Wer sich nicht für Aphrodite interessiert, sollte dieses Kapitel überblättern. Ich erlaube mir jedoch die Bemerkung, daß ein Aphroditenmuffel in meinen Augen ein armer Wurm ist, der nicht nach Höherem strebt. Wir müssen auf diese Dame zurückkommen. Sie ist ein zyprischer Mythos, aber nicht irgendeiner. Bei den alten Griechen bedeutete „Mythos“ noch so etwas wie: das Gesprochene. Und so klang alles durchaus glaubhaft, was da von Göttern und Helden erzählt wurde, obwohl das Chaos in der antiken Götterwelt selbst bei gläubigen Griechen schon die eine oder andere Augenbraue in die Höhe reißen konnte. Man wollte ja gerne alles glauben, doch angesichts der Unberechenbarkeit dieser exzentrischen Götterwelt, gab es schon den einen oder anderen, der sich sein himmlisches Gebäude selbst zurecht zimmerte. Dabei wurden einige Lieblingsgötter oder –innen gerne bevorzugt. Aphrodite hatte immer schon ihren Platz unter den Erlauchten, obwohl ihre Herkunft nie richtig geklärt werden konnte. Vielleicht machte sie das besonders interessant. Wie konnte man glauben, daß Aphrodite die Tochter des höchsten Gottes Zeus war, der mit Hera nicht nur verheiratet sondern auch blutsverwandt, denn sie war auch seine Schwester. Hera hatte außerdem Göttersöhne namens Ares und Hephaistos. Ein Skandal deshalb, weil Tochter Aphrodite nach Erreichung der Geschlechtsreife zuerst mit Hephaistos verheiratet war, einem tumben Tor, der sich als Schmied und Eisenbieger durchs Leben schleppte. Dann fing sie mit Ares ein Techtelmechtel an, aus dem zwei uneheliche Kinder hervorgingen. Da kann man nur hoffen, daß die Göttin der Schönheit und Fruchtbarkeit nicht die Voll- sondern nur die Halbschwester dieser unverantwortlichen Brüder war. Die gebildete Menschheit neigte Jahrhunderte lang dazu, die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen. Jetzt stört das niemanden mehr.
Dieser verwirrende Götterumtrieb konnte selbstverständlich bald nicht mehr so richtig geglaubt werden, was dem Begriff „Mythos“ wohl seinen heutigen Sinn einbrachte. Dieser tummelt sich natürlich in allerlei Religionen, vor allem aber in der Politik, wo er in gefährlicher Nähe der Abteilung „Lügen und Flunkern“ angesiedelt ist. Auch die germanische Götterszene, die heute noch als besonders heidnisch und barbarisch gilt, war in dieser Hinsicht nicht weniger unzuverlässig. Eine schöne Sache übrigens, für die ersten Christen und frühen Bedenkenträger, die sich zu nichts verpflichtet fühlen mußten. Viele bekehrte Germanen durften zunächst noch an einen Mix aus heidnischem und biblischem Götterdasein glauben. Durch die Verfolgung der Hexen – sie wurden der Kirche allmählich zu gefährlich – hat dann die Inquisition dem germanischen Götterunfug, wo er noch vorhanden war, endgültig den Garaus gemacht. Ob in Europa oder Kleinasien, damals konnte man sich getrost zurücklehnen und, dem abendlichen Fernsehprogramm späterer Generationen nicht unähnlich, die wilde Göttergemeinschaft wie einen Tatort auf sich wirken lassen. Bei gegenseitiger Sympathie kam es auch zu freundlichen Übernahmen ganzer Mythologien aus anderen Kultwelten, ja sogar zu grenzüberschreitenden Partnerschaften. Deshalb können auch Götter nicht immer reinrassig sein. Viele haben sich, oft unter falschem Namen, von einer Kultzone in die andere geschlichen oder einfach die Nationalität gewechselt. Die griechisch-römische Götterverquickung ist den Aufgeweckteren unter den Lesern ja bekannt: Zeus und Jupiter, Poseidon und Neptun, Athene und Minerva, Aphrodite und Venus.
Von Aphrodite, der zyprischen Nationalgöttin, darf man ungestraft behaupten, sie sei asiatischen Ursprunges. Ihr Name enthält nach Meinung von Fachleuten nichts Indogermanisches. Was sie allerdings in Asien so getrieben hat, bleibt dunkel. Ihre Ähnlichkeit mit der asiatischen Göttermutter Ischtar ist frappant, sagen Kenner. Für die babylonische Göttergemeinschaft wurde Ischtar, die Himmelskönigin, gerne mit der römischen Venus gleichgesetzt. Später wurde sie unter den Semiten Syriens populär. Die Assyrer allerdings fürchteten sie als Göttin des Krieges und des Terrors. In Zypern landeten vor 3500 Jahren die Phoenizier und errichteten für ihre Göttin Astarte einen Schrein, denn sie vermuteten dort die eigentliche Heimat der Verehrten. Die Mykener aus griechischen Gefilden taten dort ein Gleiches – landen und Schrein bauen – und widmeten das Ganze ihrer Aphrodite. Ischtar, Astarte oder Aphrodite, für die kurz vor der Zeitenwende (58 v.Chr.) sich der Insel annehmenden Römer wurde die Venus daraus, an Schönheit ihren griechisch-asiatischen Vorläuferinnen allemal ebenbürtig. Daß diese Luxusgöttinnen gerne in Marmor daherkamen bzw. auf hohen Sockeln saßen, ist einer der Gründe, warum manche Abbildungen heute noch bestens erhalten sind. Sie regen den Appetit lüsterner Betrachter an.
Aphrodite kann auch heute noch, als moderne Göttin der Liebe und der Schönheit - andere Funktionen müssen uns hier nicht beschäftigen - immer mit der Anfälligkeit der Männer rechnen, die sie übrigens eiskalt zu nutzen verstand. Die klassische Frage: „Mythos oder Wirklichkeit?“ darf hier zwar gestellt, aber nicht endgültig beantwortet werden. Erstens ist die Wirklichkeit selbst nur so von Mythen durchtränkt. Denken wir an das Ungeheuer von Loch Ness. Oder an den sozialistischen Realismus, ein Produkt der kommunistischen Welt, das weit entfernt von der Wirklichkeit angesiedelt war. Als es mit dieser damals herrschenden Politrichtung nicht mehr so gut lief, verwandelte sich diese Wirklichkeit in einen ehemaligen Mythos. Zweitens, können vor allem Männer mit Mythen sehr gut umgehen, ist doch ihr Verhältnis zum schönen Geschlecht oft von Migränen aller Art geprägt, denen jede Wirklichkeit abgeht.
Ausgerechnet Aphrodite, die Schaumgebadete, soll ihren Zweitnamen, Kybris, der schönen Insel Zypern geliehen haben. Wieder ein sympathischer Mythos, gegen den man nichts einzuwenden hat. Dafür ist ihre Entstehungsgeschichte unklar und auch etwas unappetitlich. Wir verweisen sie in den unteren Bereich der Mythologie, sozusagen, unter die Götterlinie. Unsere Aphro soll tatsächlich aus dem mit der Sichel ihrem grausamen (anderen) Vater, Uranos, durch eines seiner Erdenkinder entwendeten Geschlechtsteil entstanden sein. Dieses Teil soll lange Zeit ziellos im Meer getrieben haben. Mit viel Schaum um die Hüften – wegen der Scham - und in der dann reichlich besungenen Schönheit, soll sie dann einem viel gepriesenen Felsengebilde an der zyprischen Südküste entstiegen sein. Alsbald soll sie ein schwer zu kontrollierendes Lotterleben begonnen haben. Was heute von Aphrodite übrig geblieben ist? Unübersehbare Massen von Darstellungen, Huldigungen, lobenden Erwähnungen, Büchern und die zahlreichen Bewunderer. Der literarische Ausdruck der Aproditen-Verehrung ist ein erfolgloser Versuch erotisch motivierter Männer, das Phänomen Frau endlich in den Griff zu bekommen.