Samstag, 26. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 5




Zuhause angekommen, versuchte Ahmet sich über das Geschehene klar zu werden. Er hatte einen Menschen gefunden, den er liebte und von dem er geliebt wurde. „Ach, Tina, wir müssen alle Hindernisse überwinden und unseren Weg bis zu Ende gehen,“ dachte er und sah im Spiegel der Diele einen glücklich strahlenden Ahmet, der eine unüberwindliche Kraft in sich spürte. Er musste dieses Glück mit jemandem teilen, um nicht aus dem Lot zu geraten. Er beschloss, seiner Schwester, der er absolut vertraute, einen Brief zu schreiben. Dann war Nikos am Telefon. „Ich werde für ein paar Tage verschwinden. Kommst du mit?“ fragte er, doch Ahmet sagte nur, er könne das Haus nicht verlassen und müsse nach dem Rechten sehen. Dann setzte er sich an den Tisch und machte sich an den Brief.
„Meine liebe kleine Schwester,
Dein Bruder hat jetzt ein Mädchen gefunden, in das er hoffnungslos verliebt ist. Sie heißt Kristina Petropoulos und ist das schönste Wesen der Welt. Du bist die erste, die es erfahren soll. Sage es niemandem, bis ich es Dir erlaube. Wir haben uns geküsst und auch sonst geliebt, wenn Du verstehst, was ich meine. Wir werden heiraten. Ich weiß aber noch nicht, wann. Sie ist noch sehr jung. Ihre Eltern – und jetzt halte Dich fest – sind Griechen aus Limassol. Sie ist noch in Kyrenia geboren, also auf „unserer“ Seite. Wir sind uns im Klaren darüber, dass wir so  eine Art politisches Verbrechen begehen, aber glaube mir, Liebe ist etwas sehr Schönes und ist das genaue Gegenteil von einem Verbrechen. Ich wollte, Du könntest sie sehen. Sie ist sooo wunderschön. Aber das sagte ich schon. Du siehst, was aus Deinem Bruder geworden ist. Ich denke nur noch an sie. Leider hatten wir noch keine Zeit, von Dir zu sprechen. Das werde ich morgen nachholen, denn wir treffen uns wieder, wenn alles gut geht. Erzähle bitte Deinen Freundinnen nichts davon. Du weisst, wie schnell so etwas die Runde macht.
Wie geht es Dir? Hast Du in der Schule noch Probleme? Du weißt, dass Tante Jane Dich eingeladen hat, hierher zu kommen. Vielleicht wird daraus etwas. Es wäre schön, und ich könnte Dir meine Tina zeigen. Sie würde Dir ganz sicher gefallen. Denke nicht, ich würde hier nichts anderes tun, als Tina zu lieben. Wir kennen uns erst richtig seit zwei Tagen. Natürlich büffle ich auch für die kommenden Prüfungen an der Business School. Onkel und Tante sind zur Zeit in Schottland. Sie rufen gelegentlich an, um sich über das Wetter zu beklagen. Ich denke aber, dass es ihnen doch gut gefällt. Grüße Mama und Papa von mir!
Meine liebe kleine Leila, ich lache und weine vor Glück. Kannst Du mich verstehen?
                                                              Dein Dich liebender und für ewig verliebter Bruder Ahmet“  

