Mittwoch, 16. Februar 2011

Der Schrei der Möwe auch in Yorkshire




Wen wundert’s, dass die Möwen jenseits des Ärmelkanals anders schreien als an der Kontinentalküste oder am Mittelmeer? Das beginnt schon an der Fähre im belgischen Seebrügge. Dort lädt man das Auto ein, fährt die ganze Nacht an der britischen Ostküste entlang und kommt am Morgen ausgeruht an der Humbermündung an. In Hull kann man dann das Auto wieder an Land bringen. Dankbar quietschen die Reifen, wenn man die Rampe hinunter fährt und von der Einreisekontrolle in Empfang genommen wird. Die Möwen von Seebrügge verfolgen das Schiff eine Weile, dann geben sie auf. Die Möwen von Hull übernehmen den Dienst bei der Ankunft des Schiffes. Der Sehnsuchtsschrei dieser Meeresvögel verkündet Geselligkeit. Über 40 Arten gibt es weltweit von diesen Tieren. Die Lachmöwe ist nur eine davon. Die Silbermöwe, Heringsmöwe, Dreizehenmöwe, Elfenbeinmöwe und die Polarmöwe sind Verwandte einer großen Familie von schreienden Schiffsbegleitern. Flugbegleiter, sozusagen. Man gewöhnt sich daran. Immer, wenn ich diesen Schrei höre, bin ich am Meer. Der schweigsame Flug des Steinadlers hingegen verweist auf die Einsamkeit der Berge. 



Was treibt einen Menschen am 27. Dezember dazu, nach Yorkshire zu reisen? Hierfür gibt es immer Gründe. Cath wollte ihre Eltern besuchen, ihre Brüder treffen, ich das Yorkshire Moor besser kennenlernen. Also fuhren wir los. Im tiefen Schnee verließen wir den Schwarzwald. Straßburg, Luxemburg, Brüssel, Seebrügge an der belgischen Küste. Das hört sich einfach an, ist allerdings auch bei guten Straßenverhältnissen ein unangenehmes Unternehmen, das auch noch durch lästige Stopps an Tankstellen, Rast- und Toilettenplätzen unterbrochen werden muss.  Nach einer langen Reise wirkt der erste Gin-und-Tonic an der Bar der Pride of York wie die Erlösung aus einem bösen Traum. Das Essen an Bord, ein wahres Vergnügen. „Ab ins Bett“ heißt dann die Devise. Kabine 3035, Deck 4 (Das Grüne), Prem 2bunk Out. Ich vermute mal, das heißt: Premium (heute ist alles „Premium“),  2 Bunkerbetten, Außenkabine. Also übereinander getürmte Betten, für eine Nacht gerade gut genug.

Der Aufenthalt auf so einer Fähre ist wie das Eindringen in eine andere Welt. Die „Pride of York“ wurde unter dem Namen „Norsea“ 1986 von der englischen Königinmutter vom Stapel gelassen. Hergestellt wurde sie – die Fähre – in Glasgow. Mit über 1000 Passagieren und 180 Metern Länge kann  sie – die Fähre – bis zu 850 Autos packen. Wichtig für uns sind jedoch die Stabilisatoren, die ein unnötiges Schlingern verringern. Eine unruhige See kann ganz schön die Laune verderben. Wer sie dann 2003 in „Pride of York“ umgetauft hat – die Fähre – wird nicht bekannt gegeben. Bei der Ankunft am Hafen von Hull wird man gefragt, ob man irgendwelche Pakete von Fremden angenommen und transportiert hat. Das war’s schon. Die Kontrollen bleiben im übrigen erfreulich harmlos. Europa, ick hör‘ dir trapsen.

Hull, die Unbekannte
Ungewohnt ist alles hier: die riesige Humberbrücke, weithin sichtbar, über die wir nicht fahren. Der Linksverkehr, der zunächst in helle Aufregung versetzt. Der dichte Nebel, der in seiner Milchigkeit wieder etwas beruhigt. Der Weg führt zunächst hinauf in den Norden. Ein todsüßer Hafen mit malerischen Winkeln, unsere erste Anlaufstelle, liegt in der Robin Hood‘s Bay, nördlich von Scarborough. Die Sicht war plötzlich wieder gut. Dort haben wir gegessen, und Cath hat sich ihr  ersehntes englisches Bier auf der Zunge zergehen lassen. Ich denke da nicht gastronomisch genug. Für mich ist ein Bier ein Durstlöscher, 3 Mal im Jahr. Für Cath ein Lebenselixier. So sind die Menschen verschieden. Das Essen in einer kleinen Kneipe, auf wackeligen Stühlen an dürftigen Tischen eingenommen, schmeckt dann doch. Wir atmen die Luft Großbritanniens, und das, im Yorkshire Moor, genauer: in den North York Moors: eiskalt, nasskalt, vom Winde verweht. Die kleinen Häuser des kleinen Hafens sind atemberaubend schön, alt, der Verwitterung nahe. Der Blick wandert an die entfernten Steilwände dieser Bucht. Plötzlich hat uns der kalte Charme dieses nordischen Landes erfasst. Hull gehört aber nicht dazu. Dort sieht man nur Hafenanlagen, technische Bauten und Reihenhäuser. Die Schönheit Yorkshires liegt in seinen kleinen Städten, den Burgen und Brücken, den Küsten und Heidelandschaften. Und in der freundlichen Gesprächigkeit seiner Bewohner. Auch in der winterlichen Obskurität der Moore. Die noch nicht entfernte Weihnachtsbeleuchtung strahlt hingegen überall noch kuschelige Wärme aus. Wo sind wir eigentlich? Ach ja, in Wetherby. Könnte auch Thirsk oder Ripon sein. Ein zentraler Platz, mit vielen kleinen Läden und einer stattlichen Anzahl von Pubs. Pubs sind menschliche Tankstellen, an denen auch Essbares, vor allem Knabberkram, getankt wird. Wir müssen noch hinüber in die Nähe von Leeds, wo Cathies Eltern leben. In Haworth hat Lewis uns ein Zimmer in einem Bed&Breakfast reservieren lassen. Es heißt „The Old Registry“ und ist eher ein Minihotel mit ein paar Gästen. Eine junge Familie weist uns ein. Endlos geht es über verwinkelte Treppen hinauf in den obersten Stock, wo gerade zwei Zimmer verfügbar sind, eines davon wartet auf uns. Nach dem schwer durchkämpften Nebel endlich Klarheit: Hier werden wir die Nacht verbringen. Eigentlich nur 10 Fußminuten entfernt von dem kleinen, heute als Museum dienenden Haus der Bronte-Schwestern, die im 19. Jahrhundert hier ihre Romane verfasst haben und heute als frauliche Pionierinnen, vor allem japanischen Touristen den Weg in alles Britische zeigen. Das Frühstück, unten im Erdgeschoss, wartete auf uns in gastlicher Gemütlichkeit. Das Land kann auch in Eiseskälte kuschelige Wärme ausstrahlen. 
Das Radio
Man glaubt zwar, dass Briten vor allem fernsehen, Tanzmeisterschaften, Cricketspiele, Coronation Street und East Enders. Radio 4 scheint jedoch ihre Hauptinfoquelle für heiße Nachrichten zu sein. Was man da nicht alles zu hören bekommt. Morgens um 4 oder 5. „Britain has retained the ashes“. Und zwar in Australien. Nach vielen Jahren des Wartens eine Weltsensation. Es handelt sich um Cricket. Darüber wird noch zu reden sein.

