Samstag, 28. Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 5





Das Gespräch mit dem Minister verlief ohne besondere Sensationen. Artig antwortete er auf Selma Taylors Fragen. Das Problem einer eventuellen Reaktion der Türkei auf die Aufnahme Südzyperns in die Europäische Union, schien dem Minister nicht aktuell genug. Eine Annektierung  Nordzyperns könne Teil einer Reihe von Maßnahmen sein, über die man noch nachdenke. Beim Abschied sagte Ahmet noch, er könne Tina nicht zum Flughafen begleiten und würde sie bald anrufen.
Das Abendessen stand auf dem Tisch. Die Kinder saßen schon und warteten auf die Vorspeise. Wenn Vater nicht rechtzeitig zum Essen erschien, durften die Kinder schon einmal beginnen. Ahmet hatte Arda angerufen, kurz bevor er das Ministerium verließ, damit sie wusste, wann er kommen würde. Als er die Wohnung betrat, sagte Arda: „Du hattest dein Mobilfon abgeschaltet gestern Abend. Das tust du doch sonst nicht. War es anstrengend?“ Ahmet konnte nicht verhindern, leicht zu erröten und murmelte nur etwas, bevor er die Kinder begrüßte. Hakan, der Jüngste, strahlte ihn an, Can sah etwas blass aus, und Leila, die große, fing sofort an, ihrem Vater die neuesten Geschichten aus der Schule zu erzählen. So hielt sich die etwas gespannte Stimmung in Grenzen. Arda zog sich früh zurück und Ahmet las noch eine Reihe wichtiger Artikel, die er auf die Seite gelegt hatte. Einige Tage vergingen, und der Alltag hatte wieder seinen normalen Verlauf genommen. 
Leila, die geliebte Tante aus Girne hatte sich für einige Tage in Ankara angesagt. Sie besuchte ihren Bruder gelegentlich und fühlte sich in dessen Familie sehr wohl, und sie war nicht verheiratet. Sie freute sich auf die Kinder ihres Bruders, und mit ihrer Schwägerin verstand sie sich auch ganz gut. Der Flug von Nordzypern nach Ankara dauerte etwas mehr als eine Stunde. Ahmet holte sie gewöhnlich vom Flughafen ab, wenn er das zeitlich schaffte. Leila war über all die Jahre seine Vertraute geblieben. „Dein Flug war mal nicht verspätet. Wie schön,“ sagte Ahmet als er Leila in die Arme schloss. Auf dem Weg nach Maltepe, einem guten Wohnviertel von Ankara, musste er Leila berichten, was geschehen war. Sie hatte als junges Mädchen einmal diskret versucht, über britische Freunde, die regelmäßig von Nordzypern in den griechisch-zyprischen Teil der Insel wechseln konnten, mit Kristina Kontakt aufzunehmen. Es wurde nichts  daraus, weil Tinas Eltern gerade das befürchtet hatten und deshalb besonders aufmerksam über ihre Tochter wachten. Sie hatte Ahmet darüber informiert, und er wollte nicht, dass sie mit ihrer Suche fortfahren solle. Also gab sie es auf. Als Ahmet seiner kleinen Schwester damals das Foto Tinas gezeigt hatte, verstand diese gleich, warum er so entschlossen war, sein Glück festzuhalten. Jetzt hatte sie sich vorgenommen, Tina unbedingt zu sehen. Als Schwester hatte sie nur Ahmets Wohl im Sinne; er war ihr großer Bruder und Held geblieben. Dass seine Ehe mit Arda eine leidenschaftslose Partnerschaft war, hatte sie nie gestört. Sie hatte auch nie von schrecklichen Szenen gehört, und die Kinder wuchsen in einer harmonischen Umgebung auf. Vielleicht wurden sie alle durch diese reizvollen Kinder getröstet, die einem vielleicht nicht sehr gelungenen Leben einen Sinn verleihen konnten. Sie selbst wäre jedoch an einer solchen Ehe nie interessiert gewesen. Nur in einer belanglosen Beziehung untergebracht zu sein, Kinder zu gebären und Haushalt zu organisieren, fand Leila ebenso bedauerlich, wie mit einem Partner zu leben, der nicht in der Lage war, bedingungslos zu lieben und seine Frau als völlig ebenbürtig zu respektieren. Sie konnte sehen, wie Ahmet geradezu in eine haltlose Lage hineinschlitterte. Das beunruhigte sie. Die Begrüßung Ardas und der Kinder, für die es Geschenke gab, vollzog sich mit großem Hallo. Man ging früh zu Bett, denn für den nächsten Morgen hatte man Pläne, etwas zu unternehmen.
Arda war mit Vorbereitungen für ein Picknick beschäftigt. Die Kinder freuten sich schon darauf, mit den Eltern und Tante Leila von der Insel, wie sie liebevoll genannt wurde, eine Autofahrt in eine sehr reizvolle Landschaft zu unternehmen. Am Ufer eines Stausees gab es Plätze, die sich für ein Picknick eigneten. Das Wetter war hervorragend. Ahmet erhielt einen Anruf aus dem Ministerium. Er wurde dringend benötigt. Der Außenminister musste eine Erklärung zur Zypernfrage abgeben, und Ahmet war für diese Angelegenheiten zuständig. Das Wochenende war damit für die Familie verloren. Ahmet bedauerte, dass er Leila und die Kinder nicht begleiten konnte. Er war erleichtert, dass Arda dies – wie schon oft – mit Gelassenheit und stillem Protest hinzunehmen schien. Da das Auto schon vollgeladen war, beschloss Ahmet, einen Dienstwagen kommen zu lassen. Arda konnte mit seinem Auto an den See fahren. Er nutzte die Wartezeit, um Tina anzurufen, obwohl es etwas früh am Morgen war. Schläfrig, aber nicht unfreundlich klang Tinas „Hallo“, das er ohne Umschweife mit: “Hier ist der Mann, der dich liebt“ beantwortete. „Ahmet,“ sagte sie mit einer Stimme, in der unerwartete Freude schwang, „wie kommt es, dass du so früh anrufst? Ist etwas passiert?“ „Nein. Ich wollte nur deine Stimme hören. Ich muss heute arbeiten. Gleich lege ich wieder auf. Nächste Woche komme ich für einen Tag nach Istanbul. Ich werde es einrichten, erst am anderen Morgen nach Ankara zurückzufliegen.“ Tina zögerte und sagte dann: „ich weiß nicht genau, wann ich hier sein werde. Du weißt, wie umständlich es für mich ist, von hier nach Limassol zu kommen. Wie lange ich von hier fort sein werde, kann ich noch nicht sagen. Es ist jedenfalls eine dringende Erbschaftsangelegenheit. Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben. Ich habe dir nichts davon erzählt. Auch mein Vater ist schon einige Jahre tot. Halte mich auf dem Laufenden, damit ich mich auf deinen Besuch einstellen kann.“ Ahmet sagte noch: „Leila ist gerade bei uns. Sie fliegt auch kommende Woche wieder nach Zypern. Schade, dass ihr  nicht zusammen dahin fliegen könnt. Meine beiden Lieblingsfrauen in einem Flugzeug! Was für ein hohes Risiko.“ Tina war sich nicht ganz sicher, ob Ahmet nur einen Scherz machen wollte. Sie spürte auch Ironie aus seinen Worten heraus. Gelegentlich hatte Tina bemerkt, dass Ahmet ausgelassen glücklich sein konnte, um dann plötzlich in einen bitteren Sarkasmus zu verfallen. „Ich freue mich schon“, sagte Tina und wünschte ihm noch ein nicht zu arbeitsreiches Wochenende. Ahmet hatte Glück: die Arbeit war relativ schnell getan, und er konnte sich schon am Samstag Nachmittag nach Hause fahren lassen. Er richtete sich auf einen ruhigen Abend mit der Familie und mit Leila ein. Arda und die Kinder gingen früh schlafen und überließen den Geschwistern das Feld, die eine ganze Schachtel Zigaretten rauchten und bis in den Morgen miteinander schwatzten.
Fortsetzung folgt.

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