Samstag, 16. Oktober 2010

Der Schrei der Möwe


Abreise zur Kirschenzeit. Niemand tut das ohne Not. Kaum waren sie reif, erglüht in saftigem Rot und Schwarz, als die Koffer gepackt, ins Auto geladen, der Kirschplotzer ungegessen hinterher wanderte, um an die Tochter und ihre Kinder vergeben zu werden, denn 2 Wochen wollten wir im Norden Deutschlands verbringen. Der gerade voll reifer Kirschen hängende junge Baum musste ungeerntet zurückgelassen werden.




Ein Anlass zu Trauer. Alles Essbare musste aus dem Kühlschrank geholt und noch schnell überbracht werden. In 2 Stunden wartete in Baden-Baden ein Flugzeug auf uns, das uns nach Hamburg bringen würde. Mein süßer Gogel - nur Großväter haben das Recht, eine Enkelin so zu nennen - vor kurzem erst mit den blutjungen Würden des Führerscheines geschmückt, begleitete Cath und mich zum Flughafen. Sie konnte als “Belohnung” den Wagen für 2 Wochen behalten. Schon saßen wir in der Propellermaschine und ließen wechselnde Landschaften unter uns vorbeiziehen. 



Nur etwas mehr als eine Stunde dauerte der Flug. Dann saßen wir in einem Leihwagen und kämpften uns aus Hamburg hinaus in Richtung Lübeck. Das Segensreiche an unserem Tun bestand darin, dass wir fast 1000 km Autobahn durch einen mühelosen Luftsprung ersetzt hatten. Die große Entfernung zwischen Baden und dem Nordosten Deutschlands hatte uns jahrelang davon abgehalten, die Ostseeküste zu besuchen. Erinnerungen an endlose Staus zwischen Lübeck und Rügen, gleich nach dem Mauerfall, hatten uns abgeschreckt.

Nun sollte alles anders werden. Blühende Landschaften hatte einst Kanzler Kohl versprochen. Die wollten wir sehen, und die inzwischen entstandenen Autobahnen auch nutzen. Schon hörten wir das majestätische Heulen der Möwen, die durch die alten Mauern der Hansestadt segelten, den Ruf des Kuckucks im Schwarzwald hatten wir fast noch im Ohr. 
Lübeck am Montagabend.
Die Stadt Thomas Manns und der Buddenbrooks, und die Stadt, die um den Erhalt der medizinischen Fakultät kämpfte, was man an den vielen Aufrufen und Plakaten überall ersehen konnte. Das Land Schleswig-Holstein hat schließlich nachgegeben und diese wohl sinnlose Einsparung inzwischen wieder gekippt. Auch Heinrich Mann wurde dort geboren, der Autor des “Untertan”, der kurz vor seiner Heimkehr aus den USA verstarb. Das Verhältnis zu seiner Frau soll unglaublich erotisch gewesen  sein. 
Das Abendessen stand auf dem Programm, nachdem ein erster Spaziergang die erstaunliche Schönheit dieser alten Hansestadt voll enthüllt hatte. Meine Erinnerungen gingen zurück in das Jahr 1984, (oder war es ‘85?) als ich mit den Parlamentariern des Europarates zu der traditionellen Sommersitzung nach Hamburg fuhr und von dort aus ein Ausflug nach Lübeck gemacht wurde, wo wir von einem gewissen Herrn Barschel zum Essen in die Schiffergesellschaft eingeladen waren. Uwe Barschel war Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (“ich erkläre bei meiner Ehre, ich wiederhole, bei meiner Ehre, dass....”), bevor er in einer Badewanne im Hotel Beauregard in Genf auf geheimnisvolle Weise zu Tode kam. Etwa 100 Leute waren damals mitgekommen, darunter auch mein Töchterchen Maus, das gerade das Abitur bestanden hatte und von seinem stolzen Vater mit auf die Reise genommen wurde. Dass ich an Barschels Rede herummäkelte und dieser sich dann verärgert umdrehte und von uns weglief, ist nicht im Gedächtnis meiner Tochter hängen geblieben. An ihren Vater kann sie sich gut erinnern, an Herrn Barschel nicht. Wie gesund doch das menschliche Gehirn manchmal funktioniert.
Lübeck, die Königin der Hanse, wird 1143 als erste abendländische Stadt an der Ostseeküste gegründet. Das viel ältere, nicht wirklich abendländische Haithabu bei Schleswig, eine Wickingersiedlung von großer Bedeutung, gab es damals schon nicht mehr, denn es wurde durch die Wenden 1066 zerstört. Lübeck aber blühte auf. Ausgrabungen haben in der Altstadt von Lübeck über 3 Millionen archäologische Funde aller Art zutage gefördert. Wen wundert es, dass diese Stadt mit dem weltberühmten Holstentor schon lange als Kulturdenkmal gilt? Auch die kontemporären “Monumente” sind beachtlich: Heinrich und Thomas Mann, Günter Grass, Willy Brandt. Die Altstadt, eine mittelalterliche Insel, ist schon lange Deutschlands ältestes Kulturdenkmal. Sieben Kirchtürme bestimmen die Silhouette der Stadt. Der bekannteste Vertreter der norddeutschen Orgeltradition, 39 Jahre in St. Marien als Organist tätig, Dieterich Buxtehude, ist auch ein solches Monument, allerdings aus dem 17. Jahrhundert. Er wurde in dieser zur gotischen Kathedrale umgebauten romanischen Backsteinbasilika beigesetzt. Die Buxtehude-Tage, vollgestopft mit Konzerten und sonstigen Ereignissen, verpassten wir nur um wenige Tage. St. Marien ist Deutschlands drittgrößte Kirche, und das Mittelschiff ist das höchste Backsteingewölbe der Welt. Es gibt in Lübeck zu vieles, das man übersehen muss, wenn man nur 2 Tage dort verweilt. Lübecker Marzipan, zum Beispiel. Im berühmten Café Niederegger seit 1806 in allen Variationen zu kaufen. Wir haben es nicht getan. Bachmusik dringt dort ans Ohr. Wie schön, wenn man bedenkt, dass Cafés heute auch Quellen für unflätigen Lärm sein können. In der Sankt-Jakobs-Kirche haben wir uns mit dem erschütternden Untergang der Pamir beschäftigt. Beim Auslaufen aus Buenos Aires geriet dieses Segelschiff mit 86 Seeleuten in einen Sturm. Das war am 21. September 1957. Nur 6 Männer überlebten. Alle, die diese Gedenkstätte besuchen, sind  erschüttert. Als wäre es gestern geschehen.
Die Schiffergesellschaft zeichnet sich ganz sicher nicht dadurch aus, dass Herr Barschel dort gelegentlich gegessen hat, sondern weil sie “die klassischste Kneipe der Welt” genannt wird. Seit 1535 wird dort frugal und gekonnt aufgetischt. Die Bar heißt Gotteskeller, und der Kapitänssalon ist bis nach Mitternacht geöffnet. Ich hatte mir Labskaus mit Spiegelei bestellt, dazu einen fränkischen Müller-Thurgau. Labskaus ist gewöhnungsbedürftig, vor allem das rötlich angehauchte Gemix, das seine Zusammensetzung nur ungern erschließt. Ich weiß es immer noch nicht. Fisch? Kartoffeln? Gemüse? Egal: es war ein Erlebnis der besonderen Art. Cathie hatte ein glücklicheres Händchen: Büsumer Nordseekrabben mit Avocadofilet und Rucolapesto. Da spiegelt sich hanseatische Weltläufigkeit wider.
Das Holstentor scheint etwas schief zu stehen. Kein Wunder, es ist das Wahrzeichen von Lübeck und beherbergt ein interessantes Museum, das über die Hansestadt reichlich viel Auskunft erteilt. 
Während die Maus etwa 1000 Gene mehr besitzt als der Mensch, können Fische seekrank werden. Diese Überleitung wird benötigt, um ein Kapitel über den Matjeshering zu eröffnen. Eigentlich stehe ich damit am Anfang einer seltsamen Anfreundung: bisher hat es in meinem Leben gelegentlich zum kargen Mittagessen einen Matjes gegeben: gekauft und mit leichtem Schaudern vertilgt, damit die Fettwerte wieder ins Lot kamen. Ärzte empfehlen den Matjes als besonders gesundes Mittel zur Verschlankung des fettansetzenden Menschen. Welche Überraschung, auf den Speisekarten Lübecks bereits drei Arten Matjes zu entdecken: mariniertes Matjesfilet mit Kartoffelsauerrahmpüree mit Kapern, Matjes, Hausfrauenart, Matjes-Spargel-Terinne. Es wäre unfair, von mir zu erwarten, alle 12 kennengelernten Arten der Zubereitung a) aufzuzählen, b) genau zu beschreiben, und c) auch noch Wertungen abzugeben. Mir war jeder Matjes recht. Cath wandte sich mit hohlen Blicken ab, wenn der Fisch feierlich an den Tisch getragen wurde. Mir schlug das Herz höher. Von jetzt an, bestand meine Ankunft in einem nordischen Restaurant zunächst darin, zu erkunden, was es an Matjesangeboten gab. Auf den Original Glückstädter Matjes muss ich später zurückkommen. Er schießt beileibe den Vogel ab, denn er wird durch ein Stück Literatur in Form eines Buches geehrt und damit über den ordinären Fisch hinausgehoben. Unser Abschiedsessen für Lübeck bestand dann natürlich aus Matjes mit Bratkartoffeln. Cathies Wahl jenes Tages ist mir nicht mehr erinnerlich. Auf alle Fälle kein Matjes.
Stralsund, Mittwoch, 30. Juni 2010
Wie kommt man hierher? Es könnte ja auch Greifswald oder Schwerin sein. Alles der Reihe nach: Im verregneten Sommer 1951 durfte ich, fünfzehnjährig, mit einem älteren Freund, der noch im gleichen Jahr mit seinen Eltern nach Australien auswandern musste, eine Radtour an den Bodensee unternehmen. Das Rad war alt, das Zelt löchrig und ohne Boden, das Taschengeld knapp und das Wetter schlecht. Die Erinnerungen an den Krieg waren noch sehr lebendig, der Wille, die Welt zu entdecken, groß. Wir standen frierend Schlange auf einem Zeltplatz bei Radolfszell am Bodensee. Es regnete. Alles war durchnässt, und ein Lieferwagen einer Suppenfirma, die sich bekannt machen wollte, bot kostenlos Suppe an. Mein Freund und ich schafften es, mehrere Male anzustehen, um die im Eiltempo geleerten Essgeschirre wieder auffüllen zu lassen. Dort kamen wir ins Gespräch mit einem Jungen, einige Jahre älter als ich, der ein herrliches Rennrad sein Eigen nannte. “Ich komme aus Stralsund” sagte er, nass wie er war, und alles was ich wusste war, dass Stralsund irgendwo weit im Norden lag, unerreichbar und auch irgendwie weit im Osten, also im sowjetisch besetzten Deutschland, das allerdings noch nicht seine Grenzen zugemacht hatte. Was aus dem Jungen geworden ist, der uns nie seinen Namen verraten hat, Walter Ulbricht oder Karl Marx mögen es wissen, oder vielleicht Karl Chemnitz. Für mich wurde Stralsund zu einem nie wirklich gewordenen Traum. Eine Stadt am Meer, unerreichbar, wie fast alles, das mit der späteren DDR zu tun hatte. 

