Samstag, 26. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 7


Onkel Turgut hatte eine viel größere Distanz zu seiner zyprischen Heimat als Ahmet, da er  mit vierzehn Jahren die Landung der türkischen Truppen an der Nordküste der Insel bewusst miterlebte, dann aber zur Ausbildung nach London kam und seitdem nur gelegentliche Besuche bei seinen Eltern und Verwandten machte.
Ahmet  hatte bis zu seiner Ankunft in Großbritannien nur auf der geteilten Insel gelebt und diesen Zustand täglich  unter allen Aspekten vor Augen gehabt. Er wusste, dass eine solche Verbindung zwischen Griechischzyprern und Türkischzyprern nur in einem Drittland Bestand haben konnte. Auf die zyprische Heimat musste man dabei ganz verzichten. Dazu wäre Ahmet um seiner geliebten Tina willen bereit. Doch zuerst musste er wieder mit ihr sprechen können.  Ein Brief von Leila kam an. Ahmet hatte keine Lust, ihn zu öffnen. Wäre er von Tina gewesen, er hätte ihn mit fiebrigen Händen aufgerissen. Schließlich ging er doch daran, ihn zu lesen:
„Liebster Ahmet, 
Danke für Deinen Brief, der mich nicht überrascht hat. Du bist ja alt genug, um eine Freundin zu haben. Es sollte aber keine aus Südzypern sein, da Dir alle das Leben schwer machen  werden. Auf mich kannst Du Dich selbstverständlich verlassen. Wenn Du Tina liebst, dann muss sie ein ordentlicher Mensch sein. Ich glaube, ich könnte sie auch lieben. Übrigens hast Du total vergessen, mir ein Foto von ihr zu schicken! Tu das bei nächster Gelegenheit, damit ich sie mir besser vorstellen kann. Vielleicht darf ich nächstes Jahr nach London kommen. Ich habe Papa gefragt, und er sagte „ja“. Grüße Tante Jane und Onkel Turgut herzlich von mir.
In Liebe, Deine kleine Schwester Leila.“
Dass Ahmet keine Fotos von Tina besaß, war nicht ungewöhnlich. Sie hatten keine Zeit, an so etwas zu denken. Da fiel ihm jedoch ein, dass an dem Abend, als er Tina zum erstenmal sah, einige Aufnahmen gemacht wurden. Er hatte dies nicht beachtet. Jetzt wollte er herausfinden, ob und wie er ein Foto erhalten könne. Nikos, oder Kostas mussten das wissen. Bei Kostas` Eltern hatte sich noch niemand gemeldet, und Nikos wusste auch nicht so richtig, wie er die Sache anpacken konnte. Also hatte Ahmet auch diesbezüglich kein Glück.
Nun war wirklich viel Zeit vergangen, ohne, dass Ahmet irgend etwas hätte herausbekommen können. Seine Verzweiflung ließ ihn alles vernachlässigen, was er sonst mit regelmäßiger Akribie erledigte. Er zog sich auch  immer mehr von seinen Freunden zurück, und Onkel Turgut sah sich veranlasst, seinen Bruder in Kyrenia anzurufen und über den Zustand Ahmets zu berichten. Er machte jedoch keine genauen Angaben zum eigentlichen Anlass von Ahmets Verbitterung. Die Eltern dachten sich, dass ein Mädchen im Spiel sein musste, hielten diese Angelegenheit allerdings für die Sache ihres Sohnes. Ablenkung und neue Bekanntschaften würden das Ganze vergessen lassen. Schließlich gab es noch andere hübsche Mädchen. Es war viel wichtiger, dass er sein Studium gut zu Ende brachte.
Ein Foto von Tina wurde nicht gefunden. Die Wohnung der Familie Petropoulos schien nicht mehr zu existieren. Ahmet hatte noch einige Male davor gestanden, auch geläutet, aber ohne jeden Erfolg. Von Tag zu Tag wurde das Bild von Kristina in Ahmets Erinnerung blasser und undeutlicher. Das College hatte gerade seinen Betrieb wieder aufgenommen, und Onkel Turgut hielt einen Brief in der Hand, als Ahmet von einem Arbeitskreis über modernes Management nach Hause kam. Er riss ihm den Brief geradezu aus der Hand, denn seine Intuition sagte ihm, dass er von Tina war. Ahmet fiel ein kleines Foto entgegen, das er sofort wie eine Ikone an sich drückte. Dann las er den Brief, der nur sehr kurz und in großer Eile geschrieben war. 
„Mein Allerliebster, ich werde Dich nicht mehr sehen. Meine Eltern bewachen mich ständig. Ich kann nicht telefonieren, ich kann das Haus nicht verlassen. Seit gestern bin ich aus Oxford zurück, wohin man mich zu einer Tante gebracht hat. Diesen Brief wird eine Freundin, die mich gerade besucht, irgendwie zu Dir bringen. Morgen fliege ich mit meiner Mutter nach Athen, und bald muss ich wieder in Limassol zur Schule gehen. Ich liebe Dich,
                                                                                Kristina“
                                                                                                                                        
Ahmet war glücklich über dieses Lebenszeichen, das weder seine Adresse, noch einen Absender enthielt. Wie sollte er antworten? Er starrte auf das Foto und weinte. Onkel Turgut und Tante Jane sagten nicht viel. Auch sie konnten sich zunächst nicht erklären, wie dieser Brief  in ihre Hände gekommen war. Er war unter der Wohnungstür hindurch geschoben worden. Am nächsten Tag fand Ahmet Zeit, Leila für ihren Brief zu danken. Das Foto wollte er nicht aus den Händen geben, aber er versprach, es Leila bald zu zeigen. Dann berichtete er vom traurigen Ende seiner wundervollen Beziehung. Ahmets Brief an Leila war sehr kurz. Er hatte mit allem Schluß gemacht. Schwarze Gedanken überfielen ihn wie eine endlose Nacht.

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