Samstag, 17. März 2012

Das Geheimnis des Schuhs

Meine Großmutter muss es gewesen sein, ganz sicher bin ich jedoch nicht. Jemand hatte mir gesagt, ich war vielleicht 20, ich hätte einen klassischen, griechisch-römischen Fuß. Seit dem bewundere ich immer wieder meine Füße. Ihr Maß ist auch heute noch so, dass kein Schuh sich schämen muss, meinen Fuß schützend und wärmend zu begleiten. In der Tat, es ist fast nie vorgekommen, dass der beim Kauf einmal ausgesuchte Schuh mich enttäuscht hätte. Dankbare Füße, dankbare Schuhe.





Vielleicht ist es diese allgemeine Fußzufriedenheit, die mich manchmal an die Ursprünge des Schuhs denken ließ. Selbstverständlich ist dies nicht. Da durchschreitet man Jahrhunderte als zivilisierter Mensch, weiss, dass die Stöckelschuhe nur deshalb erfunden wurden, damit die Schönen des Trottoirs (im Paris des 19. Jahrhunderts) nicht mehr im Kot der Straße waten mussten, der überall zu sehen und zu riechen war. Denn, den Nachttopf auf die Straße kippen war nicht nur in Paris eine frühmorgendliche Spezialität der Städter. Während die Freier diskret mit der Kutsche anreisten, mussten die armen Freudenmädchen bei Wind und Wetter im Unrat herumstehen. Mit Freuden hatte das wenig zu tun. Und was weiß man nicht? Woher der Schuh kommt.

Meine Theorie ist eine abenteuerliche: Der Mensch der Frühzeit, hungrig und von Frau und Kind getrieben, streifte zunächst nackten Fußes durch die Natur, natürlich auf der Suche nach Nahrung in Form von Wurzeln und genießbaren Vierbeinern. In China durfte auch immer schon ein Hund darunter sein. Der Weg war steinig, dornig, nass, und überall lauerten Schlangen. Die allmählich entstandenen Trampelpfade waren beim Vermeiden von Fußkrankheiten und blutigen Verletzungen schon eine große Hilfe. Dann kam der Einstein des modernen Schuhs. Es muss um die Jahrtausendwende irgend eines Vorzeitalters gewesen sein. Da dachte der Begabte einige Monate nach und hatte es: wenn ich etwas erfinde, das wie ein angenehmer Weg aussieht, bequem, weich, gefahrlos, und den ich als ständige Straße um die Füße wickeln und überallhin mitnehmen kann, habe ich den Schuh erfunden, sozusagen die mitnehmbare Autobahn des Fußes. So muss es gewesen sein. Der Schuh, die tragbare Straße. Die Entwicklung des Hammerzehs, eine Zivilisationskrankheit der Neuzeit, konnte inzwischen durch orthopädische Tricks wieder auf wenige Fälle reduziert werden.




Gestern habe ich ihn wieder gesehen: er lag am Rande eines Parks in Straßburg, der Square de la Ménagerie heißt, und wegen des schönen Frühlingswetters von vielen Müttern mit Kindern aufgesucht wurde. Fast neu, hellbraunes Leder, leicht zum Reinschlüpfen. Ein Mädchenschuh. Wo war der andere?, schoss es mir durch den Kopf. Neulich, in Indien, am Strand der Arabische See, ein einzelner Schuh. Vor Jahren, bei meinen Spaziergängen am Mittelmeer, entlang der zyprischen Küste, einzelne Schuhe, immer wieder. Will mir da jemand etwas sagen? Mich interessiert brennend, wo der andere Schuh abgeblieben ist. Oder, steckt hier eine Schuhmafia dahinter? Oder ein Prinz, der krampfhaft nach dem Aschenputtel sucht, das den anderen Schuh zuhause versteckt hält? Nachdem ich die mitnehmbare Fußautobahn entdeckt habe, lässt mich der Gedanke nicht mehr los, dass diese nur vollständig ist, wenn sie zwei-vier- oder sechsspurig daherkommt. Also, wo ist er, der zweite Schuh? Es muss ihn irgendwo geben. Ich arbeite noch daran.

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