Jetzt kommen wir mit dem Auto in Stralsund an: die Hitze des Nachmittags liegt über der Stadt. Die Umrisse lassen Kirchen und Türme erkennen, die riesigen Brückenpfeiler die über den Strelasund hinüber nach Rügen weisen. Der Hafen. Überall, immer noch, Bauarbeiten, Umbauten, Neubauten. Die Wirtschaftskrise hat den Prozess verlangsamt. Stralsund muss noch warten, bis es die traumhafte Schönheit wieder voll erlangt hat, die man allenthalben erkennen kann.
Das Hotel, ein freundlicher Schock. Für eine Nacht vorausgebucht, beschlossen wir spontan, hier unser Hauptquartier für Rügen aufzuschlagen. Gute 60 qm nur für uns. Die Welt draußen  weiß jetzt, dass Christian Wulff neuer Bundespräsident ist. Drei Wahlgänge mussten herhalten. Was hat er, was Joachim Gauck nicht hat? Diese Wahl, eine Art historische Zeitverschwendung. Ein Mann mit Verstand und Durchblick wurde verhindert, damit ein aalglatter Nichtssager in Bellevue seine Denkfabrik aufmachen kann. 

Nun der Schock, von dem ich sprechen möchte: das andere WohlFühlHotel im Hafenspeicher von Stralsund. Sofort gefiel uns das Ding, obwohl, von außen betrachtet, eher ein vierstöckiger Bunker zu sehen war. Das änderte sich schnell. Fast überall sonst begegnet dem Hotelgast eine gekünstelte Hotelatmosphäre und manchmal der leicht geheuchelte Luxus. Hier nicht. Ein vierstöckiges Lagerhaus aus grauen Vorzeiten wurde in sechsjähriger Arbeit von dem Manne neu gestaltet, der uns bei der Ankunft begrüßte: Geschäftsführer, Architekt, kreativer Träumer (?): Joachim Geiling, der im Hamburger Hafen eine vergammelte Ladung brasilianischen Schiefers entdeckte, nach Stralsund bringen ließ, und damit die Böden in den Zimmern und in den Bädern gestalten ließ. Viel schöner als schwarzer Marmor, der auch gerne zum Rutschen verleitet. Barfuß unterwegs, denn es war herrliches Sommerwetter, fühlt man die dem ganzen Haus eigene, unterkühlte Wärme. Fahrstuhl und Treppe gibt es auch. Das Treppenhaus ist funktionell belassen. Man kann alles sehen, auch die elegant rostenden Stahlplatten, die das Geländer bilden. Man vertraut sofort der Ehrlichkeit dieser Architektur. Auch im Empfangsraum, der auch Frühstücksraum und Bar ist. Man sitzt hier praktisch zu ebener Erde am Hafen. Ein Blick durchs Fenster zeigt stattliche Segelboote und dahinter die heimelige und doch grandiose Silhouette der Stadt mit den Türmen der Nikolaikirche und der Jakobikirche. 
Wir werden in den obersten Stock geleitet und in eine riesige Suite geführt, die an drei Seiten mit Fenstern versehen ist. Eine diskrete Treppe führt hinauf in einen verglasten Raum, auf den Hafenspeicher aufgesetzt, von dem aus man einen grandiosen Blick auf alles hat, die Stadt, den Hafen, die Hängebrücke nach Rügen, die Zugbrücke, die umständlich hochfährt, wenn ein Schiff oder Boot auslaufen möchte oder in den Hafen fährt. Dann ist für das Auto und dessen Besitzer eine kleine Wartepause angesagt. Der Strelasund, ein Teil der Stadt werden sichtbar. Hier übernachtet man nicht, hier wohnt man. Inselblick, statt Tunnelblick, denn das Hotel liegt auf der Hafeninsel (info@hafenspeicher-stralsund.de). Einfach alles erfreulich, dort. 
Wir beschlossen, mehrere Tage hier zu verbringen, denn der Sehenswürdigkeiten gab es viele: das gotische Rathaus aus dem 13. Jahrhundert, die Nikolaikirche, die Marienkirche, die Jakobikirche, alles im reiner Backsteingotik. Stralsund trat schon 1283 der Vorstufe zur Hanse bei, zwischen Lübeck, Rostock und Wismar 1259 gegründet, ein mächtiges Bündnis, das sich 1370 mit dem Frieden von Stralsund die Handelsherrschaft im Norden sicherte. Leider reichen ein paar Tage nicht, um alles zu besichtigen. Wir erfreuten uns an den herrlich alten und oft gut restaurierten Bürgerhäusern, gingen hinüber zum Ozeaneum und widmeten einen ganzen Vormittag der Besichtigung von St. Nikolai.
Diese älteste Kirche Stralsunds wurde 1270 begonnen. 1350 wurde der Bau abgeschlossen. Was muss alles geschehen sein, damit es so lange dauern konnte? Die astronomische Uhr von 1394 und das Gestühl der Nowgorodfahrer und Rigafahrer von etwa 1420 sind mir in Erinnerung geblieben. Kaufleute der Hanse brachen im Sommer und im Winter nach Riga und nach Nowgorod auf, um dort Waren einzukaufen und per Schiff nach Stralsund zu bringen und weiter zu verschiffen.
Die Gorch Fock I, eine großartige Dreimastbark, direkt dem Hafenspeicher gegenüber gelegen, die Cath und ich besichtigen mussten: sie (Cath) und ich stammen aus leidenschaftlichen Seefahrernationen. Cath kam nur nach Europa, weil dies per Schiff möglich war, ich begann meine Karriere als Kapitän in der Badewanne, von Mutter überwacht, damit ich nicht über Bord ging. Da muss ich zwischen 3 und 6 gewesen sein. Später kam dann das Steuern von Dampfloks dazu. Über Bord ging ich dann zusammen mit einem Freund im Hafen von Kiel, weil wir uns beide eingebildet hatten, wir könnten Segeln. Horst und ich überlebten. Das Segelboot wurde von anderen an Land verbracht. Auch die Gorch Fock hat, ganz wie jede Katze, mehrere Leben aufzuweisen. 1933 bei Blohm + Voss als Segelschulschiff gebaut. Gorch (Georg) Fock war das Pseudonym eines niederdeutschen Dialektdichters der eigentlich Johann Kinau hieß und in der Skagerrakschlacht 1916 ums Leben kam. Die Gorch Fock wurde am Kriegsende 1945 in Stralsund versenkt. Und 1947 wieder aus dem Wasser gehoben. Die Reparaturen fanden in Rostock und in Wismar statt. Die sowjetische Besatzung hatte dafür Verwendung: unter dem Namen “Towarischtsch” ging die GF als Segelschulschiff der Handelsmarine der UdSSR auf Fahrt. Bei Auflösung der Sowjetunion blieb das Schiff in der Ukraine hängen. Es fuhr in der Welt herum, kam auch mal nach Rostock und wurde von Windjammerfreunden immer noch heiß geliebt. Nach den unvermeidlichen und kostenstarken Reparaturen, die die Ukraine nicht leisten konnte, kam die Bark wieder nach Deutschland, nicht ohne Umwege: England, dann Wilhelmshaven, dann schließlich Stralsund. Länge 82 Meter, Breite 12, Segelfläche 1790 qm, Reparaturkosten: mehr als 1 MIllion €. Das heißt: jede Besichtigung trägt zum Erhalt der Gorch Fock bei. Eine schöne Aufgabe für einen Touristen mit Seefahrerinstinkt.
Das Ozeaneum ist was für Kinder und Erwachsene. Europas größte Meeresaustsellung wird von Greenpeace aktiv unterstützt. Hier geht es um Bewusstseinsschaffung in Sachen Überfischung, Verschmutzung und Ausbeutung der Weltmeere. Schon die Architektur dieses Meeresmuseums ist interessant: Glas paart sich mit zylindrischen Formen. Erinnerungen an den Menschenrechtsgerichtshof und den Saal des Ministerkomitees im “Palais de l’Europe” in Straßburg kommen auf. Überwältigend, was so alles unter Wasser sichtbar wird. Man lernt viel, wenn man interessiert ist: dass Thunfisch, Schwertfisch und Kabeljau schon zu 90% dezimiert sind, dass im Jahr 2048 der Kollaps der kommerziell genutzten Fischbestände weltweit eintreten wird, dass 8% der Bestände bereits heute erschöpft sind. Drei Sorten Fisch mag ich schon lange nicht mehr: Lachs, Seelachs und Pangasius. Lachs kann schmecken, wenn er aus Island kommt. Seelachs schmeckt mir zu langweilig, und Pangasius wird inzwischen auch von erfahrenen Hausfrauen abgelehnt, weil gechmacklos. Die Demütigungen des Gaumens haben ja mit dem Putenschnitzel begonnen und sich über den Brokkoli fortgesetzt. Wenn ein Lachs aus sogenannter Aquakultur stammt, hat dies mit Kultur nichts mehr zu tun. Eher mit dem Mästen von Schweinen, was bekanntlich auch nicht die beste Qualität hervorruft. Hering, Sardine und Makrele, Aal, Rotbarsch und Seeteufel sind als Speisen nicht mehr vertretbar. Das alles lernt man im Ozeaneum. Wenn man dann am Abend wieder im Gasthaus sitzt und die Wahl zwischen verschiedenen Matjesangeboten hat, weiß man nicht so recht, was man tun soll.
Rügen, eine Welt für sich
Wir wussten, was tun: endlich ging’s über die eindrucksvolle Hängebrücke hinüber nach Rügen. Das Lexikon beschreibt Rügen als Insel mit stark gelapptem Umriss vor der pommerschen Ostseeküste. Dämlicher geht’s nicht. Gelappt, was soll das bedeuten? Früher gab es nur den 2,5 km langen Rügendamm, als einzigen Landzugang zur Insel, mit Fährverkehr von Saßnitz aus nach Schweden. Das scheint erwähnenswert, weil Rügen immer noch länger zu Schweden als zu Deutschland gehört hat. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648)  ging Rügen an Schweden und kam erst 1815 zu Preußen. Das Fürstentum Rügen gehörte also zur schwedischen Krone, und wir Deutsche haben die Schwedin Zarah Leander während der Hitlerjahre als Star und dunkelstimmige Bardin verehrt und in unser nationalsozialistisch geschwängertes Kulturgut aufgenommen. 
Auch was Rügen betrifft, müssen wir angesichts der Vielfalt des Angebots passen. Die Insel verdient einen längeren Aufenthalt, keine Stippvisite. Es gibt so vieles zu sehen. Unser Besuch war nur wie ein Hineinschnuppern. Den Überblick über die geographischen Gegebenheiten verliert man schnell. Überall gibt es kleine Inseln, Halbinseln und sogenannte Bodden, vom Meer abgetrennte Lagunen, oder flachgründige Meeresbuchten. Wir fuhren von Stralsund kommend nach Osten über den zentralen Ort Bergen weiter bis zum Ostseebad Binz. Mondän zeigt sich der Ort. Parkplätze sind eine Rarität, weil sich alle möglichst nahe am Strand niederlassen wollen. Wir aßen zunächst mal als einzige Gäste in einem feinen portugiesischen Restaurant und gingen dann barfuß über den 100 m langen Steg zum Schiff, um einen Teil Rügens vom Meer aus zu betrachten. Natürlich hätten wir uns auch anderweitig verwöhnen lassen können: eine Packung mit Rügener Heilkreide, oder Sanddornanwendungen oder eine Seifenmassage auf heißem Hammamstein in einem der großen Strandhotels. Nein, wir begaben uns an Bord und fuhren in Richtung Königstuhl und Stubbenkammer. Wir stoppten in Saßnitz, wo wir ein britisches U-Boot zu sehen bekamen, das 1963 in Dienst gestellt wurde, vor den Falkland Inseln und im Persischen Golf tätig war, irgendwie nach Saßnitz kam und 90 Meter lang besichtigt werden kann. Die Besatzung, heute längst verrentet, bestand aus 68 Mann. Das muss bei längerem Tauchen im Inneren ganz schön gemieft haben. Dennoch ging es weiter bis zum Königstuhl, dem bekannten Wahzeichen der Insel. Ein grandioser Anblick. 
Etwas kleinlaut möchte ich aufzählen, was wir gerne noch besichtigt hätten, wenn wir die Zeit dazu gehabt hätten: natürlich die Insel Hiddensee im Westen, die Halbinsel Mönchgut mit den Bädern Sellin, Baabe, Göhren und Thiessow im Südosten, das Kap Arkona mit den Leuchttürmen im hohen Norden. Vielleicht hätten wir auch eine Bahnfahrt mit dem Rasenden Roland gemacht, einem Dampfbähnchen, das an alte Zeiten erinnert. Oder das Inselchen Vilm besucht und in Putbus das Theater. Unser Entschluss allerdings steht schon fest: da müssen wir wieder hin. Es war zu schön. Auch Cath hat vor Begeisterung grunzende Laute von sich gegeben. Eine Trauminsel zum Verlieben eben.
Wer auf der Landkarte wieder weiter nach Westen fährt, also Greifswald und Usedom ignoriert, landet auf der Insel Zingst. Insel oder Halbinsel, es gibt einen Landzugang über Fischland und einen über Barth, einem reizenden Städtchen, das auch einen umgebauten Hafenspeicher als Hotel führt. Leider konnten wir das Hotel nicht besichtigen. Eine Hochzeitsgesellschaft hatte es in Beschlag genommen. Also fuhren wir an den Strand, denn es war herrliches Wetter. Zeit, ein Bad in der Ostsee zu nehmen. Für Cath eine  unerwartete Wende, als wir am Strand angekommen waren, für mich, der ich schon in den Fünfziger Jahren damit Bekanntschaft gemacht hatte, ein vertrauter Anblick: alle waren nackt. Splitternackt. Und das Wasser: eiskalt. Dennoch bewegten wir, wie alle, unsere Körpermassen unbekleidet in die Fluten, wo es nach dem ersten schrecklichen Eintauchen ganz angenehm und prickelnd wurde. Cathies Bemerkungen über herunterhängende Körperteile wiederhole ich hier nicht. Für sie war es das erste Mal. Auf dem Weg nach Zingst kamen wir an Getreidefeldern vorbei, die, wie in einem Traum aus alten Zeiten, von Klatschmohn, Kornblumen und weißen Kamillen durchsetzt waren. Atemberaubende Schönheit, die fotografiert werden musste, zumal auch die Buchenalleen, sonst für den Autoverkehr wohl etwas zu eng geraten, märchenhafte Perspektiven vermittelten. 
Unsere Zeit in Stralsund war abgelaufen. Unter bewusster Umgehung von Rostock, Schwerin und Orten wie Bad Doberan oder Kühlungsborn, strebten wir Wismar an, eine weitere Perle der Ostsee, manchen vielleicht noch präsent als der Ort, an dem Nosferatu an Land gegangen war, um dort während der Pest sein Unwesen zu treiben. Eine Symphonie des Grauens nannte Walter Murnau seinen Gruselfilm aus dem Jahr 1922. Heute hat Wismar sich davon erholt und auch den 2. Weltkrieg trotz großer Zerstörungen überstanden, sowie die Zeit der Mauer und deren Fall. Wismar bietet weit mehr als lange schwarze Fingernägel. Schnell hatten wir das Hotel New Orleans gefunden. Ein Ort, der für seine Begeisterung für New Orleans in Wismar bekannt ist: interessantes Essen, etwas Flair der Südstaaten und dazu eine American Bar mit großer Auswahl an Cocktails (Sex on the Beach, Tequila Sunrise, etc.). Doch sollte die Kultur uns mehr interessieren. Der alte Hafen der Hansestadt, die Kirchen in Backsteingotik, die vielen Bürgerhäuser mit den herrlichen Giebeln, vor Jahrhunderten gebaut, um den Reichtum ihrer Besitzer zur Schau zu stellen. Das alles ist noch sichtbar. Auch hier könnte man Wochen verbringen. Wir gaben uns nur drei Tage, von denen fast ein ganzer  auf der Insel Poel verbracht wurde. Von dieser Insel hatte ich noch nie gehört. Dort war das Wasser warm, aber wegen der Wärme etwas mit Quallen verseucht, was uns jedoch nicht störte. Wismar hat auch seinen speziellen Matjes im Angebot. Ich habe ihn im “Alten Schweden” am Marktplatz, einem der ältesten Plätze Deutschlands aus fünf verschiedenen Matjes ausgewählt, mit Preiselbeeren, während Cath zur Scholle griff. 
Und was liegt am Rudolpf-Karstadt-Platz, ganz im Zentrum von Wismar? Das erste Karstadtkaufhaus. Immer noch wird um die Übernahme dieser Kaufhauskette gerungen. Der Anfang wurde hier gemacht: 

“Einem geehrten Publikum Wismar’s und Umgegend mache hierdurch die ergebene Mittheilung, daß ich Mitte dieses Monats - Krämerstraße No. 4 - im Hause des Herrn Rechtsanwalt Behring hieselbst, ein Tuch-, Manufactur- u. Confections-Geschäft eröffnen werde. Es wird stets mein Bestreben sein, mir durch strengste Reellität das Vertrauen der mich Beehrenden zu erwerben, und wird der Verkauf zu sehr billigen festen Preisen, aber nur gegen Baar stattfinden. Ich erlaube mir auf diese Gelegenheit, preiswerthe Einkäufe zu machen, hinzuweisen.” Wismar, den 4. Mai 1881. Hochachtungsvoll C. Karstadt.

Als 1906 das heute noch eindrucksvolle Jugendstilgebäude Ecke Lübsche/Krämerstraße eröffnet wurde, besaß Karstadt bereits 24 Kaufhäuser im norddeutschen Raum. 

Die Stadt ist auch voller Kathedralen: die Nikolaikirche soll mit ihrer Gewölbehöhe von 37 Metern die zweithöchste Backsteinbasilika der Welt sein. Wir waren oben: über 90 Stufen im Wendeltreppensystem. Der Drehwurm war jedoch milde gestimmt. Wir hatten einen großartigen Ausblick auf Stadt und Hafen und sahen durch kleine Öffnungen hinunter  in das Kirchenschiff, atemberaubend.
Am Abend im New Orleans: das Fussballspiel zwischen Argentinien und Deutschland angeschaut. Die Menschen im Hotel haben sich alle riesig über das 4:0 gefreut. Cath und ich ließen es zu einem Cocktail kommen, der uns zusätzlich in Stimmung versetzte. 
Als der Tag am Ausklingen war, spazierten wir noch am nahe gelegenen Hafen umher. Es wurde bereits dunkel, da begegneten wir “Kuddel”. Ein richtiger Seemann und Kapitän namens Kurt Lohmann, der als echter DDR-Seefahrer die Welt bereisen konnte: Kuba, Großbritannien, Spanien und den Fernen Osten. Er lud uns auf seine Kogge ein, die eine Nachbildung eines 1354 aus Kiefernholz gebauten Schiffes ist, das als Wrack auf der Insel Poel gefunden wurde. Die Nachbildung wurde erst 2006 fertig. Sie ist der größte Nachbau einer “baltischen Kogge”, die zur Hansezeit auf der Ostsee Lasten und Waren transportierte. Kuddel bot uns an Bord einen Kräuterlikör an, der es in sich hatte. Dann zeigte er uns das Schiff. Wir fühlten uns wie die Seefahrer im Mittelalter. Gerne wären wir mit Kuddel auf der Wissemara auf Segeltörn gegangen. Gelernt haben wir auch etwas: Achtern ist hinten, Bug vorne, Luv die dem Wind zugewandte, Lee die ihm abgewandte Seite eines Schiffes. Ein Knoten ist das Maß der Geschwindigkeit, etwa 1,85 km/st. Die Wissemara kann 8-9 kn machen. Von Raserei kann hier nicht die Rede sein.

Ach, ja, Backbord ist die linke Seite des Schiffes. Steuerbord dann wohl die rechte. Der Antrieb der Wissemara besteht aus einem Rahsegel mit drei Bonnets. Schön, so eine baltische Kogge.
Die St.-Georgenkirche aus dem 13. Jahrhundert ist eine der drei Hauptkirchen Wismars. Bis 1594 haben der Aufbau und all die Umbauten gedauert. Dann wurde sie im 2. Weltkrieg zerstört. Seit dem Mauerfall wird der aufwändige Wiederaufbau betrieben. Wismar kann ohne dieses Monument der Backsteingotik nicht leben. Wer die Kirche besichtigt, kann dies verstehen. Gigantisch und akustisch: es finden dort Konzerte statt. Die vielen Besucher helfen mit ihren Spenden, das Werk vielleicht doch bald zu vollenden. Cath war vom Klang der Kirche so überwältigt, dass sie im Zentrum, wo die hohen Kirchenschiffe zusammmenliefen und ein Konzertpodium stand, einfach zu singen begann. Nicht nur ältere Damen blieben gerührt stehen und applaudierten der unverhofften Gratisdarbietung. Wismar ist noch lange nicht abgehakt. Wie reich doch die Erinnerungen an die Vergangenheit sind.
Der Marienkirchturm ist 80 Meter hoch. Mit einer Turmuhr, die ein Zifferblatt von 5 Meter Durchmesser besitzt. Weithin ist das Glockenspiel hörbar. Der Rest der Kirche wurde im 2. Weltkrieg zerstört und 1960 gesprengt. 
Nein, wir zählen nicht mehr auf. Wismar ist ein Universum in das man selbst eintauchen muss, wenn man es erleben möchte. Nosferatu schwebt heute wie ein fernes Menetekel über der Stadt: Rettet was noch zu retten ist. Rettet diese schöne Stadt vor dem Untergang und lasst von mir aus auch Karstadt weiterleben. 
Auf nach dem Westen
Das Wetter ist immer noch sommerlich schön, und das an der Ostseeküste, wo Winde wehen und Wolken sich türmen können. Die Abende sind noch lang, die Sonne zögert unendlich, sich vom Acker zu machen. Kein Frösteln kommt auf, sondern das wonnige Gefühl der ewigen Sommernacht. Eine traurige Stimmung packt uns, als wir Wismar den Rücken kehren. Wir wollen hier wieder einmal sein. Diese Hoffnung bleibt. 

Wir haben noch eine Nacht frei, bevor wir in Hamburg ankommen, das Leihauto abgeben und in unser - man errät es fast - Hafenspeicherhotel einziehen, um die letzten Tage vor der Heimreise an der Elbe zu verbringen. Ganz so ist es nicht, doch davon später.
Wo wollen wir eigentlich hin? Wir hatten klugerweise darauf verzichtet, den ganzen Norden Schleswig Holsteins auch noch mitzunehmen. Es wäre zu viel in zu kurzer Zeit gewesen. Wir waren erst etwas über eine Woche unterwegs und hatten schon das Gefühl unendlich lange und unendlich weit weg zu sein. Nun wollten wir die letzte Nacht vor Hamburg nahe genug am Flughafen verbringen, um dort das Auto am nächsten Morgen abgeben zu können. Die Autobahn endete für uns bei Lübeck, da sie uns automatisch nach Hamburg weitergeführt hätte. Von Lübeck aus wollten wir uns direkt nach Westen durchschlagen, auf krummen Landstraßen zwar, aber mit dem Blick auf einen schönen Ort zum Übernachten. Das merkelsche Straßenbauwirtschaftsankurbelungswunderprogramm war es wohl, das uns manchen Umweg fahren und stundenlang in einer Kolonne hinter einem Laster herfahren ließ, aber wir begannen, das Ende des Tunnels zu sehen: nach Bad Oldesloe kam Bad Bramstedt und schließlich Itzehoe, wo wir eine Essenspause einlegten. Auf der Suche nach einem Parkplatz verlor ich Cath, die irgendwo im geschäftigen Zentrum einen harndrangbedingten Ausstieg gewagt hatte, in der Hoffnung, ich würde sie dann irgendwie wieder finden. Doch Itzehoe hat diese Engländerin erst nach einigem verzweifelten Herumirren meinerseits wieder freigegeben. Sie saß seelenruhig an einem Tisch an der Straße, wo ich sie zurückgelassen hatte. Itzehoe, nein, da wollten wir nicht bleiben.
Glückstadt vielleicht? Als wir dort nach Umwegen angekommen waren, bemerkten wir, dass dies die Stadt mit den “Original Glückstädter Matjes” war, und an der unteren Elbe lag. Diesem Hering widmet die Stadt sogar ein viertägiges Volksfest, das jeweils am dritten Donnerstag im Juni beginnt. Wir haben dieses Fest natürlich verpasst, wie so vieles, es war ja schon Juli. Menschen und geladene Prominenz (das sind auch Menschen) warten gespielt geduldig auf die Öffnung des schweren Holzfasses. Dann wird in den ersten Matjes der Saison hineingebissen. Nach einem prüfenden Schmecken heißt es dann: “ausgezeichnet”. Also blieben wir in Glückstadt.
Da, wo die Elbe sich schon wie das weite Meer breit macht, führt keine Brücke ans andere Ufer. Dafür gibt es eine Fähre: die “flotte Elbquerung” oder auch “die erholsame Länder-Verbindung in der Metropolregion (Hamburg). Große Wolkenberge, gemischt mit kräftigen Stücken blauen Himmels sagten uns, dass es hier schön und romantisch ist. Riesige Containerschiffe zogen die Elbe hinauf. Die dicken Pötte schweben lautlos an Glückstadt vorbei, dafür aber liegt Deutschlands ältestes, noch betriebsbereites Segelschiff, die “Rigmor”, am Hafen. Eines jener bescheidenen, aber umso reizvolleren Kleinode dieses nördlichen Bundeslandes hatten wir gefunden. Hier war die Auswahl an Zubereitungsarten von Matjesheringen schlagartig auf zwölf gestiegen. Für mich ein freundliches Angebot, für Cath ein Grund, sich schaudernd von der Speisekarte abzuwenden. “Bestelle mir erst mal einen Rotwein, frage aber woher er kommt”, tönte sie scheinbar enttäuscht. Dann aber stellte sich der Hunger ein, und mein “Fräulein” bestellte etwas mit viel Fleisch (eine Knusperente) und ich einen Kapitänsteller. 
In einem jener Läden, wo man alles und nichts bekommt, was man braucht, kaufte Cath mir ein Buch, das einen als Strafe gedachten Titel trägt und mir immer noch viel Freude bereitet: “Matjes - mild und makaber”. Kleine amüsante Geschichten kreisen um den berühmten Frühjahrshering aus Holland. Der Verlag heißt sinnigerweise “Deichverlag”. Inzwischen hatten wir auch an der “Pension am Hafen” festgemacht, einem gemütlichen Frühstücks-Hotelchen am Binnenhafen, 3 Fußminuten vom Marktplatz entfernt. Mit einem Gin und Tonic in einem Biergarten ließen wir unseren vorhamburgischen Tag ausklingen.

Es wäre schofel, nicht an die Geschichte Glückstadts zu erinnern, das historische Ergebnis eines Königstraums. Christian IV., Herzog von Schleswig und Holstein, dazu noch nebenbei König von Dänemark, träumte davon, eine Stadt an der Elbe zu gründen, die das mächtige Hamburg in den Schatten stellen würde. 1617 ließ er mit den Worten den Grundstein legen: “Dat schall glücken und dat mutt glücken und dann schall se ok Glückstadt heten”. Die Hauptstraßen der kleinen Stadt laufen sternenförmig vom historischen Marktplatz aus zu den Wallanlagen, die noch sichtbar sind. Der Grundriss Glückstadts fasziniert Städtebauer und Touristen heute noch. Der Matjes die ganze Welt!
Und er ist nicht nur holländisch. Er kann auch deutsch sein.
Rezept
Matjes mit Birnen, Bohnen und Speck.
Zutaten: 8 Matjesfilets, 500 g grüne Bohnen, 2 Birnen, Bananensirup, Birnengeist, 4 EL Crème fraiche, Sahne, 8 Scheiben Speck, Salz, Pfeffer, Walnusskerne. 
Wie’s gemacht wird? Die Birnen einkochen, mit Zucker und einem Schuss Zitronensaft weichdünsten und pürieren, mit etwas Bananensirup und Birnengeist abschmecken. Hier weigere ich mich, weiterzumachen. Soll doch der interessierte Matjesesser selbst schauen wie er weiterkommt. Cath wundert sich ohnehin schon, warum ich so lange auf dem Zubereiten von Heringen herumhacke.
In Hamburg sind die Nächte lang
Cath war noch nie in Hamburg und darauf sehr neugierig. Natürlich hatten wir bei der Ankunft aus Baden-Baden so gut wie nichts gesehen. Heilfroh waren wir, als wir nach stundenlangem Herumsuchen, von Ampel zu Ampel, die Stadt endlich in Richtung Lübeck verlassen hatten. Jetzt aber wurde es ernst. Wir waren in Hamburg angekommen und hatten kein Auto mehr. Von nun an ging’s per U-Bahn, S-Bahn, Bus oder Schiff. 

