Freitag, 25. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 3




Kristina zog es vor, ihre Eltern nicht anzurufen, um ihnen zu sagen, daß sie etwas verspätet zum Mittagessen kommen würde. Sie fürchtete Fragen ihrer Mutter, die sie vor Ahmet nicht mit einer Lüge beantworten wollte. Es war wohl klüger, die üblichen Normen der Verspätung nicht zu überschreiten und dafür glaubhaftere Erklärungen parat zu halten. Andererseits tat es ihr leid, sich von Ahmet zu verabschieden, der sie bis an die U-Bahnstation begleitet hatte. „Wann sehen wir uns wieder?“ rief Ahmet ihr noch zu, bevor sie durch die Sperre ging. „Morgen, um die gleiche Zeit im Park,“ keuchte sie und verschwand. „Ich liebe dich, Kristina,“ sagte Ahmet noch. Aber er wusste, dass sie es nicht mehr hören konnte. Jetzt war er mit seinem Glück ganz allein. Ein unsichtbares Lächeln begleitete ihn auf seinem Weg zur Wohnung des Onkels. Das Telefon klingelte, als er die Tür öffnete. Es war Nikos. Also hatte er noch keine konkreten Ferienpläne, dachte Ahmet. „Wo warst du heute morgen?“ fragte Nikos. „Ich habe dauernd versucht, dich zu sprechen.“ „Ach ich war spazieren,“ klang es etwas kleinlaut. Nikos hatte das Zögern bemerkt und fragte: „Allein, oder mit anderen?“ Ahmet lachte glücklich-verschämt und sagte nur: „Mit anderen.“ Das musste genügen. Am Nachmittag wollten sie sich zu einem Bier treffen. Für Ahmet eine willkommene Ablenkung, die ihm half, die Zeit bis zum nächsten Tag zu überbrücken. 
Kristinas Eltern hatten sich sehr spät aus ihren Betten erhoben. Ihre Mutter sah noch müde aus, als sie im Morgenmantel an der Tür stand. Sie hielt Kristinas Nachricht in der Hand und sagte nur: „Da bist du ja, mein Kind.“ Die Röte auf Tinas Gesicht erstaunte sie nicht. „Wie geht es Maureens Vater?“ fragte sie plötzlich, und Kristina hatte Mühe, sich zu erinnern, dass Mr. Healy sich vor einigen Wochen das Bein gebrochen hatte. „Er war nicht zu Hause,“ flunkerte sie. „Ich habe total vergessen, danach zu fragen.“ „Was ist mit dir, Tina?“ fragte ihr Vater, der unvermutet neben ihr stand. „Du wirkst so ganz verändert. Hattest du Streit mit jemandem?“ „Nein, nein,“ sagte sie verwirrt. „Es hat nur ziemlich viel geregnet.“ Dann ging Kristina schnell in ihr Zimmer, wo sie darauf wartete, von Mutter zum Essen gerufen zu werden. Der Nachmittag würde unendlich lange dauern, befürchtete sie. Was sollte sie sich für den kommenden Tag ausdenken, damit sie unbehelligt mit Ahmet zusammensein konnte? Wahrscheinlich würde sie ohnehin eine ihrer Freundinnen, Lydia oder Maureen einweihen müssen. Wie sollte sie so tun können, als wäre sie Ahmet nie begegnet? „Sicher fällt mir noch etwas ein,“ sagte sie sich und nahm eine Zeitschrift zur Hand.
„Na, du anatolisches Ungeheuer, bist du immer noch tantenlos?“ schnaubte Nikos fröhlich, als er Ahmet durch die Drehtür kommen sah. Nicht weit vom Ausgang des Pubs war noch ein Tisch frei gewesen. Er gehörte zu jenen, die sich nicht daran gewöhnen wollten, wie ein Brite am Tresen zu stehen. Die Kultur seiner griechischen Heimat war eine sitzende: man setzte sich, um ein Bier zu trinken, und auch der Wein wurde nicht im Stehen genommen. Ahmet zog das  Sitzen dem Stehen ebenfalls vor. Beim ersten Schluck schauten sie sich in die Augen, und Ahmet sagte: „Was hat mein hellenisches Großmaul alles erlebt, seit die Schule wegen Unfähigkeit geschlossen wurde?“ Sie waren sich immer einig gewesen, dass ihr College den Namen Hochschule eigentlich nicht verdiente. Aber man konnte es dort gut aushalten, und am Ende winkte ein „Degree“, das man in südlichen Breiten gebrauchen konnte. Nach dem Austausch erster Allgemeinheiten musste Nikos von seiner neuesten Eroberung sprechen: Ingrid, ein aschblondes Wesen aus Schweden, dem er nicht lange den Hof machen musste, um es sich für diesen Sommer hörig zu machen. „Wir waren gestern abend im Kino. Der Film war unwichtig. Wir saßen ganz hinten und schmusten,“ sagte Nikos mit zufriedenem Lächeln. Ahmet zeigte wenig Interesse, dieses Thema aufzugreifen, was Nikos sofort stutzig machte. „Bist du etwa auch fündig geworden?“ fragte er, und Ahmet hoffte verzweifelt, durch ein einfaches „Ja“ würde er sich aus der Affäre ziehen können. „Kristina,“ grinste Nikos. „Wusste ich es doch!“ Ahmet machte keine Anstalten, etwas zu sagen, und Nikos fügte ernst hinzu: „Wusstest du, daß Kristina eine Griechin besonderer Art ist?“ „Wieso?“ fragte Ahmet besorgt. „Ihre Eltern stammen aus Limassol, deshalb haben sie einen britischen Pass.“ Ahmet war außer sich. „Du siehst, wie weit es mit uns gekommen ist. Wir  schaffen es nicht einmal, unsere Herkunft preiszugeben. Was gibt es Schlimmeres, als Zyprer zu sein und eine zu lieben aus dem anderen Lager. Ich habe ihr auch nicht gesagt, dass ich  Zyprer bin, wie meine Eltern und Schwester. Wir kamen auch aus Limassol und mussten nach Norden fliehen, sonst hätten deine Landsleute uns ausgerottet.“ Ahmet wollte nicht bitter wirken, denn Kristina und Nikos waren an dieser Vergangenheit nicht schuldig. "„Ich weiß, daß du nichts damit zu tun hast und  nicht einmal ein Landsmann von Kristina bist. Meines Wissens haben es die Zyperngriechen immer noch nicht geschafft, unsere gemeinsame Insel an Griechenland zu verkaufen und die Anatolier, den Norden völlig zu überrennen.“ Nikos war etwas verlegen und sagte zu Ahmet:“ Jetzt könnten wir es genauso halten wie unsere Vorfahren: uns die Köpfe einschlagen. Ich will das nicht. Aber einen Anatolier werde ich dich nicht mehr nennen können. Wie geht es jetzt weiter, mit dir und Kristina ?“ „Ich liebe sie und werde sie heiraten, egal wie viele Verwandte sich auf uns stürzen werden. Leila wird zu mir halten, das weiß ich. Dass ich Kristina erst seit kurzem kenne, spielt keine Rolle. Ich kenne sie gut genug. Lass` uns von etwas anderem reden.“ Nikos wollte nicht in Ahmets Haut stecken. Er kannte Kristinas Eltern. Sie hatten nie ein halbwegs freundliches Wort für alles, was türkisch war. Er selbst überlegte, wo diese angeborene Animosität seiner Landsleute gegen die Türkei herrühren mochte. Natürlich kannte er alle Antworten. Er hatte sie ja immer wieder gehört, ohne dass sie ihn ganz überzeugt hätten. Er musste zugeben, dass das Hellenentum, der Traum von der griechischen Vorherrschaft, der Panhellenismus, immer noch in den Köpfen vieler Griechen herumspukte. Der Urknacks muss das Jahr 1453 gewesen sein. Der letzte byzantinische Kaiser, Konstantin XII., hatte in Konstantinopel im Kampf gegen die Osmanen sein Leben verloren, und die schöne Stadt fiel in die Hände von Mehmet II. dem Eroberer. Von da an begann die  Herrschaft der Osmanen über das gesamte ehemalige byzantinische Reich, und weit darüber hinaus. Obwohl die orthodoxen Christen mit einigem Respekt behandelt wurden, haben sie diesen Verlust nie richtig überwinden können. Nikos musste sich allerdings immer wieder fragen, ob es nicht wichtigere Gründe und aktuellere Anlässe geben sollte, um solchen Urhass zu rechtfertigen. Für ihn hatte Ahmet nichts damit zu tun. Es wäre einfach ungerecht.

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