Dienstag, 6. Mai 2014

Zeitzeugen?

Ja, wir brauchen sie. Alte Videos reichen nicht. Was hat sich in 50 - 60 Jahren alles verändert! Junge Menschen, wenn sie intelligent und neugierig sind, wollen wissen, was vor ihnen war. Das kann nur jemand vermitteln, der schreiben und/oder erzählen kann. Doch, was ist wissenswert? Was fasziniert einen jungen Menschen, wenn er gewisse Erfahrungen (noch) nicht gemacht hat? Ein Anruf, neulich, meines einzigen noch lebenden Vetters, machte es wieder deutlich: So viel Gemeinsames haben wir gar nicht. Wir sind in verschiedenen Städten aufgewachsen, hatten unsere eigenen Familien und kamen zusammen, wenn Opa, der schon weit über 80 war, mal wieder Geburtstag hatte. Wir haben also diese Erinnerungen und bleiben damit weitgehend allein.

Dabei möchte man so vieles an die Jungen weitergeben. Nicht, um vor selbst einmal gemachten Fehlern zu warnen. Nicht, um Grimms Märchen nachzuerzählen, wie schön einmal alles war. Sondern, um Wissen weiterzugeben, das sonst einmal unwiderruflich verloren geht. Der Krieg, die Nachkriegszeit. Der Hunger. Die erste Liebe. Die erste Waschmaschine. Der erste Flug. Gestern war ich noch in Budapest. Nicht zum erstenmal. Da fielen mir unsere ungarischen Flüchtlinge ein, eine Familie mit einem Großvater, einer Mutter, zwei kleinen blonden Töchterchen und einem Kleinkind, im Laufe von 1945 zu uns gekommen. Sie durften unsere Küche benutzen, und wir sangen zusammen. "Awla kumban, awla kumban .......hulwila". Die Melodie ist mir geblieben, den Text kannte ich nicht. Vor ein paar Tagen traute ich mich, im jüdischen Viertel von Budapest im Gasthaus einen jungen Ober danach zu fragen. Er lachte, kannte das Lied aber nicht. Es fing an: "Am Fenster, dort, am Fenster" oder so. Jahrelang hatte mich die Neugier nach diesem Lied geplagt.

Budapest, Budapest

Dann lernte ich in den Sechzigerjahren in der Schweiz eine Ungarin kennen. Sie arbeitete als Lehrerin in einem spießigen Internat. Sie hieß Esther J. Ihr Bruder sei Filmemacher und im kommunistischen Budapest geblieben, sagte sie. Sie wanderte dann nach Kanada aus. Was ist aus ihr geworden? Die interessanten Menschen, denen man im Leben begegnet, vergisst man so leicht nicht. Aber die Umstände verblassen. Dass man anstehen musste, um einen halben Liter Magermilch zu bekommen. Dass das Lädchen an der Ecke Frau Kratzer gehört hatte, die Wild, Eier und herrlich duftende Äpfel verkaufte. Wer mag sich daran noch erinnern?

Bei Kriegsende sah ich die ersten Schwarzen in meinem Leben. Wesen aus einer anderen Welt. Sie sprachen Französisch, dann Amerikanisch. Letztere verteilten an uns Kinder Massen an Kaugummis. Nicht, weil sie schwarz waren, sondern weil sie Kinder liebten. In Deutschland war da ein Kind noch ein züchtigungswerter Jungmensch. Nein, vor Pädophilen musste man normalerweise noch nicht gewarnt werden. Die verseuchten noch nicht das Internet und waren auch nicht organisiert. Briefmarkensammeln war eine Leidenschaft für Knaben. Dann kam das Karl-May-Lesen. Coca Cola war noch nicht als zuckerverseuchte Pest verschrieen, sondern kam wie eine Errungenschaft aus Amerika. Dafür verschwanden alle Tante-Emma-Läden. Sie wurden nach und nach von den Supermärkten zerstört. Mein Vater sagte mir einmal, dass eine Brezel in seiner Jugend 6 Pfennige gekostet hatte. Heute finanzieren wir die Supermärkte mit ihren Parkplätzen, die Bankfilialen mit ihren Parkplätzen, die Autobahnen. Da muss eine Brezel bis zu 2€ kosten. An Sparen ist da auch nicht mehr zu denken.

Seit ich vor blutjungen Studenten von der Syracuse University bei New York auf Englisch meine Kindheitserinnerungen aus der Nazi-Zeit, und was davon übrig blieb, schilderte, weiß ich, was zu tun ist, damit nicht noch mehr verloren geht. Nicht nostalgisch verklärt zurückblicken, sondern relevante Beobachtungen von gestern vermitteln, damit die Welt nicht einfach in eine hirnlose Zukunft stolpert.


















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