Oder: „in wenigen Jahren werden wir über eine halbe Million Hundertjährige im Land haben. Was dann?“ Die Nachrichtensendung ist gespickt mit Betroffenheitskundgebungen, über die sich wohl niemand mehr Gedanken macht. Ach ja, die Bonuszahlungen an leitende Figuren der Industrie und Banken: ein immerwährender Skandal. Dann die tägliche Dosis an Verbrechen. Beliebt sind Vergehen an Kindern durch gutsituierte Familienväter. Diese Anprangerungen scheinen Teil eines Nachrichtenrituals zu sein. Es muss aber  erwähnt werden, dass gelegentlich auch versehentlich unschuldig  Verfolgte von den Medien wieder reingewaschen werden. Alles ist eine Nachricht wert. Was ist ein „gefundenes Fressen“? Was den Hörer auf der Couch hochschnellen lässt. Was regelmäßig auch mit den Preisen geschieht. 
Die Sensationspresse.
Ein Brite, der nicht täglich eine frische Zeitung in der Hand hält, ist gar kein Brite. Die Skandale der Nation, der Serienkiller von ........., die Erhöhung der Mehrwertsteuer, das Liebesleben von Priestern, Königen, Bankdirektoren und Übergewichtigen stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Sollte an einem bestimmten Tag gar nichts passiert sein, kann man sich immer noch über die Bonuszahlungen von Wirtschaftskapitänen und sonstige Betrügereien erregen. Es sind nicht einmal die nackten Hintern und Busen, die da noch gezeigt werden. Das entbehrt bereits der Originalität. Wenn aber eine Frau gleichzeitig mit fünf verschiedenen Männern verheiratet ist, (wie ist das möglich?) dann wird daraus eine ganze Seite. Die moderne Drogenbekämpfung sollte am besten mit dem Verbot solcher Zeitungsdrogen beginnen. Aber, wo kämen wir da hin? Man muss sie brabbeln lassen, denn gelegentlich geht daraus auch ein echter Journalist hervor, der über Seriöses schreiben möchte. 

 „put the kettle on“.
Die im gefrorenen Zustand recht friedliche Insel kann sich gelegentlich auch über gutes Essen und die damit verbundene Kochkunst erregen. Ähnlich wie in anderen Ländern gibt es nämlich talentierte Zauberköche, die den manchmal etwas phantasielosen Haus-Frauen und -Männern beim Zubereiten eines Mahles Beine machen wollen. Dabei ist Nigel Slater einer der ganz Großen. Er begeistert die Massen und gibt ihnen die Freude am Essen zurück. Wir müssen darauf zu sprechen kommen. Auch das täglich sich mehrfach wiederholende Teezeremoniell bedarf der Erläuterung. Man kann entweder dafür, oder ganz entschieden dagegen sein. Ein Engländer wird letzteres jedoch nicht verstehen. Tee ist das Nationalgetränk und hat nichts mit der feinen friesischen Art, Tee (mit etwas Rum) in hauchdünnen Porzellantassen zu servieren, zu tun. Der englische Tee ist meist schwarzer Tee, in runde Kannen hinein übergossen, die selten eine Reinigung erfahren. Das gehört zum Zeremoniell. Während man in Japan aus dem Teetrinken etwas Feierliches macht, indem man das henkellose Porzellan mit beiden Händen umschließt, was Verbrennungen dritten Grades auslösen kann, greift der Brite zur groben Teetasse mit Henkel. Darauf steht meistens etwas: „Haworth Main Street“ oder THE PIG of HAPPINESS. Eine Grenze ist dem nicht gesetzt. Auch „Air Berlin“ ist möglich. Dann lässt er (der Brite) das aromatische Nass wie erlöst in den Körper gleiten. Meist ohne Zucker aber dafür mit kalter Milch, die angeblich zuerst in die Tasse geschüttet werden muss. Es wird behauptet, der heiße Tee könne die unvorbereitete Porzellantasse zerbrechen, während die zuvorkommende kalte Milch mildernd auf sie einwirken soll. Das „Put the kettle on“ beginnt meist schon früh morgens und endet mit dem Wunsch, schlafen zu gehen. Wie soll man da der Seele des Vereinigten Königreiches auf die Schliche kommen? Unergründlich, ja fast erotisch ist das Verhältnis zu diesem Getränk, dem die meisten verfallen sind. Ist das der Grund, warum Engländer nicht gerne reisen? Glaube ich nicht, denn schlimmer als schlechter Tee im Ausland, erscheint die Tatsache, dass man dort immer häufiger mit dem wunderlichen Gebrauch der englischen Sprache konfrontiert wird. Da wird dann schnell ein Wellnessevent zum coolen Highlight. Sorry.
Betty’s Café in Ilkley
Von einer gastronomischen Berühmtheit möchte ich jetzt nicht sprechen. Dennoch geht man gerne in Betty’s Café, wenn man etwas feiern möchte, oder jemanden treffen, den man 30 Jahre nicht gesehen hat. Ilkley liegt in Yorkshire, irgendwie zwischen Leeds und Skipton. Herrliche Wanderwege erschließen sich hier. Mit Cath habe ich schon einige dieser moorigen Berge erkeucht. Man kommt von dort aus auch leicht nach Blubberhouse, Appletreewick oder Burley in Wharfedale. Aber nur in Ilkley gibt es Betty’s Café. Dort haben wir uns mit Glenys aus Birmingham und ihrem Freund verabredet. Glenys ist meine langjährige Brieffreundin, der ich schön leserlich geschriebene, äußerst humorvolle Briefe verdanke. Wir blieben im losen Kontakt. Jetzt befand sie sich bei einem ihrer Söhne in Wetherby, nicht weit von Ilkley. Wir erkannten uns nach all den Jahren sofort. Sie stand vor Betty’s als wir ankamen. Es war Mittag, und wir wollten gemeinsam essen. Das Restaurant, das sich Café nennt, ist sehr gefragt: etwa 30 Personen standen schlange, um an einer autorisierten Platzmeisterin mit der Aussicht auf einen Tisch vorbei zu kommen. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir eingelassen wurden. Als Kontinentaleuropäer sträubten sich mir zunächst die Haare. Verzweifelt suchte ich nach einer anderen Lösung, aber ein Städtchen wie Ilkley hat nur ein berühmtes Restaurant. Also blieben wir, ließen uns am schließlich zugeteilten Tisch nieder und hatten ein gastronomisch beachtliches Mahl, das mit Wein aus der Schweiz (wie selten!) begossen wurde. Ursprünglich muss es familiäre Verbindungen zur Schweiz gegeben haben, anders lässt sich dieser Umstand nicht erklären. Meine Freundschaft mit der inzwischen auch etwas bejahrten Brieffreundin lief da weiter, wo sie vor über 60 Jahren begonnen hatte. Ist das nicht schön? Und irgendwie british?
Nigel Slater, der Wunderkochmanagementberatersgehilfe
