Donnerstag, 23. Juni 2016

Sehnsucht, Trinksucht, Selbstsucht, Eifersucht, Sucht.

Sie sitzen im Zug, in der U-und Straßenbahn, auf der Parkbank oder zuhause und machen an einem kleinen Ding herum, das sie i-pod, i-pad oder Mobilfon nennen. Ihr Blick ist fixiert auf einen winzigen rechteckigen Bildschirm. Ihr Ansprechverhalten ist gleich null. Das Anfangsalter könnte bei zwei bis vier Jahren liegen. Sie scheinen weggetreten, unansprechbar, in einer anderen Welt hausend, von der sie etwas erwarten, das für sie per Auge, Ohr und Lippen nicht mehr  zugänglich ist. Ihre Sprache ist entsprechend einsilbig und gramatikalisch unvollständig.


Ich hänge irgendwie anders am Netz. In der Öffentlichkeit tippe ich nie irgendwelche Botschaften in das Gerät. Höchstens mal ein dringendes Telefongespräch nach dem Motto: halte Dich kurz! Bei mir sind es Facebook und Bloggs, die mich auf Trapp halten. Anstatt, wie man es vor hundert Jahren noch getan hätte, täglich einmal die Bibel aufzuschlagen, gehe ich morgens als Erstes an den Rechner, und schaue nach, wie mein Blog vom Vortag angekommen ist. Dann gehe ich auf Facebook. Das kann schon etwas dauern, bevor ich da loskomme. Ich verzeichne bei mir ein neues Suchtverhalten, das ich vorher nicht kannte.


Alkohol ist mir ein vertrauter Genosse. Ich liebe ihn in der Form eines Glases Wein. Mehr kann ich mir nicht leisten, weil ich Kopfschmerzen bekomme, wenn es zuviel wird. Bin ich süchtig? Nein. Zigaretten, die ich vor Jahren aufgab, machten mich abhängig. Bis ich das Rauchen wieder los wurde.  Diese Sucht ist sehr zögernd an mir vorüber gegangen. Schlimmer ist es nun, seit wir in England leben, mit Radio Classic FM. Schon frühmorgens: Computer an, Radio an, Classic FM an, denn ich brauche das. Süchtig? Aber, ja!

Diese Classic FM Leute gehen bei ihren Hörern brutal vor. Die gängigsten Musikhits werden unerbittlich und täglich eingespielt. Edward Elgar, der Nationalheld, mit seinem Pomp and Circumstance. Oder das von mir geliebte Warschauer Konzert von Addinsell, das manche schon erschöpft "bloody awful" nannten. Oder Prokofiev, Romeo und Julia. Ich bilde mir ein, solche Ohrwürmer mehrere Male täglich serviert zu bekommen. Dazu gehören natürlich auch Rimsky-Korsakov mit seiner Scheherazade und Igor Strawinsky und der Schwan. Ich höre es immer noch ganz gerne und frage mich, wo da meine Sucht liegen soll. La danse macabre?

Fresssucht, vielleicht, oder Sehnsucht? Ich kann immer noch stundenlang tagträumen. Dann tobe ich meine Sehnsucht voll aus. Vielleicht ist das ursprünglich sehr deutsch, denn ich habe außer dem sehr ungenauen Wort Nostalgie in keiner Sprache etwas Ähnliches gefunden. Dabei ist die Sehnsucht kaum zu umschreiben. Das englische "yearning" oder das "longing for" genügt nicht, um das Gefühl zu schildern. Die Musik oder auch die Malerei können da vielleicht einspringen, doch Sehnsucht bleibt Sehnsucht. Selbst Leonard Bernsteins Gesicht verklärte sich jedesmal, wenn er Gershwin oder Debussy dirigierte. Die Sehnsucht eines träumerischen Musikers.


Flieg, Vogel, flieg! 
Eifersucht kenne ich nicht. Doch die Brexitsucht hat mich immer noch voll im Griff. Bis Morgen früh. Dann ist endlich Schluss damit. Täglich hing ich am Radio oder am Rechner, um den neuesten Stand zu erfahren und mich in diese dämliche Kampagne über den Ausstieg oder Verbleib in der EU
einzumischen. Morgen werden wir erfahren, was der Brite an sich entschieden hat. Ich erwarte ein knappes Ergebnis FÜR DEN VERBLEIB. Immerhin etwas. Diese Brexitsucht bin ich dann für immer los.

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