Dienstag, 5. April 2011

Traube Tonbach oder Würstchen mit Kartoffelsalat?


Jeder kennt das: man ist den ganzen Tag gewandert, hat einen Bärenhunger und träumt davon, so richtig gute Wiener mit Kartoffelsalat zu essen, die Beine zusammenzufalten und zu entspannen. Dann noch ein gutes Bier dazu. Ein Hochgefühl, fast auch kulinarisch. Als Restaurantkritiker mit reichlich Erfahrung darf man jedoch nicht in den Niederungen der einfachen Küche herumkrebsen. Das ist unseriös und schafft Feinde. Wer jedoch das Gute entdeckt und auf seine Weise zu schätzen weiß, dessen Gaumen fängt an, Jubelschreie auszustoßen. Bis es allerdings so weit ist, muss vieles geschehen, was ganz sicher in den Bereich der höheren Gastronomie gehört. 

 

Cath, die regelmäßig den Guardian liest, zweifellos eine englische Zeitung, die zu den 20 besten der Welt zählen darf (dann ist immer noch genug Platz für die Süddeutsche, El Pais und Yomiuri Shimbun), kam plötzlich mit einer Idee: „ich werde dich Morgen in den Schwarzwald entführen. Du fährst und ich lade dich zum Essen ein. Im übrigen werden wir irgendwo übernachten“.  Da ich das gefährlich-bübische Glitzern in ihren Augen aus wenig leidvoller Erfahrung kenne, fügte ich mich. Die Route hatte sie dem Rechner entnommen. Wir waren in Straßburg tätig gewesen und mussten hinauf in den Schwarzwald und über die Berge. Das Wetter bescherte tief hängende Wolken, es ging in Richtung Baiersbronn und von dort nach Tonbach, einem Ort, der sich seit Jahren großen Ruhmes erfreut. Natürlich schwante mir etwas. Sie merkte es und ließ mich wissen: „der Guardian hat die Traube in Tonbach kürzlich als eines der 20 besten Restaurants der Welt bezeichnet. Das reizt mich“.

Als versierter Restaurantkritiker, der ich nie in der Traube war (weiß der Hugo, wie so etwas passieren kann), war meine verschämte Neugier nicht mehr zu bremsen. Allzu oft schon hatte ich mir den Luxus erlaubt, in ein als etwas Besonderes eingestuftes Gasthaus zu gehen, um nach 10 Minuten festzustellen, dass ich dorthin meinen Fuß nie wieder setzen würde. Gruß aus der Küche, hin oder her.  Die Welt ist voller gutgemeinter Gasthäuser, die nicht einmal  moderate Preise wert sind. Damit meine ich jedoch nicht das ehrliche Restaurant, wo der verwöhnte Gaumen zwar keine Luftsprünge macht, im großen und ganzen jedoch mit Achtung behandelt wird. Der Guide Michelin muss dabei nicht einmal seine Finger im Spiel haben. Diesem erlauchten Gaumentribunal entgeht so manches bemerkenswerte Gasthaus, nur, weil der Tisch wackelt, oder das Besteck in der Eile nicht exakt hingelegt wurde. Wir leben, und da muss ich ein wenig badisch werden, in einem Landstrich voller kulinarischer Schönheiten. 

Wie kam ich zu diesem selbst verliehenen Titel: „Restaurantkritiker“?  Meine Großmutter muss, als ich noch keine fünf Jahre alt war, entdeckt haben, dass ich oft die Augen verdrehte und mit einem verklärten Lächeln das Essen würdigte, während meine kleine Schwester einfach aß, wohl, weil sie Hunger hatte, was keine Schande ist. Beim monatlichen Zelebrieren der badischen Dampfnudel muss ich regelmäßig meine Würde als Kind aufs Spiel gesetzt haben, so unverhohlen himmelte ich meine Mami an. Sie wusste, dass ich ein unverbesserlicher Feinschmecker war. Und sie konnte sich bei allen Mahlzeiten ganz auf mich verlassen: ich entdeckte das Lorbeerblatt im eingemachten Kalbfleisch, auch die Nelke in der Soße. Die weiße Soße, die mit den frischen Böhnchen auf den Tisch kam, enthielt gerade genug Bohnenkraut, um alles zu verklären. Nur bei Spinat zeigte ich lange Jahre Verachtung, ja, Ekel. Bei den Aufs und Abs der deutschen Küche, der gelegentlichen Selbstzufriedenheit der französischen, der  ungeheuren Vielfalt der chinesischen Küche, ist es nicht leicht, den Gaumen, und immer wieder den Gaumen als Ratgeber heranzuholen und zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. 

