Mittwoch, 17. Oktober 2012

Der Gnadenstoß - oder: tot ist tot

Als Kind habe ich Fliegen immer für etwas Fröhliches gehalten. Man muss sich das vorstellen: sechs Beinchen, damit kippt man nicht einfach um. Durchsichtige Flügel, die dich in unbekannte Höhen schwingen lassen. Elegantes Schwarz, schließlich hat die Fliege ihren Namen auch dem fliegenähnlichen Gebilde um den männlichen Hals gegeben, vorzugsweise getragen zu dem sogenannten Smoking. Der Frack hinwiderum, der hat es mit den weißen Fliegen. Und das Fliegen des Flugzeuges kommt letztendlich (würde Stoiber sagen) auch von den Fliegen. Als Kind fand ich Fliegen amüsant.

An einem Hoteleingang, im indischen Puna, lag ein Sterbender. Mit Entsetzen sahen meine Kinder und ich, wie das Gesicht des fast reglosen Körpers voller Fliegen saß. Als wir nach wenigen Minuten das Hotel wieder verließen, um einen ersten Ausflug in eine faszinierende Stadt zu machen, wurde der Tote gerade weggeräumt. Wenn man anderen nicht helfen kann, muss man irgendwie damit fertig werden. Wir haben uns dann dem Neuen und Fremden dieser Stadt hingegeben, aber vergessen konnten wir den Anblick eines mit Fliegen überhäuften Gesichtes nicht so schnell.


Fliegenpilz ja, aber, wo finde ich jetzt eine Fliege?


Gestern saß ich in meinem Wintergarten und las. Die schwächliche Sonne hatte den lichtdurchfluteten Raum auf 30° erhitzt, eine angenehme Temperatur im schon kalten Oktober. Ich entledigte mich des Pullovers und räkelte mich im Lehnstuhl, als ich ein irritierendes Geräusch vernahm. Dann sah ich sie. Sie war groß und brummig und tanzte auf einer großen Scheibe übermütig auf und ab. Sofort dachte ich an Tötung. Ich suchte die mir wohlvertraute Fliegenklatsche und betrat vorsichtig den Raum. Ich weiß, dass Fliegen einen siebten Sinn haben. Sie verhielt sich ganz still, bis ich mich wieder gesetzt hatte. Dann brummte sie wieder los. Meine Gemütslage verschlechterte sich, denn dieses Tier hatte sich in den Kopf gesetzt, ganz in meiner Nähe herumzuschwirren und Geräusche von sich zu geben, die an fortwährendes Rascheln erinnerten. Dann schlug ich zu, verfehlte meine Beute jedoch. Beim zweiten Versuch hatte ich mehr Glück. Ich traf sie halb. Sie taumelte zu Boden, lag auf dem Rücken und wartete auf den Todesstoß. Ein Vermögen würde ich darum geben, herauszufinden, was mit ihr geschah. Habe ich sie getötet? Bin ich beim Lesen etwa eingeschlafen? Oder hat sie sich gerettet? Ein bisschen geschämt habe ich mich dann schon. Wie ist es möglich, dass ein so herrliches Tierchen, mit sechs Beinen und transparenten Flügeln, statt unser Mitgefühl die reine Mordlust weckt? Ich weiß es nicht.








Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen