Es kam über mich wie eine persönliche Beleidigung. Es ist ein paar Jahre her: ich bestieg die Straßenbahn um auf die andere Donauseite zu kommen. In Wien ist die Tram Teil einer kompletten Infrastruktur, mit U-Bahn, Bussen und reichlich Taxiständen. Dafür wird die österreichische Hauptstadt weltweit gepriesen und Wien seit Jahren die Spitzenstellung für Infrastruktur und Lebensqualität zugewiesen. Was ich zugewiesen bekam, und zwar von einer attraktiven jungen Frau, war ihr Sitzplatz in der Straßenbahn. Bin ich so alt, schaue ich so gebrechlich aus, dass mir ein junges Wesen seinen Sitzplatz anbietet? Meine erste Reaktion war beleidigte Ablehnung. Dann nahm ich den Platz dankbar an, indem ich etwas süßsäuerlich behauptete, ich sei zwar schon über 90, sähe aber doch hoffentlich viel jünger aus. Wer älter wird, muss früher oder später mit solchen freundlichen Katastrophen rechnen.
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Die Achtung vor dem Alter, wie sie in Ländern mit etwas archaischer Lebensweise immer noch schön zu beobachten ist, wird dort den ganz Kleinen schon beigebracht. Mit Verwunderung sah ich einen der letzten, die sich dieses Vorrecht am falschen Ort sichern wollte. Wir saßen in einer Maschine der Turkish Airlines. Der Flug brachte uns vom nordzyprischen Ercat nach Istanbul. Der etwas bäuerlich wirkende Passagier, vielleicht zum erstenmal im Flugzeug, zündete sich eine Zigarette an. Rauchen verboten war damals schon überall in Flugzeugen die Regel. Die junge, feundliche Stewardess kam sofort und forderte den Mann auf, das Rauchen einzustellen. Der Mann beachtete das nicht. So ein junges Ding - und auch noch ein Mädchen - hatte kein Recht, ihm Vorschriften zu machen. Erst als der Kopilot kam und unmissverständlich seiner Autorität Geltung verschaffte, gab der Alte nach.
In Frankreich erlebte ich dann, dass eine Mutter in der Metro dem Töchterchen angesichts einer stehenden alten Dame sagte,
du musst nicht aufstehen, e
s ist dein Recht, sitzen zu bleiben. Als ich ihr als Erwachsener meinen Platz anbot, wurde das ohne jede Scham als selbstverständlich quittiert. Unterschiedliche Kulturen? Eher Unkultur, würde ich empfinden. Es scheint noch kleine Inselchen der Austehhöflichkeit zu geben. In Osteuropa, zum Beispiel. Aber auch in Großbritannien, wo wir leben (Yorkshire) habe ich es noch erlebt. Allerdings könnte es sich eher um nostalgische Erwachsene handeln, denn Kinder scheinen nicht mehr zu den Objekten dieser Erziehungspraxis zu gehören.
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Ist es die Achtung vor dem Alter, die Verehrung von betagten Menschen, die verloren gegangen sind? Ist es der um sich greifende Egoismus, der das bewirkt? Der allgemeine Materialismus? Wie schön ist die selbstlose Höflchkeit. Sie kostet nichts und macht immer Freude. Dabei ist das gute Beispiel wichtig. Damit wird der gebeutelten Gesellschaft mitgeteilt, dass es noch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit gibt. Was andere denken, ist doch herzlich egal.
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