Jetzt müssen wir von der Traube in Tonbach sprechen. Wir werden im Hotel wie gute Bekannte begrüßt. Noch haben wir Zeit, uns etwas auszuruhen und an der Bar einen Aperitif zu nehmen. Dann geht es in die Schwarzwaldstube, wo Cath einen Tisch hat reservieren lassen. Viele männliche und weibliche Geister bemühen sich um uns, versuchen, klare Wünsche, das Menü betreffend, aus uns herauzulocken. Anscheinend gelingt es, und wir sitzen mit einem Gläschen Champagner und einem Martini da, wartend auf den ersten Teil. Ich kann und will hier nicht in eine Aufzählung der Speisenfolge verfallen. Das Internet hilft, wenn man Traube Tonbach ergoogelt. Nein, ich will Athmosphärisches wiedergeben, das zum Esserlebnis gehört, wie der Sahnetupfer zur Erdbeere. Dabei vermute ich irgendwo auch ein kleines Separee, wo die Prinzessin ungestört genießen kann, ohne von indiskreten Fotografen belästigt zu werden. Wir saßen mit den anderen Gästen in einem nicht gigantisch wirkenden, doch nett verwinkelten Raum, in dem das auftragende und abtragende Personal seine Runden drehte, immer wieder freundlich an unseren Tisch kommend, um zu sehen ob alles in Ordnung ist. Dann kam Heiner Finkelbeiner vorbei, der Ururururenkel des ersten Gasthausbetreibers, der  1993 von seinem Onkel das Haus übernommen und zu einem wahren Genusstempel umgestaltet hat. Ein paar Worte wurden gewechselt, man sah, dass er an Begegnungen mit Gästen Gefallen findet, sie nicht als ungeliebte Pflicht versteht. Cath hatte das Degustationsmenü, eine ganze Abfolge von Köstlichkeiten. Ich eine Chartreuse vom schwarzen Rettich und anschließend ein Ragout von Kalbsnieren. Dass hier Gänseleber und Trüffel mit hinreißenden Soßen und sonstigen “Sättigungsbeilagen” (um einen Begriff aus der gastronomisch auf Weltniveau herumturnenden DDR zu gebrauchen), verstand sich von selbst.  Wie soll man sich aber nach Tagen noch an die Weine erinnern, die man dazu genossen hat? Etwa 700 waren in der Weinkarte aufgelistet. Cath beschränkte sich auf diskrete Seufzer, sozusagen, die Ahs und Ohs, die auch die Sprachlosigkeit des Guten symbolisieren. Ich versuchte, an meine Mutter zu denken, die eine begnadete Köchin war, ein weibliches Naturtalent, für den aufstrebenden Gaumen eines Knaben genau das Richtige. Auch Nigel Slater fiel mir ein, ein britisches Kochgenie, in Deutschland wenig bekannt, der als Knabe die Kochkünste seiner Mutter lobte, bis sie verstarb. Dann kam eine wenig geliebte neue „Mutter“ ins Haus, die der kleine Nigel verabscheute, von der er dann aber doch, entgegen seiner Abneigung, so vieles lernte, dass er beschloss, gleichzeitig Koch, Kräuterzüchter und Autor zu werden. Diese Mischung macht ihn  heute zum populärsten Essspezialisten Englands. 

Dann kam der Meister vorbei: nicht der ruhmreiche, erfolgsgewohnte Matador der Küche, nein, nachdem die Küchenschlacht mehr oder weniger geschlagen war, wollte ein bescheiden-neugieriger Starkoch selbst sehen, was er angerichtet hatte: Harald Wohlfahrt, der Dreisternekoch ging von Tisch zu Tisch, um sich von der Zufriedenheit seiner Gäste selbst zu überzeugen. Das ist es, was zu Höchstleistungen antreibt: Talent, natürlich, Können, natürlich, und der wohlverdiente Applaus. Nachzutragen wäre noch, dass der nächste Morgen den Himmel etwas weniger wolkig erscheinen ließ. Erste blaue Löcher tauchten auf. Die Sonne machte sich bemerkbar. Von unserem Zimmer aus hatten wir einen herrlichen Blick auf den gegenüberliegenden Bergrücken, der von Tannen bewachsen ist. Unten, vor dem Hotel, parkte ein schwarzer Mercedes mit Stuttgarter Nummer: S-TT (für Traube Tonbach). Hat er gerade eine Prinzessin abgeholt, die mit ihrem Prinzen (vielleicht) in der Traube essen möchte? Niemand wird es erfahren. Guten Appetit, Prinzessin. Uns bleibt ein japanischer Spruch, den ich irgendwo im Hotel aufgeschnappt habe: „Auch durch ein Nadelöhr kann man den Himmel sehen“. Der Guardian ist eine der besten Zeitungen der Welt. Wie steht es mit der Traube in Tonbach? Eines der 20 besten der Welt? Wenn eine der besten Zeitungen dies behauptet: Warum nicht?


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen