Samstag, 16. Oktober 2010

Wie die Liebe durch den Magen geht: Wein und Kirschplotzer

Nein, nein, nein. Nie würde ich mich erniedrigen, die Vorzüge luststeigernder Mittel in einem Buch, gar einem Kochbuch zu beschreiben. Wer seine Lendenkraft (ich bin ein Mann!) einer exotischen Speise zuschreiben möchte, möge das ruhig tun. Ich habe mir vorgenommen, zu genießen und zu schweigen. Andererseits kann nicht geleugnet werden, daß ein Zusammenhang besteht, zwischen einem raffinierten Essen und einem raffinierten Zusammenliegen, unter einer Decke, sofern die Temperaturen dies nötig machen. Darüber muß allerdings gesprochen werden. 
und sogar Schwarzwälder Kirschtorte



Kirschen, zum Beispiel, sind für mich die Verkörperung der Erotik. Der Attilafelsen vom Tuniberg, ein anderes Beispiel, schießt wie Lava in die Lenden und feuert diese zu sinnlichen Bewegungen an. Natürlich muß hier dem trinkenden Neuling auf die Sprünge geholfen  werden. Der Rotwein vom Tuniberg, einem lieblichen südöstlichen Fortsatz des badischen Kaiserstuhls, wirkt auf die Beteiligten wie ein Liebestrank. Er läßt die Sinne schwinden. Fügt zusammen, was zusammen gehört, hätte Willy Brandt gesagt, den die katholische Kirche in Zeiten des Wahlkampfes, und lange vor der Wiedervereinigung, durch eines ihrer Kampforgane als „Willy Weinbrand“ verunglimpfen ließ. Dieser Stoß unter die Gürtellinie hat schon damals seinen Erfindern nichts gebracht. Solche Scherze treibt man eben nicht. Ich möchte auch jene warnen, die glauben, ihr verarmtes Liebesleben aufpäppeln zu können, indem sie diesen Merdinger Attilafelsen bei jeder Gelegenheit trinken. Das kann gefährlich werden, denn der Merdinger kann auch lediglich das Sitzvermögen des Trinkers fördern. Das Aufstehen neben der leer gewordenen Flasche wird da leicht zum halsbrecherischen Geturne mit Hinfallen. Man sollte schon eine leicht motivierte Geliebte im Arm halten, damit der Zauber dieses Weines voll zum Tragen kommt. Die Geliebte sollte auch mindestens drei Achtel davon getrunken haben, damit sie sich für die neue Briefmarkensammlung ihres Begleiters zu interessieren beginnt. Gerade die sich so gerne kühl gebärdenden Schönheiten fangen von selbst  an zu zappeln, als ginge es darum, diesen Spätburgunder in Stierblut zu verwandeln. Isabel Allende hat in ihrem Buch „Aphrodite“ zum Thema Wein fast alles gesagt. Eine Feier der Sinne nannte sie das Werk, das darauf hinweisen soll, daß Essen und Trinken die Sinne stimulieren. Allerdings sollte man den totsicheren Placebo-Effekt der meisten Aphrodisiaka nicht übersehen. In mäßigen Mengen getrunken, - so kann man da lesen -  weitet der Wein die Blutgefäße, verlängert die Erektion, enthemmt, entspannt, erfreut. Leider hat diese neugierige Autorin nicht herausgefunden, welcher Wein dafür am geeignetsten ist. Vielleicht fürchtete sie auch die Rache der unerwähnt gebliebenen Winzer. Denn eines ist klar: man redet nicht über solche Dinge, wenn man sich nicht ganz sicher ist. Beim Attilafelsen bin ich mir sicher, bei anderen Weinen weniger.
Zurück zur Kirsche. Ist es erlaubt, Papst Benedikt, den Sechzehnten, mit der Kirsche in Verbindung zu bringen? Die Liebe zur Kirsche gehört zu den unschuldigsten Vergnügungen der Menschheit. Ihre Erotik, die der Kirsche natürlich, kann einen Papst nicht aus der Bahn werfen, ist sie doch viel älter als die Einrichtung der Heiligen Kirche. Hier kann es sich nur um eine archaische Hinwendung zu den Ursprüngen der Sinnlichkeit handeln, was den kirchlichen Einrichtungen nicht ganz geheuer sein kann. Vermutlich kam die große Süßkirsche aus dem Schwarzmeerraum. Römische Soldaten sollen auf ihrem Weg, zurück in die Heimat, die Steine in Richtung Sonnenuntergang ausgespuckt haben, sodaß sich der Siegeszug dieser Frucht  jährlich um etwa 39 Kilometer in westlicher Richtung verlagerte. Ob dabei auch kirschäugige Schönheiten den römischen Söldnern die Zeit vertrieben, ist, wie man erwarten darf, von Historikern wieder einmal glatt übersehen worden. Man muß jedoch annehmen, daß besonders glutäugige Immigrantinnen (und nicht gutgläubige Intrigantinnen. Die Redaktion) den europäischen Eingeborenen die Geheimnisse der Kirsche und ihrer gastronomischen Umsetzung nahe brachten. Mit anderen Worten, es war oft mit den zu Hause gebliebenen Gemahlinnen der Söldner nicht gut Kirschen essen, wenn der Import aus dem Kaukasus die männlichen Sinne getrübt hatte. Andererseits liegt nun der Weltrekord im Spucken von Kirschkernen eindeutig bei über 10 Metern, was dem schon in ganz jungen Jahren beginnenden Training badischer Buben zuzuschreiben ist, die bei den Wettbewerben immer die ersten Plätze einnahmen. 
Kirschen haben auf mich schon gewirkt, als ich noch ein Kind war. Ich fühlte mich von ihrer Röte und ihrem Glanz magisch berührt. Als ich mit zehn Jahren vor einem üppigen Korb Kirschen saß, es müssen Herzkirschen gewesen sein, durchzuckte mich ein Gedanke, der mich seitdem nicht mehr los ließ. Werde ich eines Tages von einer schönen Frau für gut genug befunden, sie heiraten und mit ihr Kirschen essen zu dürfen? Ich wußte damals noch nicht, daß auch das Einkommen des Mannes keine unerhebliche Rolle dabei spielen kann, obwohl Frauen heute ihren Lebensunterhalt meist selbst bestreiten.  Was ich mit zehn Jahren von einer Frau, deren ich würdig sein wollte, erwartete, ist mir heute nicht mehr ganz klar. Sie mußte, so vermute ich einmal, auf mich wirken wie ein Korb voller Kirschen. Wir würden uns gegenseitig verzehren mit dem Glücksgefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Manchmal war jedoch auch in den Kirschen der Kindheit der Wurm. Als Kind wurde man zwar belehrt, daß Würmer nur in der schwarzen Kirsche, und das zur Zeit der Hochreife, vorkämen. Gerne glaube ich heute noch an dieses Märchen. Ja, ich dachte damals beim Anblick von Kirschen schon irgendwie an Sex, aber was es bedeutete, wollte ich nicht wissen. Etwas Schönes halt, das mit gutem Essen zu tun hatte. Und gutes Essen muß immer durch die Mägen zweier Liebender gehen, was eine sinnliche Vertrautheit entstehen läßt. Ein alleine gemampftes Gericht, und sei es noch so lecker, kann nur den Hunger stillen, nicht aber den Appetit anregen. Vielleicht hat dieser Gedanke damit zu tun, daß ich noch starke Erinnerungen an den Krieg habe, die teils mit schlechtem Essen, teils mit den frischen Früchten und Gemüsen aus dem elterlichen Garten verbunden waren. Dabei erinnere ich mich vor allem an die kulinarischen Köstlichkeiten, die ich mir nur in verliebter Komplizenschaft mit einer „Frau“ vorstellen konnte. Kirsche war Wollust, und Frauen waren höhere Wesen, die, wie ich bald entdeckte, gegenüber Schlemmereien äußerst empfänglich sein konnten. Dabei durfte man auch noch die Steine ausspucken, eine äußerst männliche Übung zum Treffen eines Zieles. Alle Jahre wieder, kehre ich zur Kirschenzeit dahin, wo diese wollüstigen Kügelchen voller Saft und Süße zu mir herunter grüßen und mir fast den Verstand benebeln. Nicht weit von Straßburg, in Richtung Schwarzwald, wo auch Erdbeeren und Spargeln zu Hause sind, befindet sich Deutschlands wichtigstes Zentrum für den Anbau von Kirschen, ein wahres Paradies für den leidenschaftlichen Obstesser. Die Sauerkirsche hingegen mag ihre Heimat woanders haben. Wen interessiert das schon? Sie ist für köstliche Konfitüren zuständig, will aber auch hier der Süßkirsche den Rang nicht ablaufen.
