Donnerstag, 14. März 2013

Wiener G'schichten I

Etwa seit 2 Monaten sind wir in Wien. Alles ist neu: wir leben in einer Weltstadt, mitten im 1. Bezirk, das heißt direkt hinter dem Stephansdom. Der Stephansplatz liegt uns zu Füßen. Von unserem Erker, im 4. Stock der Blutgasse, blicken wir direkt in Richtung Graben, neben der Kärtner Straße das Herzstück Wiens. Vier weitere Fenster erlauben uns, das Mozarthaus in der Domgasse Nr. 5 zu betrachten, in dem Wolfgang Amadeus Figaros Hochzeit komponierte. Wir genießen das Gefühl, an einem echten Nabel der Welt angekommen zu sein. Wien, die historisch geschwängerte Metropole!


Der Graben ist eine Promenierstraße, eine Einkaufsattraktion, ein Sammelplatz für Touristen, eine Anhäufung von Kaffees. Wehe, man geht in ein Café und bestellt einen Kaffee. Sofort wird man als ortsunkundiger Kaffeebanause eingestuft. Es heißt: kleiner Brauner oder großer Brauner. Melange oder Einspänner. Das Unwort "Espresso" hört man nur in italienischen Einrichtungen. Nicht gerade ideal zum Erkunden der wiener Kaffeekultur. Um den Graben herum haben sich auch alle Weltmarken angesiedelt, die ihre teuren Waren an die Frau oder den Mann bringen wollen: Tiffany, Cartier, Vuitton, Salamander, Bally, Hermès, Gucci, Hilfiger, Burberry, Diesel und die speziell wienerischen Läden, die ebenfalls einen Klang haben: Sacher, Meinl, etc.

Pestsäule am Graben

Die Pestsäule steht in der Mitte des Grabens. Japaner und andere zücken bedenkenlos die Kameras um das barocke Getürme, teils vergoldet, teils durch Drahtverhau vor Taubenschiss geschützt, zu knipsen. Sie knipsen auch alles andere, wie überhaupt in Wien wahnsinnig viel fotografiert wird. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass Wien etwas Sinnliches hat. Viele eindrucksvolle Fassaden werden, wie zum Beweis, von nackten und halbnackten Frauen und Männern üppig gestützt. Wien zeigt hier die Schokoladenseite. Die engen Gassen hingegen führen in ein oft unbekanntes Wien, das aber nicht weniger interessant ist.





Der Schuh an sich




Imielda Marcos, die ewig lebende Witwe des philippinischen Diktators Marcos, hatte in ihren jungen Jahren schon um die 2000 Paar Schuhe gesammelt. Ob sie alle an ihren pfiffigen Füßen ausprobiert hat, ist nicht verbrieft. Hier in Wien hätte sie die helle Freude an dem Angebot an Schuhkreationen. Nicht alle sind tragbar. Das ist sicher. Aber der Schuh des Winnetou hat hier auch seinen Platz: Sioux heißt das Geschäft.

Am 12. März, vor 75 Jahren, erlebte Wien den "Tag der Schande". Adolf Hitler, selbst ein gebürtiger Österreicher, marschierte ein und vollzog den sogenannten Anschluss. Eine Gedenkveranstaltung hält fest, dass es nicht nur Gegner dieses Anschlusses gab, sondern auch solche, die das nationalsozialistische Hetzgut freudig begrüßt haben. Die Gratis-Ausgabe von HEUTE (KEIN MORGEN OHNE HEUTE), ein Blatt mit einem gestrichenen Maß an journalistischer Unsäglichkeit, widmete dem Erinnern ein paar wenige Zeilen. Dafür steht auf dem Titelblatt: "Wienerin erfand Wunder-Schuh".  Und nochmal eine Drittelseite weiter hinten, nachgelegt: "Schmerzfreie Höhenflüge auf ganz bequemen High Heels" . Die Gewichtungen sind eigenartig. Vielleicht braucht der gelangweilte U-Bahn-Fahrer diese Droge. Denn dort liegen die Erzeugnisse aus.

Jetzt bemerke ich etwas Seltsames. Am Stephansplatz sehe ich ein kleines Kind mit einem kleinen Rollkoffer hurtig und ganz allein in Richtung Graben laufen. Sofort schaue ich nach der eventuellen Mutter, die das 2-3jährige Baby im Auge hat. Ich kann weder Mutter noch Vater entdecken und schaue dem Kind beunruhigt nach. Andere Passanten scheinen ebenfalls verwundert. Dann verliere ich es aus den Augen. Ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass keine sorgende Frau dieses Kind einfach weiterrennen lässt. Jemand wird sich ihm nähern und nach der Mami fragen. Der Gedanke lässt mich los, doch fühle ich mich nicht wohl dabei, nichts unternommen zu haben. "Fressen ihn die Raben, fällt er in den Graben"? Ich hätte Verantwortung übernehmen sollen, geht es mir durch den Kopf!

Schon wird es dunkel. Der Graben wendet alle Lichter auf, um im abendlichen Glanz zu strahlen. Ich eile in die Blutgasse, warte im winzigen Hof auf den Aufzug, der mich in den 4. Stock bringen soll. Die Fahrstuhltür öffnet sich, und ein älterer Herr mit tief heruntergezogenem Hut stürmt heraus. Er hält ein vermummtes Paket in den Armen. Im Nu ist er draußen verschwunden. Meine Unruhe begleitet mich bis zur Wohnung. Dann fällt mir ein, dass ich nicht in den Briefkasten geschaut habe. Also drücke ich auf Erdgeschoss und fahre nochmals hinunter. Post war keine da, doch der Herr mit dem großen Hut erschien plötzlich wieder im Hauseingang, immer noch mit dem Paket auf dem Arm. Schnell schließe ich die Fahrstuhltür und drehe den Schlüssel um, der mich in den 4. Stock zurück bringt. Dann verschließe ich die Wohnung von innen.  



















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