Nachdem der Brief geschrieben, frankiert und zum Briefkasten gebracht war, legte Ahmet sich schlafen. Es war noch früh am Abend.
Kristinas Mutter sagte zunächst nichts, als die Tür sich öffnete. Mit einer Kopfbewegung deutete sie in die Richtung, in die Kristina gehen sollte, um ihren Vater zu sprechen. „Wo hast du gesteckt Kristina?“ sagte sie dann doch und vermied das vertrauliche „Tina“. Aber sie schien es nicht wissen zu wollen. Dies herauszufinden würde die Sache des Vaters sein. Betroffen ging Kristina in das Büro des Vaters. Er saß nicht am Schreibtisch sondern in einem Sessel, sichtlich bemüht, locker und gütig zu wirken. „Mein Schätzchen“ sagte er, und Kristina wusste sofort, dass dies nicht gut gemeint war, „du bist 17 Jahre alt und wirst bald volljährig sein. Dann steht es dir frei, über deine Zeit und dein Tun so zu verfügen, wie es dir passt. Aber fangen wir ganz von vorne an: gestern schon hast du mir einen gewissen Eindruck von – sagen wir mal – Verwirrtheit gemacht. Du kannst das sicher erklären. Aber später. Heute bist du fünf Stunden auf der Straße gewesen, oder weiß der Himmel wo. Wir leben in London, wie dir bekannt ist. Hier verschwindet man nicht einfach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ich hoffe, du kannst mir sagen, was geschehen ist.“ Um einer eventuellen Notlüge zuvorzukommen, fügte der Vater noch hinzu: “bei deinen Freundinnen, soweit ich sie kenne, habe ich angerufen. Dort warst du nicht.“ Nach dieser unüblich langen Vorrede ihres Vaters entstand eine gefährliche Pause, und Kristina wusste immer noch nicht, was sie antworten sollte. Lügen wäre nicht gut, dachte sie, und sie wusste, dass sie keine gute Lügnerin war. Also trat sie die Flucht nach vorne an und sagte: „Papa, ich habe mich verliebt, ---- in einen Jungen,“ fügte sie etwas unlogisch hinzu. Der Vater nutzte das und schnaubte: “dass es kein Mädchen ist, will ich hoffen. Aber davon verstehst du besser nichts. Wie heißt er, wer ist er, und kann man ihn sehen?“ Das klang sehr ungeduldig. „Den Namen will ich dir  nicht verraten. Er ist Student, zwanzig Jahre alt, kein Engländer, aber auch kein Grieche, und ich liebe ihn und möchte ihn heiraten.“ „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Das kommt nicht in Frage. Außerdem benötigst du noch eine elterliche Genehmigung. Die wirst du nicht erhalten.“ „Aber, Papa, das hat doch gar keine Eile, ich wollte damit nur sagen, wie ernst es mir ist.“ „Und wie kommt es , dass du fünf Stunden mit ihm zusammen bist, einfach so? Sage mir, wo das war!“ Kristina konnte jetzt besser erwidern als zu Beginn. „Wir waren einen Tee trinken, dann machten wir einen Spaziergang, und dann tranken wir noch einmal Tee,“ behauptete sie. Der Vater schaute skeptisch und schien diese Angelegenheit auf sich beruhen lassen zu wollen. Kristina hatte diese erste Probe bestanden, wie sie glaubte, und war erleichtert. Allerdings durfte sie Ahmet in den nächsten Tagen nicht sehen, ohne den totalen Widerstand ihrer Eltern herauszufordern. Sie würde ihn telefonisch über alles informieren.
Ahmet schreckte hoch, als das Telefon läutete. Es muss sehr spät sein, dachte er. Wahrscheinlich ist es Onkel Turgut oder Tante Jane. Es könnte auch Nikos sein, von dem er den ganzen Tag nichts gehört hatte. Eine männliche Stimme meldete sich. „Hier Petropoulos. Ich bitte sie, diese späte Störung zu entschuldigen. Mit wem spreche ich?“ „Aslan,“ sagte Ahmet kurz und fühlte sich wie benommen. „Kennen sie meine Tochter Kristina?“ war die nächste Frage. „Ja,“ klang es kleinlaut. Ahmet wusste auch nicht, warum er sich schuldig fühlen sollte. Er hatte sicher nichts getan, was Kristina hätte schaden können, dachte er. „Sind sie Türke?“ fragte Herr Petropoulos nun, und es entstand eine längere Pause, die Ahmet mit einem fast trotzigen „Ja, aus Zypern“ beendete. „Hören sie, Herr ......Aslan, wir wünschen diese Freundschaft nicht“. Daraufhin wurde der Hörer energisch aufgelegt. Ahmet hielt den seinen noch in der Hand. Zu einer Erwiderung hatte es nicht mehr gereicht. Seine Hände und seine Stirn waren feucht vor Aufregung. Er dachte an seine geliebte Kristina und wusste nicht, wie gut oder schlecht es ihr ging. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. 

Ahmet wälzte sich in seinem Bett und wartete schweißgebadet auf den anbrechenden Tag. Da hörte er wieder das Telefon und ging in die Diele. „Ahmet, Kristina. Meine Eltern haben mich in die Zange genommen. Ich kann dich morgen, nein, heute, nicht treffen. Es wäre zu gefährlich,“ sagte sie mit unterdrückter Stimme. „Dein Vater rief mich an,“ sagte Ahmet. „Er muss die Nummer bei dir gefunden haben. Ich sagte meinen Namen, und er wusste sofort, daß ich Türke bin. Er will nicht, dass wir uns wiedersehen.“ „Ich liebe dich, Ahmet, und wir werden uns wiedersehen,“ sagte Kristina, „auch wenn wir erst einmal abwarten müssen“. „Meine kleine Schwester Leila wird auch alles erfahren. Ich habe ihr gestern geschrieben.“ Ahmet wollte das Gespräch ausdehnen und Kristina noch sagen, dass er sie liebte, dass er alles tun würde, um sie glücklich zu machen, dass er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen könne. Da sagte sie leise: “ich muss auflegen.“ Das nächtliche Gespräch war beendet. Ahmet fühlte sich elend und verzichtete auf weiteren Schlaf. Hoffentlich war Tina nicht beim Telefonieren überrascht worden. Er machte sich Sorgen um sie.
Am folgenden Tag unternahm Ahmet nichts, um mit Tina Kontakt aufzunehmen. Es musste erst etwas Zeit vergehen, bevor sie sich sehen konnten. Aber er konnte nicht zu Hause bleiben. Übermüdet ging er am frühen Morgen den gesamten Weg entlang, den sie bis zu ihrem Haus zusammen gegangen waren. Es regnete, und er hatte Mühe, das richtige Haus zu finden. Die Fassaden ähnelten sich sehr. Er schaute hinauf, versuchte sich zu erinnern, welche Etage Kristina genannt hatte, aber ohne Erfolg, sodass er auf die andere Straßenseite wechselte, um alles im Auge behalten zu können. Würde sie ans Fenster treten? Wohnte sie auf der Seite, die nach hinten ging und der Straße abgewandt war? Waren es die Fenster im dritten Stock, bei denen alle Vorhänge zugezogen waren? Sollte er warten, bis die Eltern vielleicht das Haus verließen? Aber er kannte sie nicht. Einigermaßen durchnässt gab er seine Beobachtung nach zwei Stunden auf und ging nach Hause. Das Telefon klingelte, als er die Tür öffnete. Er stürzte sich in die Diele, um den Hörer zu ergreifen, aber am anderen Ende hatte man schon wieder aufgelegt. War es Tina? Er hoffte es, denn er konnte sich nichts anderes vorstellen. 
Der Anruf wiederholte sich nicht. Ahmet musste daran denken, wie kurz ihr Glück war, und wie alles so aussah, als würde es sich nie wiederfinden lassen.

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