Samstag, 16. Oktober 2010

Die badische Dampfnudel – total verkannt

Ich weiß, es mag langweilig klingen, eine Mutter schon deshalb anzuhimmeln, weil sie badische Dampfnudeln machen konnte. Sie konnte diese zu einem genießerischen Höhepunkt für die ganze Familie werden lassen. Die zeitlichen Abstände für den Tag der Dampfnudel waren immer gleich. Alle vier Wochen, an einem Freitag, war es soweit. Später, wenn ich gelegentlich für ein kurzes Wochenende meine betagten Eltern besuchte, meist mit Frau und Kindern, mußte ich meine Mutter einige Tage vorher warnen. „Machst du uns Mampfnudeln?“ Du weißt, die Kinder lieben sie so.“ Mutter wusste Bescheid. Dann wurde nicht mehr darüber gesprochen, bis Oma begann, die gußeiserne Gänsepfanne zu suchen. 





Warum Mutter die Pfanne immer so unauffindbar verstecken mußte. Wenn die Entscheidung getroffen war, kramte sie in den Schränken der Küche bis sie dieses schwarze Ungeheuer zutage förderte. Innen blau emailiert, konnte man da eine mächtige Gans unterbringen, was meist zu Weihnachten geschah. Der Entschluß, Dampfnudeln zu machen, glich einem Gerichtsurteil, das für die Beteiligten weitreichende Folgen zu haben schien. Es gab Zeiten, da war es schwierig, Weißmehl aufzutreiben, während die notwendige Hefe immer beschafft werden konnte. Auch die Nachkriegszeit hatte in der badischen Küche große Defizite hinterlassen, die nur allmählich wieder gelindert werden konnten. Schon der Anblick einer vollen Weißmehltüte versprach uns Kindern ungeheure Wonnen. Die Vorfreude auf ein gutes Essen konnte nicht übertroffen werden. Väter, die man sich gerne als fleischfressende Familienoberhäupter vorstellte, legten Züge freundlicher Neutralität an, wenn der Tag der Dampfnudel angebrochen war. Erinnerungen an die eigene Kindheit mag dieses Wohlwollen verursacht haben. Das alltägliche Schaffen in der Küche änderte sich an diesem Tag zunächst nicht. Alles schien ruhig und gelassen, eigentlich, bis alle Zutaten sichtbar versammelt waren und der Teig angesetzt wurde. Ein Pfund blütenweißes Mehl, 20 Gramm Hefe, ein Viertel Liter Milch, ca. 80 Gramm Butter, Zucker und Salz. Dann begann es nach Hefeteig zu riechen, ein Feiertagsgeruch, feucht und unfertig. Schnell erhielten die Dampfnudeln unter Mutters geschickten Händen  die Rundungen eines kleinen Busens. Sie wurden auf ein mit Mehl bestäubtes Brett gelegt und in die Nähe des Herdes gestellt, damit sie kräftig aufgingen. Dabei durfte kein Lufthauch das Erblühen der Köstlichkeiten zunichte machen. Deshalb verschwanden sie unter einem dünnen weißen Tuch, und nur Köstlichkeiten verdienten es, auf diese umsichtige Weise zubereitet zu werden.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon Mühe mit dem Schlucken. Im Munde lief das Wasser zusammen, denn mein Gaumen hatte sich schon auf den kommenden Genuß eingestellt. Mein ganzes vordampfnudliges Dasein wurde dadurch geprägt. Ich war nicht mehr aus der Küche zu locken. An meinen Fingern klebte Mehl, hingen kleine Teigfetzen herunter. Ich mußte dabei sein, wenn diese Werke entstanden. Ein Wunder der Kochkunst, so schien es mir, dessen Ursprung im mittelalterlichen Dunkel des Schwarzwaldes liegen soll. Die Dampfnudel, das unbekannte Wesen. Gerne gleichgesetzt mit der Ofennudel, die, aus verwandtem Teig entstanden,  allerdings gebacken wird. Jede Ähnlichkeit mit der badischen Dampfnudel verbietet sich schon deshalb, weil dazu, und das zu späterer Kaffeestunde, Kakao getrunken wird. Kinder, die noch an den Klapperstorch glaubten, aßen gerne Ofennudeln. Dampfnudeln hingegen kündigten ihre Garung durch lärmendes Brutzeln an. Ein königliches Geräusch. Jede Phase, auch die des geheimnisvollen Werdens in der verschlossenen Pfanne, sollte unter meinen Blicken stattfinden. Das Wohlwollen meiner Mutter war mir dabei sicher. Meine Schwester war noch zu klein, um an solchem Kunstwerk leidenschaftlichen Anteil zu nehmen. Vor allem bewegte mich die Frage, wie viele tellergroße Dampfnudeln es diesmal geben würde, denn die Zahl konnte erheblich schwanken. In die Gänsepfanne, die eigentlich ein ovaler Topf war, paßten jeweils nur vier runde Teignudeln, die im  Fertigzustand ihren Umfang glatt verdreifacht  hatten.  Die Zahl der zum Aufgehen bereitgelegten Dampfnudeln war leicht abzuschätzen. Gewöhnlich wurden sie auf ein riesiges Brett gelegt, das mit Mehl bestreut war. Ihre geometrische Anordnung machte das Zählen leicht. Zwei, vier, sechs, acht, zehn. Schon wieder zu wenige, dachte ich verzweifelt. . Der Sicherheitsabstand zwischen den einzelnen Nudeln war beträchtlich. Sie durften sich beim Aufgehen nicht einmal berühren. Nur das unbegrenzte Vertrauen in Mutters Kochkunst ließ hoffen, daß wir alle satt würden. „Die Augen sind größer als der Magen“, pflegte sie zu scherzen. Schließlich wußte sie um die stolze Größe ihrer Dampfnudeln. Eine einzige konnte einen Teller so bedecken, daß kein Platz für die Beilage war. Und diese gehörte zur Dampfnudel wie das Rad zum Wagen.
Mutter nutzte nämlich die Zeit des Aufgehens, um andere Köstlichkeiten vorzubereiten, die mit den Dampfnudeln gegessen wurden. Eine für die Kinder, die andere für die Erwachsenen. Dörrobst in der eigenen  Brühe und die Weinsoße, die Vater immer so fröhlich machte. Das Dörrobst bestand aus Birnen, Äpfeln und Pflaumen, die überreif auf Blechen getrocknet und in weißen Leinensäcken aufbewahrt wurden. Mutter legte das Obst einige Stunden vor dem Verzehr in Wasser ein und ließ es quellen. Dann wurde es in einem Topf mit Butter, Zucker und etwas Wasser  zur angemessenen Begleitspeise herangegart. Vater freute sich derweilen auf seine Weinsoße, von der wir Kinder immer einen Löffel voll abkriegten, die aber sonst nur den Erwachsenen vorbehalten war. Sobald diese Beilagen auf dem Weg waren, konnte das eigentliche Werk beginnen. Zuerst muß ich jedoch noch einer Tante gerecht werden, die als Elsäßerin etwas mit in die Küche des kinderlosen Onkels brachte, das man  „Dampfnüdle“ nannte. Vergeblich hatte Tante Sophie aus Molsheim versucht, ihren französisch-sprachigen Verwandten gegenüber das Zauberwort „Dampfnüdle“ in einen gängigen französischen Ausdruck zu verwandeln. Es ist ihr nicht gelungen. Allerdings schaffte sie es, anläßlich eines Besuches, den sie bei Verwandten in Paris machte, mit Hilfe ihrer „Dampfnüdle“ alles was unter zwanzig war zu verzaubern. Der kleine Francois rief, sobald Tante Sophie über die Türschwelle im 7. Arrondissement trat: „Vas-tu nous faire des Dampf-Dampf“? Wäre die Dampfnudel eine rein französische Spezialität gewesen, was sie keineswegs war, hätte man daran denken können, sie als „Boule magique“ oder so, um die Welt ziehen zu lassen, köstlich und preiswert. Und irgendwie in der gastronomischen Nähe von Schampus. Statt dessen, müssen wir uns mit einem weltweiten Netz von Pizzerias und Döners herumschlagen, die immer teurer werden und denen jede Magie abgeht. Eine badische Dampfnudelbar (selbstverständlich mit drei verschiedenen Weinsoßen im Angebot) würde sicher auch bei unseren Alkohol fürchtenden muslimischen Mitbürgern wie eine Bombe einschlagen und zum heimlichen Renner werden. Etwa siebzig Jungfrauen im Paradies würden Lobeshymnen anstimmen und den Propheten preisen. Eines ist allerdings sicher: die Dampfnudel ist eine badische, und keineswegs eine elsäßische, oder gar französische Spezialität. Nach Klärung dieses Sachverhaltes können wir den endgültigen Werdeprozeß der badischen Dampfnudel bis zum totalen Aufessen derselben verfolgen. Reste von Dampfnudeln auf Tellern: ich habe so etwas noch nie gesehen. 



Mattweiß, so könnte man die Farbe nennen, mit der die zu erotischer Rundung aufgegangene Dampfnudel in die mit Wasser und Fett, sowie etwas Salz, vorbereitete Pfanne bedächtig gelegt wird. Es handelt sich in Wirklichkeit um ein vorsichtiges Getragenwerden. Denn, es darf in diesem aufgequollenen Zustand der Dampfnudel kein Leid zugefügt werden. Mit Argusaugen verfolgte ich die Handbewegungen meiner Mutter. Es sah aus wie die Grablegung einer immer schon bettlägrigen Patientin. Die Hochachtung vor der Verblichenen machte den Schauder der Auferstehung, einige lange Minuten später, zum Triumph. Der Deckel der Pfanne hatte dicht auf derselben gelegen, kein Dampf konnte entweichen. Erst nachdem zischende Laute nach außen drangen, machte Mutter den Versuch, herauszufinden, ob die Dampfnudeln fertig zu sein geruhten. War dies der Fall, wurde mit einer kleinen Schaufel die erste gehoben und begutachtet. Sie war durch. Nun konnte es losgehen. Wir Kinder bekamen, wie bei einer schriftlich nicht vorliegenden Vereinbarung, die ersten Dampfnudeln auf den Teller gelegt. Steif und ungeduldig saßen wir vor der Pracht, auf den Startschuß wartend, um uns endlich darauf zu stürzen. Ein wichtiger Test mußte sofort gemacht werden. Würde der leicht bräunliche, etwas glitschige untere Rand der Dampfnudel die richtige Menge Salz enthalten? Würde die Unterkruste fest und nicht zu braun oder gar schwarz ausfallen? Der weiß gebliebene obere Teil, der sich so gut mit dem Dörrobst vermischen ließ, locker und leicht schmecken? Die Haut sich leicht ablösen lassen, wie das Abstreifen eines liebgewonnenen Kleidungsstückes? Diese Fragen waren schnell beantwortet. Mit der Zufriedenheit eines siegesgewissen Kämpfers warfen wir der Mutter einen dankbaren Blick zu, bevor wir uns ganz dem Verzehr des begehrten Objektes widmeten. Dabei war eine ungewöhnliche Stille eingetreten, die Vater durch leises Singen hin und wieder durchbrach. Nur wenn er genügend Weinsoße gegessen hatte, reizte es ihn, sein mangelndes musikalisches Talent zu übersehen, und klassische Weisen, wie „Dein ist mein ganzes Herz“ anzustimmen. Bei so viel familiärem Wohlbefinden wurde Mutter immer ganz still. Sie konnte es nicht fassen, welches Glück das bloße Herstellen von badischen Dampfnudeln bewirkt hatte. 

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