Samstag, 16. Oktober 2010

Belgien wäre ja ganz in Ordnung..

..wären da nicht die ewigen Streitereien um das Wie, Wo und Warum. Die Größe des Landes ist einigermaßen unbestritten: knapp über 30 000 Quadratkilometer, und, sagen wir mal, 10 Millionen Einwohner. Noch ist Brüssel die Hauptstadt, aber Antwerpen sitzt in den Startlöchern, um das zerfallende Königreich weitgehend aufzufangen. Was machen wir dann mit Brüssel? Dem König? Der blühenden Schokoladenindustrie? Dem Manneken Piss? 



Belgien ist gerade mal so groß wie Baden-Württemberg, halb so groß wie Bayern. Dennoch macht es den Europäern einige Sorgen. Während man in Bayern bayerisch, fränkisch oder schwäbisch spricht, wenigstens weitgehend, in Frankreich französisch, wenigstens weitgehend, und in Holland holländisch, ist man sich in Belgien uneins darüber, wo was gesprochen werden soll. Die Wallonen haben kein Problem mit ihrer Sprache. Für sie kommt nur Französisch in Frage. Dass man „septante“ und „nonante“ sagt, statt „soixante-dix“ und „quatre-vingt“, wen schert das schon? Die Wallonen sind glücklich, ihre Sprache nach überall hin auszudehnen, wo traditionell Flamen leben, denen man nach und nach die muttersprachliche Butter vom Brot isst. Ein Wallone käme nicht auf die Idee, Flämisch zu lernen. Dabei sind etwa 60% aller Belgier Flamen, und nur der verbleibende Rest wird zwischen den Wallonen und der deutschsprachigen Minderheit aufgeteilt. Kein Wunder, dass der Flame an sich, vielleicht aus Trotz, mehr und mehr zu einer künstlichen Verkehrssprache greift, wenn er mit wallonischen Landsleuten zu tun hat: dem Englischen. Den Engländer kann das freuen, der Belgier an sich kann darüber nicht glücklich sein. Aber, was ist ein Belgier?
Wie Großväter so sind, habe ich meinen 12jährigen Enkel Jascha gefragt: „Was weißt Du über Belgien?“ Diplomatisch und klug, wie er ist, sagte er: „ich war noch nicht dort, aber es ist wohl etwas flach, keine Berge und so...“ Eine echten Belgier hatte er wissentlich noch nicht gesehen. Ich beschloss also, die Erlebnisse einer einwöchigen Reise nach und durch Belgien festzuhalten. Wir schreiben die letzte Aprilwoche 2010. Frühling in Belgien, mit viel Schokolade, Bier und Kunst, ein eher seltsames, aber doch voll gelungenes Unterfangen. 
Am besten beginnt man mit dem Warum. Cathie Burton hatte eine Einladung nach Gent und Antwerpen um dort vor Studenten über integrierte Kommunikationsmanagemententwicklungen zu sprechen. Oder so. Vier Jahre berufliches Leben in Brüssel, früher einmal, machten daraus folgenden Plan: ihr Mann (das bin ich) sollte als Begleiter mitkommen (Guido Westerwelle macht das ja auch) und beim Ein- und Austeigen auf den Bahnhöfen behilflich sein. Dabei durfte ich dann am Rahmenprogramm teilnehmen: schöne Empfänge, Bootsfahrten und freundlich organisierte Essen. Um es vorweg zu nehmen: so ein Leben als Rahmenprogramm ist durchaus erträglich, solange man nicht übertreibt. Ich hatte auch Freizeit, die ich zum Strolchen durch malerische Gassen nutzte, und Cath blieb ebenfalls genug Muße, um mit mir Museen und anderes zu durchstöbern und bei regelmäßig aufkommendem Hungergefühl die Kurve in ein meist sehr originelles Gasthaus zu finden. Dabei liefen uns manche Austern, auch mal Hummer, und leckere Fritten über den Weg. Fazit: in Belgien kann man gut essen. Fritten müssen es aber nicht immer sein. Uneinigkeit machte sich nur breit, wenn es ums Bier ging. Wie soll man unter über 200 Sorten Bier eine Wahl treffen? Ich bin kein Bierfreund und weiß nicht, was ich da auswählen soll. Cath hatte ihr Leffe oder auch Grimbergen. Damit kommt sie überall zum Zug. Hell oder dunkel, ein großer Schluck, und die Sache ist geritzt. Ich hingegen zauderte jedesmal, wenn ich die Karte studierte und entschied mich meist für „Kriek“, das Bier mit starkem Kirschgeschmack. Die Farbe gefiel mir: rosa bis pink. Eigenartig ist, dass Gin und Tonic, die feine englische Art, wie man vermuten möchte, fast nie erwähnt wird. Man bekommt es aber, und ich habe mir diesen Stilbruch erlaubt.
