Donnerstag, 17. Oktober 2013

Die Dinge des Lebens - nur Katastrophen?

Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, beginnt das langsame Ziehen einer Bilanz. Ist man hundertjährig, lebt man zwar noch, aber die Dinge des Lebens gehen einen fast nichts mehr an. Man wägt ab: überwiegen die persönlichen Katastrophen oder überwiegen sie nicht? Meine Katastrophen: am Ende des Weltkrieges: Hunger und Not. Doch das haarscharfe Vorbeischrammen an Tod und Zerstörung war als bescheidener Erfolg zu verbuchen. Die Eltern litten unter dem Nazifaschismus und mussten sich gleichzeitig mitschuldig fühlen. Die Großeltern beiderseits wurden gnadenlos ausgebombt und verloren alles. Sie hatten auch noch die Inflation nach dem ersten Weltkrieg zu verkraften.

So sahen Vater und Tanten aus.

Meine Niederlagen waren eher klein: im Kindergarten starb meine Freundin. Sie war drei Jahre alt, hatte mich feucht geküsst, und niemand tröstete mich als ich hinter ihrem weißen Kindersarg herlief. Beim Kampf gegen einen sadistisch veranlagten Priester (ich war 10) half mir niemand, aber ich setzte mich durch. Im Gymnasium hatte ich einen machthungrigen und rachsüchtigen Lehrer, gegen den ich mit 17 erfolgreich ankämpfe. Schön war das nicht. Nächste Katastrophen: Einmal im Examen durchgefallen, obwohl es nicht an meinem Wissen liegen konnte. Ein paar Beziehungen gingen in die Brüche, und ich verstand nie, warum. Eine Ehe, die mich zerstörte, jedoch vielgeliebte Kinder hervorbrachte. Gesundheitliche Probleme hat jeder. Eine Katastrophe würde ich es bei mir nicht nennen. Eher Schicksal.

Worauf es bei den Dingen des Lebens ankommt, ist etwas anderes. Was hat mich glücklich gemacht? Vieles: die ersten reifen Kirschen an unserem Baum. Die großen Augen eines Apotherkertöchterchens (vielleicht 11 Jahre), das hinter dem Tresen ihres Vaters hervorlugte, wenn ich mit einem Rezept ankam. Der Anblick riesiger Autos, als die Amerikaner, Kaugummi verteilend, durch unser Dorf fuhren. Die erste Intimität, mit einem Mädchen, dessen Beine ganz glatt, und deren Küsse stürmisch und heiß waren. Die Jahre in Paris. Die Öffnung der Berliner Mauer, die ich im 34. Stock eines New Yorker Hotels erleben durfte. Unbekannte umarmten mich, als sie in mir den Deutschen erkannten. Und dann: ich stehe immer noch und immer wieder im Bann einer großen Liebe aus Yorkshire, die meinem Leben heute einen Sinn gibt.

Das Glück muss man nicht nur haben, man muss es auch sehen, fühlen und begreifen können. Dann sind die Dinge des Lebens einfach das, was Manès Sperber, der Autor und Individualpsychologe im Alter in seinem Buch "Die vergebliche Warnung" so beschrieben hat: "Die durch diese Einsicht beeinflusste, doch nicht immer erreichte Haltung (der Einsicht) hinderte mich nicht, ehrgeizig zu sein und eitel, manchmal zornig und, wenn auch nur vorübergehend, borniert". Der bittere Geschmack der Hoffnung und der Geruch kalter Asche (frei nach Sperber) lagern über einem langen Leben, das man sich nicht selbst ausgesucht hat. Das Glück, hingegen, fällt in den Schoß und will dankbar belächelt werden.






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