Dienstag, 21. Juni 2011

Dickleibigkeit, eine Schande?

Halt! Dazu wäre einiges zu sagen. Natürlich sieht man es ihnen an: Sie schleppen die Pfunde verschämt mit sich herum. Beim Einstieg in den Bus gibt es Probleme. Beim Aussteigen ebenfalls. Der Schlanke, der es da immer leichter hat, schaut da manchmal etwas herablassend. Obwohl, Schlankheit ist kein Talent. Höchstens das Ergebnis eines Bemühens. Ja, Konfektionsgröße kommt dem Undicken in der Boutique sehr entgegen. Weil man auch mit Übergrößen Geld verdienen kann, gibt es auch entsprechende Läden, in die man sich verstohlen hineinbegibt, um etwas Schwarzes (das macht schlanker) oder etwas Schlapperiges zu kaufen, nicht total unmodisch, damit man etwas weniger pummelig daherkommt. Bei Männern ist das in der Regel hoffnungslos. Das sehe ich, wenn ich kritisch an mir hinunterblicke. Dann kommt oft der männliche Trotz: Martin Luther hat ihn gelehrt: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders".


Frauen hingegen können in der rundlichen Fassung mitunter sehr lecker aussehen. Je älter ich werde, desto öfter begegne ich Männern, die sich als Verehrer von "Mollies" outen und bei Bohnenstangen, die ja auch nichts dafür können, nur Platonisches empfinden. Dickleibige Männer, deren Attraktivität ich persönlich nicht entdecken kann, erscheinen oft vollgepumpt mit Selbstbewusstsein, selten verschämt. Dabei hätte bei den ganz Älteren immer noch Hermann Göring als abschreckendes Beispiel fungieren können. Wer hat diesen Reichsuniformträger noch nie auf einem Foto gesehen? Er schien geradezu ein Recht auf nationalsozialistische Feistigkeit zu haben. Wie sagte die Marktfrau, die im Dritten Reich ihren Fisch mit dem Ausruf: "Hering, so fett wie der Göring" anpries, wofür sie 2 Wochen in den Bau kam? Wieder zurück auf dem Wochenmarkt - schließlich musste sie ihre Familie ernähren, denn Vati war, damals spindeldürr in einer Militäruniform in Russland unterwegs, wurde sie zunächst von der Gestapo überwacht. Kluge Menschen lernen aus jeder Lage heraus. Also rief sie: "Hering, so fett wie", dann legte sie eine Pause ein und fügte hinzu: "wie vor 14 Tag'n". Damit hatte sie alles gesagt.

Zurück zur Obesität. Seit  Hollywood Maßstäbe gesetzt und die Illustrierten den weiblichen Menschen unerbittlich genormt haben, sind schöne Filmweiber wie Adele Sandrock oder Ruth Stephan auf der Strecke geblieben, während Hella von Sinnen erfolgreich mit ihren Rundungen hausieren geht. Wir haben alle das nicht real existierende Idealbild des schönen Menschen in unserem Innersten übernommen und sind darüber nicht glücklich. Zuviel Kosmetik und Körperqual hängt an diesen Kunstprodukten. Und eine Geschmacksfrage ist und bleibt es. Manchmal heißt es sogar, es hätte mit dem Hormonhaushalt zu tun, dass man übermollig ist. Es wird auch gerne schöngeredet: Vollschlank, gut gerundet, "stark", usw. Was man nicht hören möchte, ist: olfett, schweinedick, pummelig oder schwabbelig. Das heißt, wir sollten gemeinsam an einem Menschenbild arbeiten, das sich loslöst vom schwachsinnigen Nachplappern vorgegebener Hollywoodnormen. Wir finanzieren damit übrigens eine ungeheure Diät-, Pharma- und Kosmetikindustrie.

Seien wir ehrlich: wenn ich unbedacht und ohne mein relativ schlankes Kontrollorgan (meine oft beruflich abwesende Frau) vor mich hin esse, kann ich in einer Woche, schon aus Trotz gegen die "Einsamkeit" gute 2 Kilos zunehmen. Hochgerechnet macht das bei mir ein Übergewicht von 6-8 Kilos, mit dem ich zwar leben kann, das aber in mühsamer Kleinarbeit wieder heruntergefahren werden muss. Allerdings gehe ich nicht bei jeder Bushalte der Greyhoundlinie, etwa, in den USA oder in Kanada, an den Automaten, um für 1 $ einen Sack Chips meiner Gütewahl heraus zu lassen. Neu Zusteigende haben meist schon eine Plastiktüte voller Chips in der Hand, wenn sie versuchen, trotz der Kilos, noch dynamisch in den Bus zu steigen.  Andere nutzen gerne den Stopp, um sich wieder mit neuem Stoff zu versorgen. Wer dann noch Mäckdo und Couchglotze, im Schnitt 4 Stunden pro Tag, praktiziert, darf sich über seinen Zustand nicht wundern. Es ist einerseits die fragliche Ernährung, andererseits die mangelnde Bewegung des Körpers, die eine kilobedingte Katastrophe auslösen. Man braucht keine Ernährungsberater, um sich in die Lage der Neandertaler zu versetzen: Arbeit (statt Fernsehen), um zu überleben, keine Schulbildung, nur sammeln und jagen, eventuell einen Schamanen aufsuchen, der sagt wo's langgeht. Und schon kann man sich das Schlanksein wieder vorstellen.



"Dieting makes you fat",  heißt ein Buch von Geoffrey Cannon, das erstaunlich ehrlich ist. Nicht, dass ich es gelesen hätte. Meine Frau brachte es mir aus London mit, wohl in Erwartung der  2, während ihrer Abwesenheit hinzu gekommenen Kilos, denen sie den Garaus machen möchte. Das Inhaltsverzeichnis habe ich studiert, um mich besser in den über 300 Seiten zurechtzufinden. Warum Diät dick macht, wissen alle, die dem Jojo-Effekt schon über den Weg gelaufen sind. Geoffrey behauptet, die Ursachen seien biologisch, wirtschaftlich, sozial und umweltbedingt. Entsprechend hart scheint er gegen den "Food Scandal", den Ernährungsskandal, vorzugehen. Ich fasse (aus guten Gründen nicht) zusammen, dass man die Ernährung nicht  den Machern überlassen soll, die nur Geld verdienen wollen, dass man auf Geschmacks- und ähnliche Verstärker weitgehend verzichten sollte, und den Wert unveränderter Lebensmittel wieder erkennen muss. Die sieben goldenen Regeln gesunder Ernährung. Hier kann man sie finden, glaube ich. Also werde ich wieder einmal "lesen, was gesund macht", hoffentlich, ohne mir verarscht vorzukommen. Einen Versuch ist es allemal wert, wenn ich an meine 6-8 Kilos denke. Aber schämen kann ich mich deshalb nicht. Ich teile das Schicksal von Millionen Menschen, die sich selbst und der Lebensmittelindustrie auf den Leim gegangen sind. Die Verdickung der Menschheit ist nicht politisch aufzuhalten, sondern durch die passende Ernährung

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