Hundertzweiundfünfzig Buchstaben braucht es oder 34 Wörter auf der Titelseite seines Buches, das er im Jahr 2000 geschrieben hat. Dafür benötigt er 448 Seiten, von denen allerdings viele keinen Text sondern verführerische Fotos enthalten. Der letzte Teil des endlosen Buchtitels lautet: „I want you to follow your Appetite“. Dabei handelt es sich um einen Überlebensführer der neuen Kochart (frei übersetzt). Eine wöchentliche Kolumne im „Observer“, verschiedene Bestseller über das Kochen und eine Serie von Fernsehauftritten pflastern seinen kaloriengespickten Weg. Sein Werdegang ist bereits verfilmt, und die Menschen werden nicht müde, ihn anzuhimmeln. Ob er ein Dreisternekoch ist, der auch Witzchen machen kann, interessiert hier niemand. Ein Naturtalent ist er, und er packt die Sache des guten Essens an der Wurzel an. Dabei schreckt er überhaupt nicht vor exotischen Machenschaften zurück. „Nigel Slater, the kitchen diaries“, 2005, eine Ansammlung von Gerichten, Gedanken und Gerüchen. Natürlich existiert die badische Küche für Nigel Slater (noch) nicht. Der Aufwand, beim Kochen, an Schüsseln, Messern, Löffeln und Schälchen ist bei ihm aber genau so hoch wie in der klassischen badischen Küche. Das Ergebnis wundersam und überraschend. Ein Beispiel, das die geniale Einfachheit seines Kochens veranschaulichen soll: Avocado an Schinkensalat. Klingt dämlich, hat es jedoch in sich: winzige Avocados mit dem nussigen Geschmack als Ausgangsbasis. „Ich entferne die harte Schale und schneide das grüne Fleisch in Streifen. Darüber träufle ich kleine knusprig gebratene Schinkenstückchen. Dann gieße ich etwas Sherryessig in die Pfanne und löse den Pfannenboden mit einem Holzlöffel ab und gebe ihn über die Avocadostreifen. Dazu wird dunkles Roggenbrot gegessen. Dann denkt jeder, ich sei ein Genie“. So oder ähnlich beschreibt Slater sein unterhaltsames Tun. Kein Wunder, dass die ganze Nation mit Verehrung auf ihn schaut. Seine Abneigung gegen modischen Firlefanz beim Kochen und Servieren wird dabei auch immer wieder deutlich. Das zu spülende Geschirr wird seine Sauberkeit irgend einem Sklaven oder einer Sklavin vom Fernsehen verdanken, denn der Meister wird wohl nicht selbst spülen. Warum kennen wir eigentlich fast nur deutsche und französische Chefs? Großbritannien ist ein wahrer Dschungel an guten Essideen und aufgeweckten Jungköchen. Man kann sich davon inspirieren lassen. 
Das Rhönrad oder verstehe einer, wie Cricket funktioniert.
Das Vereinigte Königreich ist nicht das Land, wo das Rhönrad erfunden wurde. Das geschah im Jahre 1927 in Deutschland. Ein Sportgerät, das aus zwei Stahlrohrreifen besteht, die einen Durchmesser von 1,60 bis 2,20 m und einen Abstand von 41 bis 47 Zentimeter haben. Bleibt nur noch zu erwähnen, dass diese Reifen durch Querstangen verbunden sind und dass man damit fröhlich herumturnen kann.  Der Internationale Rhönradturn-Verband ist wohl eine rein deutsche Angelegenheit. Die deutschen Meisterschaften finden in Deutschland statt. Auch die Weltmeisterschaft, nämlich im Juni 2011 in Arnsberg, wohingegen die WM, 2013, nach Chicago vergeben wurde. International ist eben international. Auch der britische Nationalsport Cricket ist seit vielen Jahren international, meist in den Ländern des Commonwealth zuhause. Sonst herrscht jedoch krasses Unwissen über diesen Sport. Den Begriff „Rhönradfahren“ versteht hier wohl jeder auf Anhieb. Die Engländer haben das Rhönrad in einem Anfall von Wissensdurst sogar in „aero wheel“ eingeenglischt. Und wer mehr darüber wissen will, schaut einfach zu und beginnt zu verstehen. In Großbritannien hilft Zuschauen beim Cricket allerdings nicht viel. Man muss die Regeln kennen. „Retain the ashes“ heißt soviel wie: „wir haben gewonnen“. Das bezieht sich also auf Cricket, eine ursprünglich britische Sportart, mit der man als Ausländer immer wieder konfrontiert wird. Männer in Weiß, sonst meist für Mediziner im Dienst gehalten, rennen mit einem Stöckchen über einen Rasen. Es herrscht äußerste Anspannung. Ein ballähnliches Produkt fliegt durch die Lüfte, man beginnt zu rennen, und am Ende hat eine Mannschaft mit soundsovielen „Runs“ gewonnen.  Ich sehe ein, dass man so ein Cricketspiel nicht erklären kann. Gehen wir systematisch vor. Jahre ist es her, dass ich Cathies Eltern ins Vertrauen gezogen habe: ich als Deutscher würde gerne mehr über Cricket wissen. Lewis erklärte mir, er habe selbst Cricket gespielt und begann mir das Ganze zu erklären. Dieser Versuch endete in freundlichem Achselzucken, worauf hin Margaret einsprang: Als gewiefte Fernsehguckerin hatte sie so manches Spiel, wenn auch in Auszügen, gesehen. Es war ihr ein leichtes, mir klar zu machen, dass Cricket mit Baseball vergleichbar ist, zumindest, als Mannschaftssportart. Das half mir wenig, denn ich habe nie Baseball gespielt.  Klüger als zuvor war ich darauf hin auch nicht.

Weiterhin verfolgte ich sporadisch Cricketspiele am englischen Bildschirm, sofern dazu Gelegenheit geboten wurde. Mein Verständnis dessen, was hier Cricket genannt wird, nahm die Form eines Schweizerkäses an. Total durchlöchert. Heftige Zweifel an meinen ohnehin hageren intellektuellen Fähigkeiten befielen mich, und ich beschloss, ins Internet zu gehen. Dort heißt es, eine Cricketmannschaft (wo sind die Frauen?) bestehe aus elf Spielern. Die Mannschaft, die „Runs“ erzielt, hat aber nur zwei „Batsmen“ auf dem Spielfeld, während die Spieler der anderen Mannschaft alle auf dem Spielfeld versammelt sind. Die Batsmen stehen einander auf der „Pitch“ gegenüber. Hinter ihnen steht ein „Wicket“. Ein Bowler (Werfer?) der anderen (welcher anderen?) Mannschaft wirft einen Ball (ein Bällchen?)  auf das etwa(!) 20 Meter entfernte Wicket am anderen Ende und versucht, den Batsman, der vor dem Wicket steht, dazu zu bringen, einen Fehler zu begehen. Dann erfolgt das „Dismissal“, die Ausscheidung. Der Batsman kann den Ball aber auch erfolgreich abfangen und wegschlagen, mit einem Schläger natürlich, woraufhin beide Batsmen mehrmals über die Pitch rennen. Die beiden Mannschaften tauschen die Rollen. Die restlichen Spieler sind wieder auf dem Rasen verteilt. Warum, wird nicht gesagt. Man weiß es eben. 

