Donnerstag, 24. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 2





Am nächsten Morgen war Ahmet etwas einsilbig beim Frühstück, das aus einer Mischung von englischen Eiern mit Speck und orientalischen Beigaben bestand: Ziegenkäse, Oliven und türkischem Kaffee. Auch Tee fehlte nicht, und Tante Jane war besonders guter Laune. Schnell verließen alle das Haus, Ahmet nahm den Bus und traf schon am Eingang zum College Jim und Nikos. Beide hatten bei Kostas wieder Eroberungen gemacht, was Ahmet entgangen war. „Hat Dir Kristina Petrides gefallen?“ fragte mit harmlos sein wollender Miene Nikos. „Sie heißt Petropoulos, Kristina Petropoulos,“ bemerkte Ahmet leicht gereizt. „Jedenfalls hast du dir den Namen merken können,“ grinste Jim. Ahmet hatte wieder das Gefühl, dass er errötete. Schnell beendete er das Gespräch indem er scheinbar abwesend bemerkte, Kristina werde wohl noch viele Jahre im Schutze ihrer Eltern dahin dämmern, bevor sie sich frei bewegen könne. Allerdings meinte er es nicht so, denn Kristina hatte ihm einen recht unabhängigen Eindruck gemacht. Was würde Onkel Turgut sagen, wenn er einfach mit einem Mädchen nach Hause kommen würde?  Dazu noch mit einer Griechin? Davor würde er sich fürchten.

Wochen vergingen. Kristina hatte ihren Eltern versprochen, in der Schule ihr Bestes zu geben, um bald mit ihnen in ihre Heimat zurückkehren zu können und auf den Schulwechsel vorbereitet zu sein. Eigentlich freute sie sich darauf, aber die Umstellung würde ihr einiges abverlangen. Onkel Dimitris hatte die beiden Geschäfte alleine weitergeführt, als Kristinas Eltern nach London gezogen waren. Der britische Pass hatte es ihnen ermöglicht. Jetzt sollten die beiden Brüder je eine Tuchhandlung übernehmen, und Dimitris könnte endlich heiraten. Der  Abschied von London, den Freunden, den Kinos und Theatern würde ihr schwerfallen, aber noch ist es nicht soweit. Dass Mutter eine abschätzige Bemerkung machte, als sie ihr auf der Heimfahrt nach der Party erzählte, sie habe einen netten Türken kennengelernt, tat ihr leid. Ahmet hatte ihr gut gefallen. Seine Zurückhaltung und sein offener Blick ließen Mut und Ritterlichkeit ahnen. Sie träumte mehrere Male von ihm, aber nie gelang es ihr, mit ihm im Traum zu sprechen. Auch konnte sie sich nicht mehr richtig vorstellen wie er aussah. Wenn sie ihm auf der Straße begegnen würde, das  weiß sie ganz sicher, würde sie ihn sofort wiedererkennen. Aber es gab überhaupt  keine Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Mit Mutter und Vater sprach sie nicht darüber.
Ahmet verabschiedete sich von seinen Freunden Jim und Nikos. Das College-Jahr ging zu Ende und Jim sollte seine Familie für einige Wochen auf einer USA-Reise begleiten. Nikos konnte noch nicht genau sagen was er tun würde. Auf keinen Fall würde er in London bleiben. Das spärliche Erscheinen seines Freundes zum abendlichen Bier im Pub, bei der Bushalte, ließ Ahmet vermuten, dass ein Mädchen im Spiel war. Daher auch die unpräzisen Ferienpläne. Ahmet liebte diese Zeit nicht. Viele waren nach Hause gefahren. Onkel Turgut und Tante Jane planten einen Trip nach Schottland. Der Salon sollte für zwei Wochen geschlossen werden, und Ahmet fand es ganz normal, dass man ihm nicht anbot, mitzukommen. So könnte er für das Studium arbeiten, seinen Eltern und Leila lange Briefe schreiben und ab und zu einen Film anschauen. Außerdem liebte er es, lange Streifzüge durch die City zu unternehmen. Der Besuch im Pub konnte leicht durch andere Tätigkeiten ersetzt werden, dachte Ahmet, obwohl er sich daran gewöhnt hatte, täglich zwei bis drei Gläser Bier zu trinken. Auch der Hyde Park war zu Fuß leicht zu erreichen. Hier gab es immer viel zu sehen. 