 Das Höchste für mich war das Entstehen eines badischen Kirschplotzers. Nun, das Internet macht es jedem halbwegs Begabten leicht, die 150 Gramm Butter, 5 bis 6 Eier und was sonst noch dazu gehört, zusammenzusuchen, um einen eßbaren Plotzer zustande zu bringen. Neben dem badischen KP gibt es da noch den Markgräfler KP, der natürlich auch ein badischer ist, dem ich jedoch nicht über den Weg traue. Da ich absolut ungeeignet bin, auch nur andeutungsweise zu schildern, wie man einen badischen Kirschplotzer herstellt, möchte ich hier nur das erwähnen, was sich  meinem brüchigen Gedächtnis noch entreißen läßt. Meine schon lange in die ewigen Gefilde der Nachkirschzeit  entschwundene Mutter wird mir verzeihen, wenn ich den Kirschplotzer als eine Voraussetzung, eine „conditio sine qua non“ (für die Lateiner unter den Lesern), für jede gute Liebesbeziehung ansehe, von dem manchmal verhehrenden Stimulans des Merdinger Attilafelsens einmal liebevoll abgesehen. Durch die Herstellung des badischen Kirschplotzers schaffte meine Mutter mühelos den Sprung zur Geliebten, von ihrem Söhnchen besonders heiß verehrt. Es muß jedoch in diesem Zusammenhang als Gerücht  entlarvt werden, der Kirschplotzer sei so etwas wie eine Nachspeise oder gar ein Luxuskuchen. Nein, er ist der Beginn einer schönen Freundschaft mit dem Leben, der Anfang einer stürmischen Liebesbeziehung zur eigenen Mutter, die Nagelprobe für die Fähigkeit, einmal ein hübsches Mädchen mit Haut und Haaren lieben zu können.
Die Hauptakteurin beim Backen des Kirschplotzers war also unangefochten Mutter. Großmütter waren als Autoritäten zwar ebenfalls zugelassen, aber was konnten sie dem Liebreiz einer jungen, Kuchen backenden Mutter, außer Erfahrung, entgegensetzen? Sobald die ersten reifen Kirschen auf dem Tisch standen, mußte Mutter einige Tage umworben werden, bevor sie zur Erleichterung aller, die Zutaten zusammenrichtete. Dann war Feiertagsstimmung. Ich saß immer mit am Tisch und verfolgte das Geschehen. Mutter hatte eine große Schüssel voller schwarzer Kirschen, die entstielt und gewaschen wurden. Leicht war es nicht, unter ihren Augen die eine oder andere Kirsche, sozusagen als Vorwegnahme kommenden Sinnesrausches aus der Schüssel verschwinden zu lassen. Hatte Mutter bei solchen Unternehmungen mit einem gewissen Schwund gerechnet? Ich denke, ja. Vater, soweit ich mich an ihn erinnere,  gehörte ja ebenfalls zu den Naschern. Ihr zufriedenes Lächeln deutete an, daß das Backen eines Kirschplotzers auch für sie mit stillem Vergnügen verbunden war. Wieder muß ein Begriff aus der Welt der Erotik aufgegriffen werden, denn das Herstellen eines Kirschplotzers kann bis zu dessen endgültigem Verzehr nur mit einer milden Form des Orgasmus verglichen werden. Ein Konversationslexikon mag mir hierbei eiligst zu Hilfe kommen: dort ist nicht nur zu lesen, daß der Orgasmus Höhepunkt der sexuellen Erregung ist, sondern auch, im übertragenen Sinne, eine Erscheinung von außergewöhnlicher Intensität. Nach der Klärung dieses Sachverhaltes wird es Zeit, das Knowhow des Cherry-tart-baking vorzustellen. Obwohl meine Mutter diese Sprache fast nicht kannte – ihr lagen Russisch und Französisch näher – würde sie sich bei diesem von mir ins Leben gerufenen Begriff wohlwollend im Grabe umdrehen. Schließlich haben wir nach jahrelangen Wanderbemühungen, oft noch mit roten Wollstrümpfen an den Beinen, den sehr deutsch klingenden Ausdruck „Nordic Walking“ gefunden. Das hat unsere Identität ein wenig aufgenordet aber nicht ganz beseitigt. Auch bei Kirschplotzern ist es heute angebracht, global zu denken, will man die Anerkennung der Welt nicht verschlafen. Auf vielfachen Wunsch, hier das Rezept, allerdings auf Deutsch:
Der badische Kirschplotzer
Man nehme, das wurde eigentlich schon gesagt, schöne schwarze Kirschen, von denen ich einige vorher wegstibitzt hatte. Für einen KP* für vier Personen benötigt man 1000Gramm Kirschen (KP* = Kirschplotzer). Schwarze. Entsteinte. Nicht entsteinte Kirschen sind unbadisch, denn jede badische Hausfrau besitzt ein kleines Gerät, das sie Entsteiner nennt. In Frankreich kommt jedes Jahr ein neues Modell eines sensationellen Austernmessers auf den Markt. In Baden: man ahnt es schon, der Entsteiner.
