. Die Unzufriedenheit der einen und das wie aus dem Nichts auftauchende Selbstbewusstsein der anderen schienen sich zu vermischen.
Plötzlich wurde geschrien, die Merkel muss weg, Ausländer raus, Linkes Pack, Muslime belästigen unsere Frauen und Deutschland wird zugrunde gerichtet. Nüchterne Zahlen widersprechen dem zwar, doch der rechte Mob verbreitet immer neue Parolen, die den gutgläubigen Deutschen Angst einflößen sollen. Dennoch: die Zahl der Arbeitslosen nimmt ab, die Wirtschaft boomt, und mehr und mehr Bürger wollen helfen, den Flüchtlingen das Leben zu erleichtern.
Der Verdacht kommt auf, dass die Politik der traditionellen Parteien erheblich an den wahren Fragen des Lebens vorbeischrammt und jetzt nicht die Energie aufbringt, dagegen anzugehen. Also schürt die Rechte diesen Konflikt, weil sie sich Stimmen erhofft. Soweit könnte man noch von demokratischen Vorgängen sprechen, wäre da nicht der dummdreiste Hass und die gezielten Lügen der Neonationalen (AfD, PEGIDA, Reichsdeutsche und unverholene Nazis, vom rechten Flügel der Bayrischen CSU unter Seehofer ganz zu schweigen). Die Saat scheint aufgegangen. Der Schaden groß. Die Ratlosigkeit ebenso.
Für Journalisten, die die Wahrheit suchen, ein gefundenes Fressen. Was ist echt an dieser Lage? Was ist herbeigeredet? Was wollen die sich als Alternative für Deutschland gebärdenden Aufwiegler in unserem Land? An die Macht, ohne klare Ziele zu haben? Da ist es gut, den Blick auf ein anderes Land zu richten, dem ähnlich zugesetzt wird: Großbritannien, das im Großen und Ganzen bisher als eine ganz "normale" Demokratie dahin vegetierte. Jetzt gibt es auch hier wachsende Verunsicherung, an der die Merkel offensichtlich keine Schuld trägt.
Doch einer der größten Hetzer des Vereinigten Königreichs, Nigel Farage, hat sich schon mannigfaltig einen Namen gemacht. Unverschämtheiten im Europäischen Parlament. Noch macht er Donald Trump den Hof. In England schreckte er während der Brexitkampagne Millionen mit Lügen und Hasstiraden über die EU auf, nicht ohne Erfolg. Auch Angela Merkel bekam es zu spüren. Ihr sagte er nach, sie stelle eine europäische Armee auf, die sie auch gegen England einsetzen würde. Ein weiterer Dorn im Auge der Brexitbrigade: die vielen Ausländer und vor allem die EU-Zuwanderer. Fagages Behauptungen waren nicht nur falsch. Sie sind auch heute noch erstunken und erlogen.
Wer liest die Scherben zusammen? |
Drahtzieher, Übeltäter, Lügner, Extremisten und Ferngesteuerte nennt er die Verursacher dieser landesweiten britischen Verunsicherung. Farage gehört dazu, der nicht rein zufällig diesem amerikanischen Republikaner Trump Wahlhilfe leistet. In einem Artikel im Guardian geht Monbiot etwas weiter. Da ich seit Anfang Januar die Szene hier in Yorkshire aus großer Nähe beobachte, bin ich gespannt, ob Monbiot damit Erfolg haben wird. Without the power of kindness, our society will fall apart ( Ohne die Macht der Nettigkeit wird die Gesellschaft zerbrechen).
Das Wort Nettigkeit (Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Freundlichkeit) muss erklärt werden, denn es ist zutiefst in die englische Umgangskultur eingewoben. Während es in Deutschland zu harten und gehässigen Ausbrüchen zwischen (auch) fremden Menschen kommen kann, was man als eine Art Streitkultur bezeichnen könnte, ist in England das oberste Gebot: sei nett zu deinen Nachbarn und zu Fremden. Im Schnitt sagt man hier 20mal am Tag Sorry. In Deutschland höchst selten Tut mir leid. Es mag nicht immer alles ehrlich gemeint sein. Und in Deutschland sind raue Töne nicht immer böse gemeint. Doch ein Unterschied bleibt. Monbiot hat interessante Erfahrungen gemacht, die für die Zukunft der Gesellschaft auf eine neue Friedlichkeit hoffen lassen. Nach einer Rede zum Thema, die musikalisch begleitet war, forderte er die Teilnehmer am Ende auf, wenigstens einmal auf einen unbekannten Nachbarn zuzugehen und ihm die Hand zu reichen. Auch reden war erwünscht.
Viele überwanden die erste Verlegenheit und kamen mit Unbekannten in Berührung. Manche Zwiegespräche dauerten bis nach Mitternacht. Die Erfahrung, anstelle einen potenziellen Feind anzuschweigen, diesen als möglichen Freund kennen zu lernen, müssen offensichtlich die Menschen in der heutigen Gesellschaft erst wieder machen. Das schließt natürlich aus, eine Frauke Petry als Giftschlange, oder eine Beatrix von Storch als eine dumme Ziege zu bezeichnen. Hier bekenne auch ich mich schuldig. Doch habe ich mir vorgenommen, an mehr aktiver Nettigkeit meinerseits gegenüber Fremden zu arbeiten. Vielleicht kann eine zuvorkommende, freundliche Einstellung anderen gegenüber helfen, den Untergang des Vaterlandes nicht mehr so krass zu sehen.
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