Dienstag, 28. Juni 2011

Lesen, was gesund macht,

sagt die Apotheke. Und sie meint es womöglich auch. Ein verkürzter Sprung ist das, der für eine Zeitschrift wirbt, die kostenlos verteilt wird. Doch nur der Tod ist umsonst, und der kostet das Leben. Warum also kostenfrei, wenn es gesund machen soll? Versuche mal, ein Medikament, das unter Umständen gesund macht, umsonst in der Apotheke zu erstehen. Diese gesundmachende Umschau wird von der Pharmaindustrie finanziert (warum wohl?) und mit Hilfe der Apotheken verteilt. Und von alten Omas als Agentinnen für neue Mittelchen weiterempfohlen? Das kann nicht sein. Jaja, auch lesen kann gesund machen. Muss aber nicht.

Meine Mutter kam manchmal in mein Zimmer, um nachzusehen ob ich auch schlafe. Das war meist kurz nach dem Zubettgehen. Ich war darauf vorbereitet und verschwand anschließend mit der Taschenlampe unter der Bettdecke ("Je lis au lit", sagte Voltaire und schlief ein). Dort lag mein Schatz: einer der über 60 Bände, die Karl May, der Vater von Winnetou und von Hadschi Halef Omar, Ben Hadschi Abul Abbas, Ibn Hadschi Dhavut al Gosara(???) zur Erbauung von Jungs verfasst hat. Mädchen waren nicht ausgeschlossen, aber, weder Karl May, noch die Mädchen selbst waren daran allzu sehr interessiert. Das andere Geschlecht, oder das, was sich da zum Ergötzen vieler Jungs so allmählich herausschälte, war damals eher für Hanna Spyris "Heidi" begeisterbar. Ich hingegen musste über Nacht meine 600 Seiten Karl May schaffen, weil der von einem Spezi zur Verfügung Gestellte an seinen größeren Bruder weitergegeben werden musste. Zuverlässigkeit war unbedingt notwendig, damit die wertvollen Buch-Quellen nicht mutwillig ausgetrocknet wurden. Die Besorgnisse meiner Mutter, die beim Frühstück die rot unterlaufenen Augen ihres Söhnchens begutachtete, mussten außen vor bleiben.

Lesen, was gesund macht, ist, so betrachtet, reiner Schwachsinn. Aber, nach der Lektüre von "Im Reich des silbernen Löwen" oder "Am Rio de la Plata" konnte man auf dem Schulhof mitreden. Das war wichtig. Weniger wichtig schienen die Kenntnisse über "De re publica" ("Über den Staat") von Marcus Tullius Cicero, dessen Namensvetter Roger heute als begnadeter Sänger weit bekannter ist als der Klassiker aus dem alten Rom. Auch singen kann gesund machen, meint der Interpret von "Zieh' die Schuh' aus, und bring den Müll raus".


Kann es sein, dass wir deshalb nicht gesund sind, weil wir nicht gewohnt sind, zu lesen? Lesen bildet nicht nur, es lässt tagträumen, wohlig erschauern, ja gruseln. Und es bringt Gewinn. Ein wissendes Lächeln, wenn von Dingen die Rede ist, kann den Eindruck verstärken, man sei belesen. Wie schön, wenn man mitreden kann und auch noch die Muttersprache beherrscht. Dann kann es sein, dass man die Platitüden der Apotheken Umschau bereits kennt und keine Angst verspürt, mit der Haut und dem Haar über 40 die Skoliose des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen zu können. Wer schon mal eine Million $ oder € bei einem Ratewettbewerb im Fernsehen gewonnen hat, gehört sicherlich zu denjenigen, die viel gelesen haben.

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