Auch die Wurftechnik des Bowlers ist genau vorgeschrieben. Der Wurfarm darf, sobald er die Höhe der Schulter erreicht hat, nicht ausgestreckt werden, damit der Wurf nicht für ungültig erklärt wird. Sonst nennt man das „bowlen“ und nicht „werfen“. Auch darf der gebowlte Ball den Batsman nicht oberhalb der Hüfte treffen. Deshalb versucht er, der Ball, kurz vor dem Batsman auf dem Boden aufzutreffen, wenn dieser nicht durch etwaige seitliche Drehungen abgetrieben wird, was es dem Batsman schwerer macht, den damit verbundenen Steigungswinkel des Balles in Kürze zu errechnen und den Ball zurückzuschlagen. Dann ist das Unglück geschehen, und es ist nichts mit dem „retain the ashes“. Mitreden muss man halt können. Ich habe das Spiel jetzt wohl verstanden. Cricket wird übrigens auf einem großen ovalen Platz gespielt, der mit einem Seil umspannt ist.

Was ist doch das Rhönrad für eine runde Sache. Man hängt sich rein und rollt davon. Wer am schnellsten rollt, hat gewonnen. Ob die Engländer das „aero wheel run“ nennen? Ich fürchte, sie sind nicht daran interessiert. Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass eine Rhönradfiliale, von ein paar Deutschen im Londoner Westend gegründet, den einen oder anderen Engländer als Zaungast anlocken könnte, vorausgesetzt, es wird zur Eröffnung Bratwurst mit Rhön – sorry, Rheinwein angeboten. Denn neugierig sind sie schon, die Engländer.
Nordisches Moorland
Die  Lüneburger Heide, immer schon wegen ihrer Schönheit im Herbst gepriesen, käme der Sache am nächsten. Die Nord-Yorker Moore sind ein echtes Naturschauspiel. Endlose Hügellandschaften, oft total baumlos, von einsamen Wanderwegen durchzogen, suggerieren manchmal eine Mondlandschaft, wären da nicht, wie in der Heide, die vielen Schafe, die stumm und unverfroren herumstehen und den Wanderer anstarren. Dabei sind sie es gewohnt, bei jedem Wetter still zu halten und sich einregnen zu lassen. Zum Glück scheinen sie keinen alpinen Ehrgeiz zu haben, denn die Berge sind zwar mit Felsklötzen übersät, aber nicht sehr hoch. Hoch genug jedoch, um dem Wanderer gelegentlich die Puste abzuschnüren. Wer die Einsamkeit liebt, muss in das Moor. Dort findet er sie in ihrer unverfälschten Schönheit. Dass man in hundert oder mehr Jahren als Moorleiche wieder auftaucht, ist an Seltenheit kaum zu überbieten. 

Ganz im Osten der Moore, an der Küste liegt das mondäne Scarborough, mit schönen Stränden und einem Schloss. Genug zu sehen gibt es in diesem Seebad, und ein begabter Koch führt dort ein Café (nennt er das), in dem man herrlich frischen Fisch essen kann. Das winzige Gasthaus leistet sich den Luxus einer Art Bar, wo man sitzend wartet, bis der Chef selbst kommt und erläutert, welchen Fisch er gerade erhalten hat, was er daraus zu machen gedenkt und wann man ins Restaurant eingelassen wird zum Essen. Das Warten wird durch einen Aperitif angenehm gestaltet. Diesem Chef hätte man in Frankreich schon ein Denkmal gesetzt, zumal er auch noch Zeit findet, in einem Zelt am Strand über die Zubereitung von Fisch und Schalentieren zu dozieren. 

Das Schloss, bzw. die Burg, da machen die Briten keinen Unterschied, geht auf normannische Zeiten zurück (um etwa 1135), enthält aber auch Spuren aus der römischen Zeit und der Eisenzeit. Alt und ehrwürdig auch das Grand Hotel, in dem man fürstlich, ja viktorianisch hausen kann, wenn die Pfundnoten dazu ausreichen.

Dieses Moorland ist so voller Geschichte und Episoden, dass man Mühe hat, irgendwo zu beginnen. Die Verbindungen zu den germanischen Ländern werden deutlich. Völlig abgelegen, nur drei Meilen außerhalb von Scarborough, liegt das Dorf Hackness, ein Beispiel für bewegte Geschichte im Kleinen: die Heilige Hilda, Äbtissin eines Klosters in Whitby (einem anderen, äußerst interessanten Ort in der Nähe)  gründete 680 ein Frauenkloster in Hackness, das 200 Jahre später von dänischen Eindringlingen zerstört wurde. Was dann im 11. Jahrhundert wieder aufgebaut wurde, hat König Heinrich der Achte 1539 wieder zerstören lassen. Auf den Ruinen hat Sir John Vanden Bempole Johnstone 1791 ein Herrenhaus im „Georgian“ Stil errichten lassen, das man sehr gerne besichtigen würde, wenn es öffentlich zugänglich wäre. Dafür kann man ein angelsächsisches Kreuz in der St. Peter Kirche betrachten und dessen Inschrift auf Englisch, Lateinisch und in Runenschrift lesen. Das alles ist Yorkshire im winterlichen Nebel. Wir freuen uns schon auf den nächsten Besuch dieses geschichtsträchtigen Landes mit den 300 Biersorten
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