Das Wie dieser Reise war einfach. Der ICE brachte uns über Frankfurt, Köln, Lüttich nach Brüssel. Damit ich es nicht vergesse: zwischen Frankfurt und Köln fuhr der ICE zeitweise 298 Stundenkilometer, also noch schneller als der TGV Frankreichs, auf den alle so stolz sind.  In Brüssel angekommen, gab es eine Übernachtung im Hotel gegenüber Cathies ehemaliger Wohnung im Louisaviertel. Am Montag früh dann der Spaziergang ins Europaviertel, das uns bestens bekannt war, auch wenn sich dort inzwischen vieles verändert hat. Horden von jugendlichen Besichtigern wurden durch die Gänge der Betonklötze mit ihren Glasfassaden geschleust. Europa zum Beschnuppern. Junge, selbstbewusste Funktionäre wedelten in den Gängen herum, zielstrebig, wie Europa sich gerne gibt. Hier merkt man schon, warum die Flamen wütend sind. Brüssel sollte eigentlich zweisprachig sein. Pustekuchen. In einer mehrheitlich flämischen Region erscheint Französisch wie eine Leitsprache. Darüber ist die letzte Regierung zerbrochen. König und Königin scheinen dabei keine Rolle zu spielen. Die aus Spanien stammende königliche Gemahlin hat es in Jahren nicht geschafft, auch nur ein paar Worte auf Flämisch zu brabbeln. Das verbittert unsere Flamen. Das Beispiel Schweiz scheint nicht realistisch. Dort ist statistisch die deutsche Sprache vorn, aber ein aufgeweckter Schweizer möchte neben Englisch als Fremdsprache auch Französisch oder Italienisch beherrschen, oder verstehen. Einen Sprachenkrieg hat es im Alpenland meines Wissens so noch nicht gegeben. 
Ein Zug brachte uns am Nachmittag nach Gent. Wir wussten, dass wir am Ende der Reise nochmals in Brüssel sein würden und hatten deshalb nur ein vorläufiges  Besuchsprogramm durchgeführt. Wir saßen im oberen Teil eines Doppeldeckerzuges, der die Reise zu einem angenehmen Spaziergang werden ließ. Ein Taxi brachte uns über verschlungene Pfade ins Hotel Gravensteen. Dort trafen wir auch Cathies Kontaktleute für den Vortrag am nächsten Tag. Sie nahmen uns mit zu einem Motorboot („de bootjes van Gent“), wo etwa 10 Personen Platz fanden, denen der Reiz der Kanäle in historischen Erläuterungen nahegebracht wurde. Wunderschöne Giebelhäuser, alle mit einer eigenen Geschichte versehen. Der normale Fußgänger hat dazu kaum Zugang. Vom Wasser aus betrachtet: grandios. Dann, ein erstes Abendessen, Dozenten und ein paar Studenten. Alles auf Englisch, obwohl ein Wallone und ein Franzose dabei waren. Die Professorin aus Jyväskylä (Finnland) mit dem Familiennamen einer finnischen Stadt, Tampere, stammte aus Estland. Ich saß in einer ihrer Vorlesungen. Kluges Mädchen. Etwas übergewichtig. Natürlich kannte sie den ehemaligen estnischen Außenminister Siim Kallas, der jetzt Kommissar für Verkehrsfragen der EU in Brüssel ist und mit dem ich mal die kaukasischen Länder bereist habe. So klein ist die Welt. 
Den Beginenhof besichtigte ich alleine, auch das Stadtschloss, eine riesige Burgruine, das ehemalige Grafenschloss Gravensteen. Kinder in Massen wanderten geordnet und von Lehrern zur Ruhe verdonnert durch die Säle, immer auf der Suche nach ritterlichen Überresten und voll Begeisterung die ewigen Wendeltreppen rauf und runter jagend. Der vergreiste Wolfgang (das bin ich) japste ganz gehörig und verfluchte im Stillen wieder einmal, dass er nicht  in einem Café saß und Zeitung las. Es war an jenem Vormittag noch Zeit, im Oud Begijnhof, einer sehr alten und gut erhaltenen Siedlung herumzuschlendern. Die Beginenhöfe, bestehend aus kleinen Häuschen für Jungfrauen und Witwen, im Mittelalter in den Niederlanden entstanden, waren klosterähnliche Gemeinschaften, die viel Geborgenheit und Solidarität versprachen. Sie verbreiteten sich auch in Deutschland und Frankreich. 
Gegessen wurde mit Cath, die ihren Vortrag beendet hatte, in einem irischen Pub. Na ja, aber äußerst herzlich. Obwohl man auch in Gent alles auf Englisch erledigen kann, machte ich mich daran, mir die Sprache der Flamen näher anzuschauen. Instruktionen an der Zimmertür im Hotel: Wat te doen bij brand? Blijf kalm, vermied paniek, breek het glas van een meldknop (schlagen Sie die Scheibe eines Feuermelders ein). Ist das nicht süß? Oder: nutte informatie. Nein, es hat nichts mit Prostitution zu tun, eher mit nützlichen Hinweisen. Oder: Comfortabel wonen krijgt een naam: ESTIA, is gespecialiseerd in verhuur (hat nichts mit Huren zu tun) en beheer van nieuwbouwappartementen en studio’s op diverse locaties in Gent en omgeving. DAS ÜBERSETZE ICH NICHT. „Kiss and Ride“ ist wahrscheinlich Englisch, fordert jedoch den Radfahrer auf, den Radweg zu benutzen. Dass dabei küssen nicht verboten ist, halte ich für selbstverständlich.
In Gent gibt es auch Berge: den Blandijnberg, den Sint-Amandsberg und den Ledeberg. Man kann sich den Stolz der Genter kaum verstellen, solche Berge ihr eigen zu nennen, obwohl die Höhe aller drei Berge zusammengenommen die Zehnmetermarke kaum übersteigen dürfte. Gesehen habe ich diese „Berge“ nur auf dem Stadtplan. Dass wir auch das berühmte Lamm Gottes (Lam Gods) von Van Eyck in der Sint-Baafskathedraal besichtigt haben, hängt überwiegend damit zusammen, dass ich einen Seniorenrabatt auf ein ohnehin schon preiswertes Eintrittsbillett erhielt. Auf Deutsch: Dom Sankt Bavo. Wir haben ihn  besichtigt, und auch die vielen Werke von P.P. Rubens angeschaut, dessen Haus in Antwerpen wir einige Tage später besichtigt haben, sowie die meisten der 41 Sehenswürdigkeiten des Doms. Auch die Königin von Saba zu Gast bei Salomo, mit den Gesichtszügen Philipps II. (1559), ist uns über den Weg gelaufen. Die wurde aber nicht von Rubens, sondern von einem L. de Heere gemalt. Sichtbar weniger korpulent als die von Rubens oft bemalte weibliche Leibesfülle. Um die Kapelle der Unbefleckten Empfängnis Mariä machten wir dann wegen Erschöpfung einen Bogen, denn der Dom ist ein Fass ohne Boden. Man könnte dort Tage verweilen und von einer Seitenkapelle in die andere stolpern. Wenn die Kanäle nicht durch Schleusen vom offenen Meer getrennt wären, hätte so manche Sturmflut die Stadt schon im Mittelalter überschwemmt. So blieb sie weitgehend in ihrer Schönheit erhalten. Nur die Straßenbauarbeiten, offenbar eine endlose Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder eine Bürokratenkrankheit(?), machen das Herumwandern beschwerlich. Einige fragwürdige Hochhäuser, die zwischen den Giebelhäusern wie Elefanten im Porzellanladen herumstehen, verhinderten bisher die Erhebung der Stadt in den Rang eines Unesco-Welt-Kulturerbes. Man kann nicht alles haben. Wir sagen adieu und fahren mit der Bahn nach Antwerpen, der heimlichen Hauptstadt Belgiens. Die Fahrkarte sieht dann so aus: Gent-Sint-Pieters Zone Antwerpen, Tarief Senior 65 jaar en ouder, HEEN EN TERUG, obwohl man nur eine Hinfahrt verlangt und bezahlt hat. Juli en augustus: niet geldig op zaterdag en zondag. Ist das nicht rührend? Dit biljet is geldig tussen 2 Belgische stations in treinen van de binnenlandse dienst vermeld in het officiele spoorboek je. Was man im Falle eines Brandes im Zug zu tun hat, geht mutatis mutantis aus den Hotelanweisungen hervor (breek het glas van een meldknop en blijf kalm).
Antwerpen
Schon die Umfahrung der Stadt auf den mehrspurigen Autobahnen ist eine Herausforderung. Von der Stadt selbst sieht man da nichts. Im Dezember 2009 mussten wir dies tun, um unter Schneegestöber und im Schritttempo gegen Abend in Seebrügge doch noch die Fähre nach Hull in Nordengland zu erreichen. Schweißausbrüche sind mir im Gedächtnis geblieben. Wie wundervoll ist es da, in einem der schönsten Bahnhöfe Europas anzukommen. Im übrigen ist Antwerpen viel schöner als Remscheid-Küppelstein. Eine Perle von einer Weltstadt. Die Einwohnerzahl muss ja nicht immer in die Millionen gehen.  Wenn man bedenkt, dass über 90% aller Belgier in Städten wohnen, dann kann man vermuten, dass etwa ein Zehntel der Belgier in der alten Hansestadt Antwerpen wohnen, glücklich wie es scheint, denn die Menschen auf den Straßen machen einen gelassenen, ja, zufriedenen Eindruck. Natürlich sieht man auch viele Obdachlose in der Stadt mit Europas größtem Exporthafen. Und Massen von Fietsen, die man auch leihen kann. Etwa beim Fiets-Dokter, der auch repariert. Nur, die eigentlich schön mittelalterlichen Pflasterwege verursachen dem Radfahrer ein permanentes Hoppeln. Der Transport von Kindern und Einkaufsgut wird da leicht zur Schleuderpartie. Ich, als überzeugter Fußgänger gehe meist zu Fuß. Cath, mit ihren Stöckelschuhen, jammert dann schon mal über die Unebenheiten des Pflasters, trägt aber alles mit Würde. Wir sind in einem Hotel gebucht, das in einem alten Klosterhof liegt. Zwei menschengroße, spukige Gestalten stehen marmorn im Park: die Gewänder hüllen gekrümmte Körper ein, die nichts anderes als ein dunkles Nichts sind. Wie menschliche Höhlen stehen sie da und erinnern an Tod und Vergänglichkeit. Dennoch ist das Frühstück im Hotel Residenz Elseveld angenehm und reichlich. Wir verbringen da zwei Nächte. Tagsüber sind wir „en vadrouille“.
Antwerpen-Centraal, der Hauptbahnhof, ist der viertgrößte der Welt. Dag en nacht open, ook voor niet-treinreizigers. Die Kuppel ist immerhin 75 Meter hoch. Dass Antwerpen die Stadt der Diamantenschleiferei ist, weiß man, dass aber allein im Bahnhof 38 Läden Diamantenprodukte anbieten, ist erstaunlich. Es ist zu vermuten, dass Reisende (treinreizigers, wie wir wissen) kurz bevor sie auf den Zug springen, noch Klunker im Werte von einigen Tausend Euro erwerben. Somit können bis zu 38 Käufer gleichzeitig abgefertigt werden. Wenn sie darüber vergessen haben, einen Fahrschein zu lösen, kann dies im Zug nachgeholt werden. 
Wir kommen jetzt zur Kathedrale (O.-L-. Vrouwekathedraal): ein Prunkstück brabantischer Gotik, das in seiner Existenz mehrmals bedroht war: im      10. Jahrhundert gab es da schon eine kleine Marienkapelle, die dann im 12. Jahrhundert zur romanischen Kirche ausgebaut wurde. Zwischen 1350 und 1520 wurde daraus eine gotische Kirche, die größte der damaligen Niederlande. Allmählich kamen zu dem Mittelschiff noch 6 Seitenschiffe, das Ganze also ein siebenschiffiges Langhaus. 1559 wurde daraus eine Kathedrale, nachdem sie 1533 durch einen Brand heimgesucht aber nicht zerstört worden war. Die Bilderstürme von 1566 und 1581 führten auch am Dom zu Plünderungen und Beschädigungen. Dann kam die Französische Revolution. Franzosen beschlagnahmten 1794 halb Antwerpen. Auch Unsere Liebe Vrouw musste darunter leiden. Ab dem 16. Jht. wurde der Innenraum barockisiert. Das gefiel der Lieben Vrouw ganz sicher, doch später wurde wieder viel verändert. Was geblieben ist, ist der grandiose Eindruck, den diese Kathedrale heute noch macht. 
Kommen wir zu Rubens, Antwerpens berühmtestem Maler. Vier Gemälde hat er hier hinterlassen, darunter die Auferstehung von Christus, bestimmt für das Grab anderer berühmter Antwerpener: Jan Moretus und Martina Plantin. Das Plantinmuseum mussten wir natürlich auch besuchen. Aber zuerst schließen wir die Kathedrale ab: Bemerkenswert ist da fast alles. Die zahlreichen Malschichten an den gotischen Säulen. Wo hat man das schon gesehen? Jahrhunderte der Restaurierung und Bemalung einer Riesenkathedrale, sichtbar geblieben in Farbresten und Schichten. Andererseits die Beichtstühle: Eiche, also haltbar, Höhe der 9 Beichtstühle: 3,46 m, Breite: immerhin 7,80 m, auch für korpulente Sünder geeignet, Tiefe: 1,20 m, für den die Beichte abnehmenden Padre nicht gerade komfortabel. Die dort abgebildeten 12 Apostel befinden sich in Begleitung von 12 weiblichen Gestalten (wo gibt’s denn so etwas?) sollen den Bekehrungsprozess versinnbildlichen, ausgehend von (ich zitiere): „Reue, über Beichte, bis hin zur Seelenruhe“. Über so viel praktische Hilfestellung kann man sich nur freuen. Pfarrer Wilfried Verhaert sorgt sich dabei um ganz andere Dinge. Der Unterhalt der Kirche kostet nämlich 1,5 Millionen Euro im Jahr. Die Provinz Antwerpen und die Region Flandern, die selbst gerne zuschießen, brauchen das Geld. Also, bitte, den Besuch der O.-L.-Vrouwekathedraal nicht verpassen, wenn Ihr mal nach Antwerpen kommt. Der Eintritt ist erschwinglich, vor allem für Senioren.
Wir gehen weiter: das Peter Paul Rubensmuseum wartet. Hätten die Amerikaner das gebaut, wäre eine Art Pentagon entstanden, das gleichzeitig mehrere Tausend Besucher aufnehmen könnte. Und eine Cafeteria neben der anderen, sowie zahllose Toiletten. So aber müssen die zahlreichen Besucher aus aller Welt mit dem zwar üppigen Wohnhaus P.P.Rubens‘ vorlieb nehmen, aber dafür laufen einem pausenlos Neugierige über den Weg und versperren diesen. Cath schaffte es zweimal, sich an einer geführten Gruppe impertinent vorbeizuschieben, sodass wir endlich wieder atmen konnten. Als dann die Essenszeit gekommen war, hatten sich bereits die ersten Franzosen und Japaner verzogen, und es wurde etwas weniger sperrig. Rubens: man sagt so süffisant, er sei der Maler der Dickleibigkeit. Ich finde, er hat nicht einmal übertrieben und, überall wo es möglich war, die Proportionen gewahrt. Auch ich fühle mich manchmal beleibt. Da darf man schon seinen eigenen Künstler haben. Rubens ist wirklich einer. Ein ganz großer. Natürlich haben wir ein Rubensbuch gekauft. Das ist man dem berühmtesten Maler seiner Zeit schuldig. Der ist übrigens in Deutschland geboren, weil seine Eltern aus religiösen Gründen nach Siegen ausgewandert waren. Im Buch steht alles drin. Deshalb will ich hier nicht weiter herumrubensen. Man muss auch mal hingehen und sich alles anschauen. Aber in der Alten Pinakothek in München werden auch Rubense ausgestellt. Und, könnte es sein, dass die Bundesbahn einen Intercity nach Rubens benannt hat? Ich bin zu faul, das nachzuschauen. Das Gedächtnis kann manchmal lustige Streiche spielen. Sollte ich mich getäuscht haben, schlage ich offiziell vor, den dicksten Intercity mit dem beleibtesten Zugführer Rubens zu nennen. Nur auf diese Weise können wir zuweilen zu unserer europäischen Vergangenheit aufschließen.
Ein sehr altes Chinaviertel gibt es in Antwerpen auch. Und ein Judenviertel: Jeruzalemstraat, Jodenstraat, Israelitenstraat, Meirbrug etc. Dass die Antwerpener keine Lust hatten, den großen deutschen Nachbarn in ihren Straßennamen zu verewigen, wer kann sich das wohl denken? Tausendjährigen Dank, Herr Hitler! 
Das Plantin-Moretus-Museum, ein Patrizierhaus aus dem Mittelalter, beherbergt die weltälteste Druckerei mit fast industriellem Anspruch. Mal abgesehen von den herrlichen alten Druckwerken, die unter Glas zu bestaunen sind, es ist ein anschaulicher Spaziergang durch die Druckerkunst der Renaissance und des Barock. Vom 15. Bis zum 18. Jahrhundert ist die Entwicklung des Buches dokumentiert. Unesco hat dafür nur eine Bezeichnung: Weltkulturerbe. Im übrigen liegt das Museum am Vrijdagmarkt, einem der schönsten Plätze Antwerpens. 
Eigentlich heißt Antwerpen „Hantwerpen“. Das „H“ ging verloren, die Geschichte bleibt in lebhafter Erinnerung: in grauen Vorzeiten herrschte ein Riese über die Biegung des Scheldeflusses. Antigoon verlangte von jedem Schiffsführer einen heftigen Zoll. Wer nicht zahlen wollte, dessen Hand wurde ganz einfach abgeschlagen und in den Fluss geworfen. Hant werpen. Ein römischer Soldat machte dem Spuk ein Ende indem er den Riesen erschlug. So weit die Legende. Ein Denkmal ist dieser Tat natürlich auch gesetzt worden. Kleine Mädchen lassen sich von ihren Müttern gerne in der riesigen steinernen Hand fotografieren. Andere Erklärungen deuten auf eine frühe Siedlung an der Scheldemündung hin, deren Namen „Aanwerp“ gewesen sein soll. Wie dem auch sei: Antwerpen ist weit mehr als nur ein unwesentlicher Punkt auf der Landkarte. Auch der Sitz meiner Krankenversicherung, die bis jetzt auch die teuersten Medikamente und Behandlungen klaglos erstattet hat. Ein Denkmal dieser Versicherung habe ich allerdings nicht finden können. Wir verlassen die Stadt, in der wir so vieles nicht sehen konnten, und fahren mit der Bahn nach Brüssel. 
Brüssel
Immer wenn ich per Bahn an Bruchsal vorbeikomme, muss ich an Brüssel denken. Ein Bruchsal könnte ein Rinnsal mit Gehölz sein, oder, wie es im Lexikon heißt, Sumpfland, also ein Bruchsal. Die Einwohner dieser kleinen badischen Stadt mit hübschem Barockschloss (Cath, sprich das aus: „ein hübsches Schloss“. Als Britin tut sie sich da schwer. Mir gefällt es, wie sie ringt) nennen Bruchsal „Bruhsel“. Da ist der Sprung zum Brüssel der Belgier sprachlich nur ein Hüpfer. Diese Hauptstadt und Europastadt muss in mehrere Teile aufgeteilt werden: das liebevoll bestaunte Altbrüssel, mit dem Großen Platz, dem Meneken Pis, den herrlich plazierten Schokoladegeschäften, dem über allem thronenden Justizpalast, der eine Grundvorstellung von Recht und Gerechtigkeit vermitteln soll, in Wirklichkeit aber eine architektonische Unverschämtheit ist, die dem Bürger des 19. Jahrhunderts schon klar machte, dass er ein kleines Würstchen ist. Das Europaviertel, eine in Beton gegossene Wüste. Unmenschlich und fantasielos. Kein großer Wurf, aber auch nicht die ganz kleinen Brötchen. Brüssel, das sich müht und abrackert, eine europäische Hauptstadt zu sein und gleichzeitig die seltsam frankophone belgische Hauptstadt mit einer überwiegend flämischen Bevölkerung. Das soll einer verstehen. Ach ja, in den vielen Kneipen und Gasthäusern, mit den vielen Essern aus der ganzen Welt, ist es  egal, welche Sprache man spricht. Man ist was man isst.
Hauptstadt deshalb, weil sich dort neben dem Atomium, das 100 Meter hoch und völlig überflüssig ist, auch das Nationaltheater, die Nationaloper und das Nationalmuseum befinden. Am wohlsten fühlt man sich in Europas ältester glasüberdachter Galerie, eine frühe Antwort auf den immer wieder vom Meer her nieselnden Regen. Dort machten Cath und ich halt, auf dem Wege zu einem Restaurant. Noch war jedoch Zeit für den Aperitif. Ein Champagnerhändler mit kleinen Tischchen vor seinem Laden, lud zu einer nicht ganz billigen Verkostierung edler Tropfen ein. Schnell war es klar: wir waren die willigen Werkzeuge eine geschickten Geschäftsmannes, der sein Handwerk verstand. Eine Flasche Taittinger verließ den Ladentisch und labte uns am 1. Mai. Hätten wir das etwa nicht feiern sollen? Es war traumhaft: ich und mein Mädel und Champagner. So etwas kommt nicht oft vor. Das anschließende Essen ganz in der Nähe würde von einem Japaner serviert, der uns einen Muscat zu meinen Austern anbot, der unter aller Sau war. Austern im Mai beginnen schwanger zu werden. Eine milchige Masse legt sich auf den wohlschmeckenden Schleim des Schalentieres, verdirbt durch ihre Bitterstoffe den Genuss. Austern, in den Monaten Mai bis Ende August, sollten nicht gegessen werden. Da von sechs Austern nur eine „etwas“ schwanger war, hielt sich der Schaden in Grenzen. Die sauren Nieren waren echt gut. Cath freute sich über Lamm. Der Rotwein kam auch aus Frankreich und konnte uns mit dem Muscadet einigermaßen versöhnen. Unsere Tischnachbarn, eine unternehmungslustige Frau aus Brüssel und ein älterer Herr aus Bristol sprachen wie wir, ein Kauderwelsch aus Englisch, Französisch, wobei bei uns noch Deutsch hinzu kam. Sie kamen aus dem Lot-et-Garonne, wo der Wein für Franzosen kein Thema ist, für Ausländer jedoch allemal. Wir lästerten und waren uns einig, dass die Grande Nation ihren Ruf als führendes Weinland längst verspielt hat. Wenn gut, dann unsäglich teuer. Wie schön ist es da in der Ortenau, wo herrliche Tropfen, egal ob weiß, rot oder rosafarben, sich die Klinke in die Hand geben und dazu noch preiswert sind. Bescheidenheit der badischen Weinbauern ist gerade mal einer der symbadischen Charakterzüge dieser Weinkönner, bei denen der Anbau ebenfalls aus der Römerzeit stammt. Andere Weinbaugebiete stehen da nicht in Konkurrenz. Jeder müht sich redlich. Das Ergebnis lässt trinkende Herzen meist höher schlagen.
Es wurde auch ein Besuch im Tintinmuseum gemacht, das Museum für den Zeichentrick, der in Belgien große Tradition hat. Ein Paradies für Kinder und die es werden wollen. Eigenartigerweise finden sich dort keine Hinweise auf den ältesten Comic-Autor überhaupt, Wilhelm Busch. Das wurde wohl im Zuge der nationalen Identitätsfindung übersehen. Andererseits konnte man in diesem wundervollen Museum nicht alles nachlesen, sonst wäre man da nicht mehr herausgekommen. Verzweifelt habe ich gerade noch versucht, den korrekten Namen und die Adresse des Museums in einem Katalog der Brüsseler Ereignisse der Woche aufzuspüren. Vergebens. Mit geschlossenen Augen würde ich das Museum finden, aber der Name ist mir nicht mehr geläufig.
Das Hotel Metropole habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Normalerweise genügt es, in einem Hotel abzusteigen, das nicht als Bordell verschrien und mit sauberer Bettwäsche in ruhigen Zimmern gesegnet ist. Die Preise im Metropole standen nicht an der Tür. Wo habe ich bloß meine Unterlagen? Ich muss improvisieren. Keine Spuren mehr vorhanden, und die Rechnung hat Cath bezahlt. Eigentlich, so erfuhren wir, kostete das Fünfsternehotel der Luxusklasse   etwa 1200 Euro pro Nacht und Doppelzimmer. Drei Nächte waren gebucht. Das Frühstück war im Preis nicht enthalten. Wenn man mit einer internetversierten Frau wie Cathie reist, kann man auf mildernde Umstände hoffen, was die Preise betrifft. Cath hat einen Deal gemacht, der den Aufenthalt nicht teurer werden ließ, als jede beliebige Übernachtung in jedem beliebigen Hotel zwischen Aurich und Ampfing. Etwas schäbig war die Ankündigung von sechs Getränken, die kostenlos im Kühlschrank unserer Suite auf uns warten sollten. Bei Durchsicht der Kühlanlage stellte sich heraus, dass das sogar stimmte, der Rest war jedoch ausgeräumt. Außer 2 Fläschchen Bier, 2 Fläschchen Mineralwasser und 2 Fläschchen Cocakola (ich weiß nicht wie man das buchstabiert und will es nicht wissen) war also nichts im Kühlschrank. Das Ganze, die Suite, das Bad, der Fahrstuhl, angenehm bombastisch. Verzweifelt müssen die Manager versucht haben, über Internet für das Ferienwochenende um den ersten Mai, fern jeder Europaaktivitäten und anderer Geschäftstermine, das respektable Haus zu füllen. Wohl deshalb hat uns auch bei der Ankunft ein livrierter Hoteldiener im vorgerückten Alter gekonnt die winzigen Gepäckstücke aus der Hand gerissen und für 2 Euro in die Suite transportiert. Darüber hinaus war das Wochenende im Metropole ein schönes Erlebnis, das für uns Brüssel erst recht zu einer interessanten Stadt werden ließ. Das Hotel war 1890 als „Le Jardin d’hiver“ eröffnet  und zehn Jahre später im Art Nouveau Stil mit viel Stuck dekoriert worden. !970 wurden die Böden mit Marmor belegt und erst 1985 eine Bar mit Namen „Le 19ème“ im aristokratischen Stil geschmückt und eröffnet. Ach, in 2004, entdeckte man an der Decke dieser Bar die übermalten Fresken im Art-Deco-Stil und restaurierte sie. Das Metrople ist heute ein sehenswertes, nicht wirklich heruntergekommenes Brüsseler Denkmal, das auch Proletarier ein bisschen genießen können, wenn sie für einen Drink 15 Euro ausgeben wollen. 
Gut, der Charme der exotischen Hauptstadt haftet eher Städten wie Rom, Madrid oder Paris an. Ganz zu schweigen von Bombay, Sankt Petersburg oder Hongkong. Brüssel ist als Stadt eine Art Mauerblümchen. Aber Vorsicht! Mauerblümchen müssen nur zum richtigen Zeitpunkt entdeckt und geküsst werden. Was in ihnen steckt, erfährt man erst, wenn man dort angekommen ist. Wir haben Brüssel einfach in den Katalog der reizvollen Aufenthaltsorte aufgenommen. 
Wie es mit der Politik aussieht, bleibt hingegen ein Rätsel. Eine Regierung hat Belgien noch nicht. Am Sprachenstreit ist die letzte zerbrochen. Jetzt wird ein neuer Anlauf genommen. Die gescheiterten Protagonisten werden langsam ausgetauscht und machen neuen Talenten Platz. Diese wollen die Teilung des Landes eigentlich nicht. „Abwarten und Tee trinken“ ist in der Politik eine weitverbreitete Unsitte. Wenn etwas Gutes dabei herauskommt, wollen wir Beobachter uns fügen. Die Belgier scheinen sehr geduldig zu sein. Sie lieben ihr Land und scheinen sich ein wenig für das dort zur Zeit herrschende Chaos zu schämen. Im Juni 2010 sind Wahlen geplant. Dann wird man weitersehen. Wird die Vorsitzende der CD&V Partei, Marianne Thyssen, als Nachfolgerin des Ex-Premiers Yves Leterme das Rennen machen? Überall in der Welt könnte man darauf Wetten abschließen. In Belgien ist so etwas nicht voraussehbar. Qui vivra verra.
Die Rückreise mit der Bahn über Lüttich, Aachen, Köln und Frankfurt gestaltete sich etwas langweilig, bis dann vor Frankfurt die rot leuchtende Schrift im Wagen wieder die Höchstgeschwindigkeit von 298 km anzeigte. Stolz musste ich an die französischen TGVs denken, die im Vergleich dazu heute wie lahme Schnecken durch die Landschaft schleichen. In Mannheim mussten wir umsteigen. Eigentlich wäre Zeit gewesen, im Bahnhof eine jener Mannheimer Brezeln zu kaufen, die ich so liebe. Cath bat mich inständig, dies nicht zu tun. Bald waren wir wieder zu Hause.
                                                                                                                                      

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen