Mittwoch, 3. April 2013

Wiener G'schichten III

Ich schaffe es heute nicht, zu der lieben alten Dame zu gehen, die mir mit den Schrauben geholfen hat. Am Wiener Graben stehen nur "schicke" Läden, teils von Weltruf, teils sau-teuer, teils beides. Ein Tante-Emma-Laden, wie man ihn noch aus der Zeit der Großeltern kennt, hat hier keinen Platz mehr. Wer seine hölzernen Jalousien (in der jahrhundertealten Blutgasse) selbst befestigen möchte - etwa 10 Fenster warten geduldig darauf - benötigt zahlreiche kleine Holzschräubchen, die nicht mitgeliefert werden. Ich suchte und suchte. Eine Eisenhandlung, oder so, hätte mich glücklich gemacht. Doch dafür muss man in einer Hauptstadt große Umwege in Kauf nehmen. Ich aber hatte, Tage zuvor, ganz nahe am Zentrum, in einer kleinen Gasse, ein Geschäft entdeckt, in dessen Schaufenster allerlei Krimskrams zu sehen war. So schien es mir. Ich nahm mir ein Herz und fragte nach etwas man in einem guten Elektrogeschäft finden kann, wenn man Glück hat: ein kleines Plastikteilchen (Klemme???), mit dem man vier elektrische Drähte miteinander verbinden kann, mittels Einführung derselben in winzige Öffnungen und Befestigung durch Schräubchen, damit bei uns in der Toilette eine Lampe angeht. Dafür benötigte ich auch ein Glühbirnchen der antiken Art, mit einem kleinen Schraubgewinde. Die freundliche ältere Dame fand in ihrem großen Fundus die "Klemme" und die Glühbirne. Die Wartezeit für die Suche durfte ich in einem Sessel sitzend mit einer Zeitung verbringen. Deshalb fragte ich bei Frau Kremser ein paar Tage später auch nach den Schräubchen für die Jalousien. Ich erhielt sie nach einigem Suchen freundlich geschenkt.


Das Geschäft von Frau Kremser ist ein Stück Rest-Wien, inmitten teurer Läden, die alles verkaufen, was eine Prinzessin, ein Herrenreiter, eine modebwusste Großstadtschucksen, ein ältlicher Geck und die Besitzer von Luxuslimousinen, Bankfilialen etc. benötigen. Bald werde ich sie wieder besuchen,  die alte Dame, und, wenn möglich, mehr über sie erzählen.


Wien ist voller Überraschungen. Dort, wo es sich ein wenig verleugnet, weil statt schmucken Häusernwuchtige Wolkenkratzer herumstehen, wirkt alles etwas langweilig: das Austria Center, ein Kongresszentrum mit kurzen Wegen für den erschöpften internationalen Kongressteilnehmer, und das UNO-Gebäude, eine fremde Welt mit U-Bahn-Anschluss. Alles hier atmet Neuzeit. Das alte Wien liegt im Westen, von hier aus betrachtet. Man kehrt gerne über die Donau wieder zurück und steigt am Steffel aus, wo das Herz der Stadt schlägt.


Am Graben gehe ich auf Schabrackensuche: sie sind äußerst selten. Bei Kälte tagen sie leicht verstaubte Pelzmäntel, die weit hinunter reichen. Dazu gewagte Hüte, die ein drohendes Signal aussenden. Eine Handtasche darf auch nicht fehlen. Diese Frauen können etwas Abweisendes haben. Sie scheinen sich zu verteidigen, noch bevor sie angegriffen werden. Mag sein, dass die Großstadt solche Gestalten hervorbringt. Dabei kommt das Wort "Schabracke" aus dem Türkischen, wo es so etwas wie Pferdedecke oder Pferdesattel bedeutet. Was für einen Weg hat dieses Wort genommen, bis es die Bedeutung einer alten  Schachtel angenommen hat. Andererseits tut man einer Dame Unrecht, wenn man sie nach ihrem verkniffenen Äußeren beurteilt. Wie gesagt, dieser Typ geht seinen Weg, ängstigt den Betrachter ein wenig und ist selbst verängstigt. Das Gegenstück: viele Männer, die zu allem fähig scheinen. Dabei kann man sich vorstellen, dass sie in dieser Stadt die Arbeit gefunden haben, die sie in der balkanischen Heimat jetzt nicht finden. Viele Bettler sind auch da. Weil eben reich und arm hier nahe beieinanderliegt. Dann, immer wieder, eine schöne Szene: ein schlecht gekleideter Mensch legt einem armen Schlucker etwas in den Hut. Solidarität unter den zu kurz Gekommenen. Dazwischen die vielen fröhlichen Menschen, die Wien bevölkern, wenn auch oft nur als Touristen aus fernen Ländern.