Das Hotel war ein besonderes: Wir merkten uns: S-Bahn Hamburg-Bahrenfeld, dann 10 Minuten zu Fuß. Ein Industriekomplex, der von Architekten in ein modernes Geschäftszentrum verwandelt wurde. Das Hotel heißt Gastwerk und liegt am Alten Gaswerk. Das klingt unelegant, wird jedoch durch die Idee, alte Klinkermonster neu zu beleben, Lügen gestraft. Von außen hässlich wie die Nacht, dem Hafenspeicher in Stralsund ähnelnd. Elegant und fantasievoll, auch etwas teuer, das Innere. Ein Edeka und ein gutes chinesisches Restaurant haben sich in diesem Komplex ebenfalls niedergelassen. Eine interessante Art zu wohnen. Eine andere Welt, weitab vom Trubel der Millionenstadt.
Hamburg ist die zweitgrößte deutsche Stadt. Reeperbahn, Sankt Pauli, Landebrücken, Elbphilharmonie, Hans Albers, Ohnsorgtheater. Nein, so kann ich nicht weitermachen. Jeder kennt Hamburg, schätzt und liebt es auch. Die Frage ist nur, was tut man dort, wenn man nur drei Tage hat und eigentlich eher das Flair dieser Metropole genießen möchte? Man geht zur Binnenalster und schlendert den Jungfernstieg entlang. Man besucht auch möglichst schnell die “schmutzigste Meile der Welt”, die Reeperbahn. Da kommt Mitleid auf, vor allem am helllichten Tag. So uninteressant habe ich die Reeperbahn schon lange nicht mehr gesehen. Sodom und Gomorrha haben sich überlebt. Als ich in den frühen Fünfzigerjahren dort herumstöberte, sah ich Erich Kästner, allerdings am Abend und in Begleitung einer Dame, die 2 Köpfe größer war als er. Auch Fatty George war gegen ein horrendes Entgelt von ca. 2 DM (wenn ich mich richtig erinnere) für das es auch noch ein Bier gab, zu sehen und zu hören. Ich weiß aber nicht mehr, ob er Trompete oder Bass spielte. Aufregend damals auch die schwüle, vom Laster geprägte Athmosphäre auf dieser Meile. Heute kommt auf 100 Normalos ein schriller Mensch, der eine Ganzkörpertätowierung aufweist, oder ein paar fetzige Mädchen, die eher zum häuslichen Herd als zum Ambiente dieses Nuttenviertels passen. Langweilig und abgestanden. Und fast nur Schnellimbisse. Verbrecher kiez? Nach Mitternacht vielleicht. Allerdings haben wir uns den Abend dort erspart. Wir genossen lieber die S-Bahn zurück zum Hotel.
Hamburg ohne Hafenrundfahrt ist wie die Suppe ohne Salz. An den Landungsbrücken geht es zur Sache. Es war ausgesprochen warm, um nicht zu sagen: heiß. Das Vergnügen blieb eingegrenzt. Die Kommentare des Käptens, der auch Fremdenführer war, waren witzig bis pessimistisch. Anscheinend ist die Weltwirtschaft dabei, Hamburg allmählich das Wasser abzugraben. Weniger Containerschiffe. Weniger Umsatz. Weniger Ozeanriesen auf Besuch usw. Wir dachten an Hans Albers und seine Möwen. Freddie Quinn und seine Mutter (Junge, komm bald wieder....). Auch Hamburg ist mit den Jahren eine andere geworden. Kosmopolitisch ist die Stadt aber geblieben. Der Spiegel, der Stern, die Zeit, die Bildzeitung (tut mir leid, dieses Revolverblatt auch zu erwähnen), sie alle deuten auf Hamburg als eine, wenn nicht DIE Medienstadt im bundesdeutschen Meinungsrummel hin. 
Auch essen kann man gut. Kaum hatten wir in einem schicken Resto an der Elbe in Altena bezahlt, entdeckte ich, was ich Cath auf jeden Fall zeigen wollte, ohne mich an dessen Namen zu erinnern: Das Fischereihafen-Restaurant. Hier hatten meine Tochter Maus, ein holländischer Freund und ich einmal einen schönen Abend verbracht. Mein brüchiges Gedächtnis hat mir jedoch nicht erlaubt, mich an den Namen zu erinnern. Manchmal kommt eben auch der Zufall zu Hilfe. Fischereihafen, eine Treppe hoch, Eingang rechts.
Natürlich besuchten wir auch im Doppeldeckerbus die Speicherstadt. Ein gigantisches Werk des Aufbaus. Dort sollen einmal 40 000 Menschen leben und arbeiten. Ein neues Stadtviertel für Hamburg. Binnen- und Außenalster mit den hochherrschaftlichen Villen und Gebäuden, den herrlichen Parkanlagen und dem verzweigten Kanalsystem, besuchten wir per Schiff mit Christian und Christel, die zu einem Besuch aus Bremerhaven gekommen waren. Gute Freunde machen einen Besuch in Hamburg noch schöner. Cath war sehr angetan. Hamburg kann sich sehen lassen, auch wenn wir weder die historische Hurentour noch die Erlebnisausstellung über die Beatles mitmachten, keines der vielen Theater, Musicals, Museen besuchten. Banausen aus der Provinz eben. Aber durchaus mit unserem Tun zufrieden. Der Schrei der Möwe war unser täglicher Begleiter. Jetzt wird er uns fehlen.
Der allerschönste Abschluss unserer Reise kam, als wir nach einem einstündigen Flug in Baden-Baden landeten: mein geliebter Gogel, eine achtzehnjährige Maura und Tochter meiner Tochter, erwartete uns stolz am Flughafen, um uns mit dem Auto nach Hause zu bringen. Kann man sich etwas Schöneres wünschen?


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen