Donnerstag, 11. September 2014

Welches Tabu brechen wir heute?

Sie trauen sich nicht so recht dran,  die Sensationsmacher. Man muss den Anstand wahren, die Leser zwar ein wenig schockieren aber nicht vergraulen. Ich kann mir so richtig vortsellen, was in den Redaktionskonferenzen so abgeht. Es fängt harmlos an. Das Foto mit dem Reh, das kopflos am Waldesrand gefunden wird. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass ein hungriger Fuchs der Wilderer war. Wir waren bereit, etwas anderes anzunehmen. Die Kuh, die scheinbar grundlos auf einer Weide eine alte Frau niedertrampelt. Dazwischen wird eine Dreijährige von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Ein Priester raubt eine Bank aus. Doch der Herr ist etwas verwirrt und möchte das Geld einem Waisenhaus zukommen lassen. Das Foto des hochschwangeren Mannes, der eine Frau war. Geschlechtsumwandlung.


Natürlich gibt es viel schlimmere Tabus, an die man sich allmählich herantraut. Einem blinden Bettler den Spendenbecher rauben? Ein Flugzeug mit 300 Passagieren abschießen? Einen Mithäftling im Gefängnis die eigenen Exkremente aufessen lassen? Einen Schwerverletzten auf der Straße verbluten lassen? Inzest mit schweren familiären Folgen? Das alles hat es schon gegeben. Es muss auch darüber berichtet werden. Doch wo ist die Grenze? Die Medien machen da nie Halt, wo der menschliche Geschmack ins Stocken gerät. Der Sex, das Sterben, das Kranksein, die Religionen, sie alle bergen Tabus, die noch nicht angerührt wurden. Vieles hat die schnelle und allgegenwärtige Fotografie zutage gefördert. Dann das Outen! Wir spitzen die Ohren. Oder: jetzt rede ich! Was kann da kommen? Zanzig Jahre Sexsklavin des eigenen Opas. Das Tabu ist schon gebrochen, aber wir kennen es noch nicht.

Eigentlich hat es alles schon gegeben. Aber, es entstehen immer neue Tabus. Das macht uns so heiß auf das Neue. U-Bahn zermalmt Baby. In der Schlagzeile werden die Tabus aufbereitet. Was dahinter stecken kann, interessiert oft nicht mehr, weil es gegen den Sensationshunger verstößt. Etwa so: das zermalmte Baby stellt sich als eine Atrappe heraus, die ein Geistesgestörter angefertigt hat. Der Fuchs war aus Versehen eingesperrt und kam vor Hunger selbst fast um. Der Schwerverletzte verblutet, weil, mitten in der Nacht, niemand mehr vorbei kam, um zu helfen. Wir lieben den Zweifel, das Unwissen, die Weglassung, weil unsere Fantasie es so will. Sigmund Freud, der Große, hat sich nicht nur häufig geirrt, was menschlich ist, er hat auch den Ödipuskomplex gezeigt, nicht erfunden. Die menschliche Neugier hat uns näher an die Tabus gebracht. Sie erkennen ist eine Sache, sie ans Licht zu zerren ist eine andere. Es ist gut, dass es noch welche gibt.

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