Freitag, 13. September 2013

London in den Fünfzigern - II

Wenn man einmal begonnen hat, sich zu erinnern, lassen einem manche Dinge nicht mehr los. Ich arbeitete 1958 für sieben Wochen auf der Themse-Insel Sheppey. Eine reizlose Flachinsel, mit dem Bus gerade zwei Stunden von London entfernt, im Mündungsgebiet der Themse. Das Warner's Holiday Camp gibt es dort heute nicht mehr: eine Ansammlung von hölzernen Chalets, einem Zentralgebäude und einer Bar. An den Strand ging kaum einer der Feriengäste, denn das Themsewasser war schmutzig und kalt, trotz der 30°C, die wir in jenem Sommer fast täglich hatten. Verkehr gab es in London, aber fast nicht auf der Insel, die mit einer Brücke an das Festland angebunden war. Die Putzfrauen des Camps trugen alle Hüte. Man erklärte mir, dass dies ein heftig erstrittenes Vorrecht der englischen Putzfrauen war. Als ich vom "Männchen für alles" die Leiter etwas hinaufkletterte, arbeitete ich in der Kantine: Nach jeder Mahlzeit wurden die etwa 2000 Teller der etwa 700 Feriengäste mit einer vorsintflutlichen Waschmaschine gewaschen. Die klotzigen Dinger waren kaum zu zerschmettern. Ich ließ mal einen solchen Teller auf den harten Betonboden fallen. Er sprang unbeschädigt zurück wie ein Ball. In Zehnerpacks holte ich die Teller aus der Maschine und rollte sie kurz hin und her, damit das Restwasser abfließen konnte. Dann wurden sie gestapelt, damit das Geschirr für die nächste Mahlzeit bereit stand.
An der Themse

Jemand sagte zu mir: "This is a concentration camp for holidaymakers". Ein Scherz, hart an der Grenze des Geschmacks, denn man muss bedenken, dass solche Camps den Bedürfnissen von arbeitenden Menschen mit wenig Einkommen entsprachen. Es gab davon mehrere in Großbritannien. Noch in den Sechzigerjahren, so hat man errechnet, wurden in diesen Lagern bzw. Ferienkommunen wöchentlich insgesamt 3,5 Millionen Eier verzehrt, dazu 240 Tonnen Schweinekoteletts und über 20 Millionen Tassen Tee getrunken. Kein Wunder, dass dieses gesegnete Land schon damals alle Rekorde im Teetrinken gebrochen hat. Eine riesige Ferienindustrie mit vielen Arbeitsplätzen waren diese Warner's Holiday Camps. Sieben Pfund Sterling pro Person und Woche waren ein akzeptabler Preis. Erst viel später konnte Lieschen Müller das Flugzeug nach Mallorca oder Marokko besteigen und für eine Woche im Holiday Inn verbringen. Die Sensation war der Aufenthalt eines Afrikanerklans mit vielen Kindern. Sie waren eigens aus Afrika angereist und trugen ihre Originalkleidung, ein buntes Spektakel.

Eines Abends kam ein Zimmernachbar zu mir und schlug mir einen gemütlichen Abend
mit Whisky vor. Wir teilten uns den Preis für eine Flasche Johnny Walker, etwa 11,50 DM, und begannen mit dem Trinken. "Let's have a giggle", sagte er zu mir, als er die Flasche öffnete. Dann leerten wir sie unter Lachen und Geplauder, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wie der Junge hieß und wie ich die Nacht und den folgenden Tag überstanden habe. An diesem Abend lernte ich den Londoner Zungenschlag, der allgemein als "Cockney" bekannt ist, einer Art Stakkato-Englisch, bei dem man nur die Hälfte versteht. An meinem freien Tag nahm ich den Bus nach London und trieb mich in Soho herum. Es gab dort zu jener Zeit unglaublich schlechte Restaurants, die meisten von der exotischen Art, wie man sie in Westdeutschland damals noch nicht kannte. In der Tottenham Court Street gab es einen Musikladen, wo man die ungewöhnlichsten Schallplatten kaufen konnte. Weiter, in der Oxford Street kaufte man Kleider und Anzüge.


Das heutige London ist eine ganz andere Welt. Es gibt Luxus und pulsierendes Leben, auch noch spät am Abend. Wer gut essen möchte, kann dies heute mit Leichtigkeit tun. Damals war London noch eine Stadt, die den Londonern gehörte. Heute sind es die Touristen und Migranten, die das Stadtbild ausmachen. Doch auch schon in den Fünfziger Jahren konnte man sich in London wohlfühlen. Inzwischen sind die Nebel und der Smog weitgehend verschwunden. Doch gegen den Regen gibt es nur den Schirm unterm Arm, der dann aufgespannt wird, wenn's wieder losgeht.






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