Turgut und Jane hatten sich gerade verabschiedet. Ahmet verließ ebenfalls das Haus und ging in Richtung City. Am Picadilly Circus kehrte er um und ging in Richtung Regent`s Park. Unterwegs hielt er an einer Bude und verlangte ein Sandwich. Er dachte an den lieben Brief, den ihm Leila geschickt hatte. „Ahmet, Du fehlst mir so,“ hatte sie geschrieben. Das tat gut. Manchmal fühlte er sich etwas verlassen. Er setzte sich auf eine Bank. Die Sonne schien kräftig. Er verspürte Lust, sich noch ein weiteres Sandwich zu holen, als er auf der anderen Seite des Parks zwei Mädchen gehen sah. Sofort erkannte er Kristina. „Hallo,“ rief er etwas verwirrt, denn ihr Name fiel ihm in der ersten Erregung nicht ein. Beide Mädchen blickten ihn an, Kristina erkannte ihn sofort. Er erhob sich und ging auf sie zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich wiedersehen würde,“ sagte er total unbeholfen. Sie verzichtete darauf, ihre Freundin vorzustellen, als er seinen Namen murmelte. Sie zuckte etwas verlegen mit den Schultern und ging mit ihrer Begleiterin weiter. Ahmet war zu gehemmt, um zu versuchen, Kristina aufzuhalten. Enttäuscht setzte er sich wieder auf seine Bank und überlegte, ob er ihnen folgen sollte. Nein, das würde er nicht tun. Würde er aber nocheinmal die Gelegenheit haben, sie zu sehen? Solche Zufälle sind eher selten. Unschlüssig vertiefte er sich in eine Zeitung, die er zusammen mit dem Sandwich gekauft hatte, als eine Hand ihn schüchtern berührte. Es war Kristina, die ohne ihre Begleiterin zurückgekommen war und plötzlich vor ihm stand.
„Kristina, ich freue mich. Wie kommst du hierher?“ „Ich wohne hier in der Nähe,“ sagte sie. „Meine Eltern sind heute nach Hertfordshire gefahren, Freunde besuchen.“  „Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken?“ fragte er leise. „Lieber einen Tee, wenn du Zeit hast.“  „Ich habe viel Zeit. Mein Onkel ist in Schottland. Ich bin ganz alleine.“ Ahmet dachte, dass dies aufdringlich klang, irgendwie plump, und fügte hinzu: „Natürlich sollte ich über meinen Büchern sitzen.“ Sie lachte ein wenig. Er bemerkte, dass ihre Stimme noch sehr mädchenhaft klang. Warum hatte er das Gefühl, sie schon lange zu kennen? Er hatte sie doch nur einmal gesehen. Jetzt setzte sie sich neben ihm auf die Bank. Ihr Arm kam dem seinen so nahe, dass er ihre Körperwärme zu spüren glaubte. Nur einmal hatte er ein Mädchen so geküsst, dass man es Küssen nennen konnte. Die Umstände waren allerdings eher beschämend. Narin war in ihn verliebt und hätte alles mit sich machen lassen. Er wollte eigentlich nicht, hatte aber zu viel getrunken, um seine natürliche Hemmung  zu  unterdrücken. So kam es zu diesem richtigen Kuss, dem jedoch nichts folgte als eine belanglose Schmuserei. Dies hatte Ahmet nie leid getan, aber für Narin hatte er keine erwähnenswerten Gefühle empfunden. Kristina kam ihm dagegen vor wie eine alte Vertraute. Er hätte sie gerne umarmt und geküsst. Das hätte aber alles zerstören können. Zwischen Griechen und Türken, dachte er, kann es nur Liebe oder Hass geben. Dazwischen  nur belanglose Höflichkeitsformeln, um das Schlimmste zu verhindern. Sie gingen einen Tee trinken, den Ahmet dadurch in die Länge zu ziehen verstand, dass er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Da der Himmel plötzlich schwere Wolken vorbei trug, konnte es bald zu Schauern kommen, denen beide aus dem Weg gehen wollten. Er begleitete sie bis an die Ecke, von der aus er das Haus sehen konnte, in dem sie wohnte. Weiter gingen sie nicht zusammen. Am nächsten Tag wollten sie sich wieder treffen.
Jane rief gerade noch aus einem Hotel in Schottland an, einem Ort namens Peebles, und schon war Ahmet in sein Zimmer gegangen, um sich schlafen zu legen. Die Reise von Onkel und Tante war ohne Probleme verlaufen.  Er hatte nichts von seiner Begegnung mit Kristina erwähnt. Die Vorfreude auf das nächste Treffen mit Kristina hinderte ihn lange am Einschlafen. Wie würde es weitergehen? Er konnte sich nicht so richtig vorstellen, mit ihr eine feste Beziehung zu haben, zumindest nicht eine unproblematische. Dazu waren sie zu verschieden; ihre Nationalitäten passten nicht zusammen. Als er ins Träumen geriet, sah die Welt wieder ganz anders aus. Er stellte sich vor, sie würde ihn abgöttisch lieben, ihm viele Kinder schenken und dazu noch eine bekannte Persönlichkeit werden, die von allen verehrt würde. Seine Rolle war die des großen Helden. Mit einem teuren Auto würde er seine Familie spazieren fahren. Seine Eltern wären voll Bewunderung. Leila würde ihn anbeten. Als er aufwachte, es war noch sehr früh, stellte er fest, dass alle seine Gedanken um Kristina Petropoulos kreisten. Er beschloß, sich sorgfältig zu waschen und anzuziehen und dann lesend auf die Stunde der Begegnung zu warten: Elf Uhr, Hyde Park Corner. 
Kristina zögerte nicht lange: sie ging ins Bad ihrer Eltern, die am späten Abend aus Herfordshire zurückgekommen waren und jetzt ausschlafen wollten, und nahm sich aus einem kleinen Parfümfläschchen ihrer Mutter ein paar Tropfen Vent Vert, das ihr besonders gefiel. Schnell hatte sie ihre Tasche gepackt, dazu den Schirm, denn es regnete heftig. Die Nachricht an ihre Eltern fiel etwas lakonisch aus: „Bin mit Lydia bei Maureen. Melde mich, sobald ich weiß, wann ich nach Hause komme. Tina.“  Kristina fühlte sich schon ertappt, als sie die Türe hinter sich zuzog. Der Regen hatte die meisten Fußgänger von den Straßen vertrieben. Kristina fragte sich, ob Ahmet zu Hause bleiben würde. Türken sagte man in ihrer Familie alles nach, was vorstellbar war. Kaum war sie ans Ziel gelangt, sah sie ihn. Den Kragen hochgeschlagen, weil er es für unnötig gehalten hatte, einen Schirm mitzunehmen oder einen Regenmantel zu tragen. Das Wasser floß über seine Wangen. „Kein unschöner Anblick,“ dachte Kristina, als sie ihm die Hand reichte. Nun waren beide ratlos. Im Regen konnten sie nicht lange bleiben, also fragte Ahmet, was sie unternehmen könnten. Ohne eine Entscheidung zu treffen, gingen sie weiter in die Richtung, aus der Ahmet gekommen war. Kristinas Schirm bot beiden Schutz, sodass es nicht mehr so wichtig war, schnell irgendwo einzukehren. Nach einem kräftigen Marsch fanden sie sich vor Onkel Turguts Wohnung, und Kristina schaute Ahmet fragend an. Ohne weitere Diskussion gingen sie zunächst mal hinein. Ahmet wusste, daß seine Tante ihm einige Kuchen gebacken hatte, die übereinander gestapelt im Kühlschrank ruhten. Er galt als großer Kuchenesser. Kristina nahm einen prall gefüllten Teller entgegen und setzte sich auf ein hellgrünes Sofa. Ahmet setzte sich neben sie, und beide aßen aus demselben Kuchenteller und fanden es aufregend.
Es wurde lange nichts gesagt. Ahmet fühlte sich außerstande, Kristina in die Augen zu sehen. Er wusste, daß er seine Angst, er könne sie irgendwie verletzen, überwinden musste. Es half nichts. Wie ein kleiner Junge saß er neben ihr und hoffte, die ganze Situation wäre vorbei. „Ich bin ein Versager,“ dachte er und ließ seine Hand zum Teller wandern, auf dem noch Kuchen lag. „Ahmet,“ sagte sie fast zu leise, „du bist so, wie ich mir immer einen großen Bruder vorgestellt habe. Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber ich möchte, daß du mich küsst.“ Ahmet konnte nicht begreifen was geschah. Er sagte nichts und neigte sich sanft zu ihr herab, um mit seinem Mund den ihren zu berühren. Ihre Lippen waren warm und feucht. Er hielt sie fest, damit er sie mit Nachdruck küssen konnte. Nun hatte beide ein Glücksgefühl gepackt, für das Worte nicht gebraucht wurden. Ahmets Hände glitten fast selbstverständlich über Kristinas Gesicht. Ein Schwall von Küssen ergoss sich über ihren Mund. Da sagte sie nur: „Ahmet, ich liebe dich. Ich glaube, ich liebe dich.“ Kristina erwartete nicht von ihm, dass er das gleiche sagte, er hätte es auch nicht vermocht, überhaupt etwas zu sagen. Zu vieles bewegte sich in ihm. Er hatte das noch nie zuvor erlebt. Wie schön sie ist, dachte er, was für eine herrliche Frau  sie sein wird, wenn  sie noch einige Jahre älter ist.  Lächelnd schien sie ihn aus seiner knabenhaften Schüchternheit zu entlassen. Vorsichtig  bewegte sich seine Hand körperabwärts. Leicht berührte er Kristinas Brust. Sie ließ es gewähren, hielt still und atmete tief. Ahmet wurde sich ganz abrupt  bewusst, dass Kristina noch nicht volljährig war. Die elterliche Erziehung tat ein übriges, um beide von weiteren kühnen Berührungen Abstand nehmen zu lassen. Ahmet und Kristina schauten sich an, küssten sich wieder und wieder. Keine Macht hätte in diesem Augenblick zwischen sie treten können. 

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