Eine Menge trockenes Weißbrot (manche verlangen Zwieback, was für eine Barbarei). Meine Mutter mischte Schwarzbrot unter. Eingeweicht in Milch. Etwas Mehl darunter. Drei Eier. Kräftig Zucker, eine Prise Salz. Der Teig sollte leicht getrocknet in eine runde Kuchenform gesetzt werden, die vorher mit echter Butter ausgerieben wurde. Wer es nicht schafft, die Kirschen vorsichtig und gleichmäßig unter den Teig zu heben, sollte lieber die Finger davon lassen, denn gute badische Kirschplotzerbäckerinnen gibt es mehr als genug. Wir legen auch keinen Wert darauf, diese Köstlichkeit, die dann im Ofen bei 18o Grad backen muß, sich auf der ganzen Welt ausbreiten zu lassen. Wir überlassen die Globalisierung dem allmählich sich breitmachenden Spargelterror, der, ohne auf seine badische Originalität Rücksicht zu nehmen, nicht nur ganz Deutschland, sondern schon die halbe Welt erobert hat. Wir kommen auf dieses Königsessen noch zurück, ohne allerdings auf  unerhört geschmacklose Varianten außerhalb Badens einzugehen.
Mein Rezept ist damit vollständig, bis auf das illegale Hinzufügen einer waghalsigen Menge von Kirschwasser. Für badische Kinder der Hauptgrund, schon als Anfangszwanziger ohne Schwierigkeiten das Süffeln von Wein praktizieren zu können. Aber Vorsicht: man sollte als Twen nicht unbedingt mit dem Trinken von Merdinger beginnen. Es könnte eine frühe sexuelle Fehlentwicklung auftreten, die nicht so leicht wieder zu beheben ist. Ein gutmütiger weißer Kaiserstühler oder Ortenauer Wein wäre meine persönliche Empfehlung für diesen Einstieg. Damit ist auch das Problem der Importe aus Südafrika, Neuseeland, Australien, Chile und Kalifornien  gelöst, das der deutschen Weinindustrie zu schaffen macht. Ich muß hier jedoch großen Wert auf die Feststellung legen, daß ich diese exotischen Weine nicht für schlecht halte. Sie können mir gestohlen bleiben, denn der lange Transport ist es, der sie fragwürdig macht. Aphrodisische Wirkungen werden von ihnen wohl nie ausgehen. Warum mein Vater im hohen Alter das Trinken von Merdinger gänzlich aufgab, bleibt ein Geheimnis, das er diskret mit ins Grab genommen hat. Ihm schmeckte ein Württemberger Trollinger, für den ich als Jüngling sehr viel Toleranz aufwenden mußte. Einen schwäbischen Wein in Baden zu trinken zeugt von Todesverachtung oder Großmut. Letzteres ist bei verwöhnten Essern und Trinkern im Badischen immer zu finden.
Ich muß hier nochmals die mütterliche Künstlerin ins Spiel bringen, die den Kirschplotzer gebacken hat: Sobald das Werk dampfend den Ofen verließ, saßen wir erwartungsfroh um den Tisch. Schon das frühzeitige AmTischSitzen galt damals als ungewöhnlich, gab es doch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht viel Interessantes zu essen. Dann umflorte der Duft der feucht-heißen Kirschen unsere Sinne. Im letzten Augenblick wurde der Puderzucker über den Kuchen gestreut. Das sofort schmelzende Weiß vermählte sich schnell mit der Süße des Kirschwassers. Unsere Nasen waren die ersten Nutznießer dieser Orgie. Wie berauscht ließen wir sie über dem Teller kreisen. Mutter fügte dann noch bescheiden hinzu: „Heute ist er mir nicht so recht gelungen“. Wir widersprachen gutmütig und putzten in kürzester Zeit den größten Teil des Kunstwerkes weg. Oma bekam ein Stück zurück gelegt, denn sie hatte den „Anstich“ verpaßt.  

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