Samstag, 26. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 6




Als er Nikos traf, erzählte er alles und hoffte, er würde ein paar gute Ratschläge erhalten. Einige Tage waren schon vergangen, als dieser auf Ahmets Bitte hin, versuchte, bei Kostas anzurufen. Niemand antwortete. Sie hatten wohl alle London verlassen. Nikos tat diese ganze Angelegenheit sehr leid. Er konnte aber auch die Eltern Kristinas verstehen. Es gab einfach keine Möglichkeit, zusammenzukommen, wenn man Zypriot der einen und der anderen Seite war. Schließlich waren beide Seiten der Insel durch die Grüne Linie fast hermetisch getrennt von einander. UN-Truppen schützten diese Grenze seit vielen Jahren schon, damit es zu keinen Zwischenfällen kam, was dennoch nicht ganz verhindert wurde. Muslimische Türken und orthodoxe Griechen hatten sich so weit auseinandergelebt, dass jeder sich nur noch an die Grausamkeiten des anderen erinnern konnte. Nikos musste sich allerdings eingestehen, dass es die griechisch-zyprische Seite war, die ihre Überlegenheit missbraucht hatte, um die türkischen Zyprioten allmählich von der Insel zu verdrängen. Zwei Drittel der Inselbevölkerung gegen das andere Drittel. Nikos wusste natürlich auch, dass die militärische Intervention der Türkei, 1974, ein vorläufiger Schlusspunkt war, der den Schutz der türkisch-zypriotischen Minderheit bewirkte, was auf griechischer Seite wie eine gegen sie gerichtete Barbarei empfunden wurde. Seitdem war Zypern geteilt, ein Streitpunkt, der gewöhnlich jeden Ansatz einer Begegnung der beiden Lager im Keim erstickte. Wie konnten sich Kristina und Ahmet auf so etwas einlassen? Wie war es überhaupt möglich, dass beide sich so vorbehaltlos lieben konnten?
Zwei Wochen waren längst vergangen. Onkel Turgut und Tante Jane waren still und zufrieden aus Schottland zurückgekehrt, und Ahmet hatte ihnen das Nötigste erzählt, denn er konnte seinen Zustand ohnehin nicht vor ihnen verbergen. Tante Jane konnte sich als Engländerin, die mit einem Türkzyprer verheiratet war, sehr gut in Kristinas Lage versetzen. Auch ihre Eltern, die Turgut heute herzlich lieben, hatten anfangs große Bedenken geäußert. Wie viele Ehen dieser Art waren schon gescheitert? Nicht, weil es an Zuneigung fehlte, sondern weil verschiedene Kulturen und Welten offensichtlich doch nicht immer vereinbar sind. Aber, war es denn so ernst mit den beiden? Sie waren ja noch sehr jung und konnten über ein solches Scheitern leicht hinwegkommen. „Nimm es nicht so tragisch, mein Kleiner,“ sagte Onkel Turgut. „Wir werden schon herausfinden, was geschehen ist. Vielleicht kann man mit ihren Eltern doch sprechen,“ meinte er. Sehr überzeugend klang dies allerdings nicht. Ahmet hätte genügend Arbeit gehabt, um sich abzulenken. Das Studium hatte ja erst begonnen. Er würde noch drei Jahre hier bleiben müssen. Aber er hatte keine Kraft. Er schlief schlecht und aß ganz wenig. Nikos war der einzige seiner Freunde, der gelegentlich nach ihm schaute und ein Bier mit ihm trank. Ahmet musste einen Entschluss fassen. Er würde Tinas Eltern aufsuchen und mit ihnen über seine große Liebe sprechen. Das konnten sie ihm nicht verwehren. Vielleicht hatte der Vater lediglich in einer ersten Aufwallung von Zorn gehandelt, als er Ahmet anrief. Etwas Mut gab ihm dieser Plan, den er am kommenden Tag umsetzen wollte. 
Es war wohl am besten, den neuen Anzug anzuziehen und gegen elf Uhr, ohne telefonische Vorwarnung, einfach vor der Tür von Tinas Eltern zu stehen. Allerdings hatte er sich bis jetzt nicht getraut, so nahe an das Haus heran zu gehen, dass er das Namensschild am Klingelknopf hätte sehen können. Ahmets Herz klopfte bedenklich, als er schließlich die Klingel bemerkte, unter der „Petropoulos“ stand. Bevor er läuten konnte, öffnete sich die Tür, und eine junge Frau verließ das Haus. Ahmet nutzte die Gelegenheit und trat ein. Es war der dritte Stock auf der linken Seite. Die Treppe war vornehm und großzügig angelegt. Er verzichtete auf einen Fahrstuhl und ging langsam die Stufen hinauf. Er läutete verhalten und wartete. Keine Reaktion. Seine Aufregung machte ihm zu schaffen. Er konnte kaum atmen. Die Türe öffnete sich nicht. Natürlich hatte er auch schon das Telefonbuch nach Petropoulos durchsucht, aber ohne jeden Erfolg. Sonst hätte er es auch telefonisch versucht. Er verließ das Haus wieder und würde am kommenden Morgen nochmals versuchen, mit Tinas Eltern zu sprechen. Seine Aufregung wurde allmählich von tiefer Verzweiflung abgelöst. Wie konnte er Tina nur finden?

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