Ich biege in die Singerstraße ein. Nur wenige Schritte sind es bis zur Blutgasse. Ich trage eine schwere Einkaufstüte. Das ist der Nachteil, wenn man im Zentrum wohnt, wo man nicht mit dem Auto hinkommt, man schleppt unentwegt etwas mit sich herum. Dafür sind die Tage jetzt etwas länger. Die Nacht bricht nicht mehr so unerwartet herein. Ich denke gerade an diesen unaufgeklärten Fall, der vor ein paar Tagen Schlagzeilen machte: Kind verschwunden oder so. Nein, es hieß Kind ermordet. Der Täter anscheinend noch nicht gefasst. Das tägliche Überangebot an Schreckensmeldungen führt zur Abstumpfung des Menschen. Schon nach drei Tagen vermag er sich nicht mehr an Einzelheiten einer Tat zu erinnern. Jetzt geschieht das Schreckliche: ich treffe diesen Herrn wieder, der mir vor Tagen mit einem verdächtigen Paket auf dem Arm in der Dunkelheit begegnet ist. Er trägt diesen Hut, wie ein Markenzeichen und geht direkt auf mich zu: "Sie wohnen auch hier im Haus?" fragte er mich etwas gereizt. Entgeistert starrte ich ihn an. "Ja, seit drei Wochen. Wir sind aus Deutschland zugezogen", erwiderte ich und war froh, dass er mich anlächelte. "Wir sind uns neulich schon begegnet, und ich habe das Gefühl, dass sie mir gegenüber einen Verdacht hegen. Ich wurde von der Polizei vernommen, in der Sache mit dem toten Kind. Meine Ähnlichkeit mit dem Phantombild war ja nicht zu übersehen. Ich habe damit natürlich nichts zu tun. Mein Name ist Gregor Pesliak. Meine Frau und ich wohnen im dritten Stock. Wir haben keine Kinder". Schnell stellte ich mich vor. Meine Betroffenheit konnte ich kaum verheimlichen. "Ich würde sie gerne zu einer Tasse Tee einladen. Zur Zeit ist meine Frau bei ihren Eltern. Wann würde es ihnen passen?" Da ich nicht gerne etwas hinausschiebe, sagte ich: "In einer halben Stunde könnte ich bei ihnen klopfen." Ich schleppte meine Tüten in den Fahrstuhl und versuchte, mich zu beruhigen. Ich kenne diesen Mann doch gar nicht, ging es mir durch den Kopf. Das verdächtige Paket, heimlich in der Dunkelheit aus dem Haus getragen, wo ist es? Und, was war drin? Die Frau bei ihren Eltern. Ich war beunruhigt.


Mutig klopfte ich an die Tür im dritten Stock. Herr Pesliak öffnete und führte mich in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Dann kam der Tee. "Sie wissen, dass ich von der Polizei abgeholt wurde?" fragte er mich. "Haben SIE etwas damit zu tun?" Ich verneinte ohne Zögern und nahm einen Schluck aus der Tasse. "Es ist doch schrecklich, dass man den Täter immer noch nicht gefunden hat", sagte er plötzlich. Dann ging ein trauriges Lächeln über sein Gesicht. "Hier, in diesem Haus ist es verboten, Tiere zu halten, wie sie vielleicht aus dem Mietvertrag entnommen haben. Jetzt kann ich es ja sagen: wir hatten bis vor kurzem eine Katze, den Leopold. Wir mussten ihn heimlich halten. Er hat unsere Wohnung nie verlassen, bis ich ihn neulich tot aus dem Haus tragen musste. Sie haben mich dabei gesehen. Wahrscheinlich auch noch jemand anderes. Was ich neulich auf dem Arm trug, war unser Leopold, der gestorben ist. Meine Frau weiß es noch nicht. Ich fürchte mich davor, es ihr zu sagen, wenn sie nach Hause kommt. Können sie das verstehen?" Ich verstand und war erleichtert. Dann sagte ich Herrn Pesliak, dass ich natürlich schweigen würde, sollte er und seine Frau sich wieder ein Kätzchen zulegen. Und im Falle einer nicht zu langen Abwesenheit, einer Reise vielleicht, würden Cath und ich gerne ein Versteck für das neue Tier einrichten. Herr Pesliak schaute mich dankbar an. Wir wurden im Nu Freunde.











































 




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