Montag, 19. September 2011

Die Ameise als solche - Das Leben der Tiere in Zypern



Sehr gerne wüsste ich, was Ameisen von mir halten. Wir leben zusammen. Ich kann mir Zypern ohne Ameisen gar nicht vorstellen. Es gibt im wesentlichen drei Sorten oder Größen, mit denen ich zu tun habe. Fangen wir bei den Kleinsten an. Sie leben irgendwo. Ich weiß es nicht genau. Wenn mir in der Küche ein Körnchen Zucker oder sonst ein süßlicher Brösel zu Boden fällt, warte ich nicht lange, und sie sind da. In langen Prozessionen tummeln sie sich um die begehrten Stücke herum und tragen sie irgendwohin. Sie sind so winzig, daß man eine Lupe braucht, um sie richtig anzuschauen. Über die mittlere Ameise ist nicht viel zu sagen. Sie kommt und geht und scheint immer etwas mit sich herum zu schleppen. Neulich beobachtete ich auf meiner Terrasse in Ambelia, oberhalb des Dorfes Bellapais, wie eine Bande von Ameisen der mittleren Kategorie eine halbtote Gottesanbeterin angriff. Diese wehrte sich verzweifelt indem sie ihre dünnen Beine gegen die Richtung stemmte, in die die Räuber sie zerren wollten. Der Kampf dauerte nicht lange, dann hatten etwa 6-8 Ameisen dieses Tier so zugerichtet, daß sie es im Triumph abtransportieren konnten. Die Gottesanbeterin muß um ein Hundertfaches größer als ihre Gegner gewesen sein. Friede ihrer Asche. Die große Ameise lebt auch bei mir auf der Terrasse. Sie kommt manchmal, ohne klar zu verstehen zu geben, was sie will. Sie muß fünfzigmal so groß sein wie ihre kleine Schwester. Sie schleppt auch viel größere Lasten, die sie mit einer gewissen Sinnlosigkeit im Kreise herum trägt, um sie dann gelegentlich wieder fallen zu lassen, als hätte sie das Interesse verloren. Da dieser Typ Ameise recht unauffällig auftritt und ausreichende Transportkapazitäten  aufweist, würde ich den inseltürkischen und –griechischen Geheimdiensten empfehlen, diese als Aufpasser unter Vertrag zu nehmen. Zumindest würde man dadurch in Kürze unendlich viel mehr über die faszinierende Tierwelt Zyperns erfahren, als dies der Fall ist, wenn man nur ab und an nach diesen Erdbewohnern forscht.
Als ich aus gesundheitlich bedingten Gründen erst nach fast einem Jahr wieder auf die Insel gekommen war, hatte ich meine Vorliebe für Ameisen vollkommen vergessen. In Zentraleuropa scheint es eine Vielzahl von Ameisenarten zu geben, wobei die gemeine Waldameise, diejenige ist, die jedes aufmerksame Kind auf dem Weg zur Schule zu sehen bekommt. Andere Arten sind Teile des Herrschaftswissens von Biologen und ehrgeizigen Naturkundlern. Sie finden sonst kaum Interesse. In Zypern sind Ameisen die stillen Teilhaber menschlicher Existenzen. Sie säen nicht, aber sie ernten, und bei ihnen gibt es noch eine Moral. Oder hat jemals jemand ein Ameisenpaar beim Kopulieren erwischt? Ich nicht. Das kann natürlich damit zusammenhängen, daß Ameisen überhaupt nicht kopulieren. Aber, was tun sie dann? Als ich einen ersten Rundgang durch das für einige Monate verlassene Haus machte, fiel mir auf, daß die Wände von meinen Freunden als eine Art Autobahn benutzt wurden, was mich nicht sonderlich befremdete. Kreuz und quer pesten sie über die Wände.  Die Gründe hierfür blieben mir bis heute schleierhaft. Die Ameisen schienen mir allerdings etwas abgemagert. Befanden sie sich auf der Suche nach Nahrung? War es deshalb ein Zufall, daß mir während des Frühstücks auf der Terrasse, am anderen Morgen, ein großer Batzen Quittengelee auf den Boden fiel? Ich freute mich für meine Hausgenossen und wartete, was passieren würde. Nun, es dauerte nicht lange, und meine sechsbeinigen Treterchen, die von der Mittelschicht, nicht die ganz kleinen, hatten sich versammelt, um den unerwarteten Brocken in Augenschein zu nehmen. Alsbald begann der Abtransport, wobei ich einige der am wenigsten fleißigen im Verdacht hatte, einen Großteil ihrer Beute vor Ort selbst zu verzehren, was in der ameislichen Gesellschaftsordnung nicht vorgesehen ist. Auch hier sind die Dinge nicht mehr was sie einmal waren.
Nach einer guten Stunde, ich hatte gerade die Sachen gerichtet, um zu einem Bad im Mittelmeer aufzubrechen, schaute ich noch einmal nach meinen Freunden. Ihre Zahl war geringer geworden. Wie konnte das kommen? Etwa 20 bis 30 schafften noch Quitte in ihre Behausungen, die anderen müssen ihre Pläne kurzfristig geändert haben. Der Vorrat an Süße – können Ameisen zwischen Quitte und, sagen wir, Kirsche wirklich unterscheiden? – war vielleicht zu groß geraten. Dann könnte es sich darum handeln, daß die Immerfleißigen zuerst eine Strategie  entwickeln möchten, wie man den besonders kostbaren und seltenen Quittengeleeberg innerhalb der nächsten drei Tage (und Nächte?) abtragen könne. Diese Diskussionen brauchen Zeit. Ich  werde an der Sache dranbleiben, denn Einblicke in die Welt der sympathischen Krabbler sind doch eher selten.
Jetzt erkenne ich zwei meiner kleinen Ameisen vom Vorjahr wieder. Die Zwergleute unter den Winzlingen hatten sich mutig bis an den Geleevorrat herangepirscht, als einer der Platzhirsche entschlossen auf sie zusprang und ihnen den Weg verstellte. Ich wußte, daß ich mich nicht einmischen durfte. „Small“ mag noch so „beautiful“ sein, klein ist klein und groß ist groß, und Gerechtigkeit ist ein abstrakter Begriff, auch bei Ameisen. Die Kleinsten konnten nicht einmal schnell genug rennen, um der Bedrohung durch ihre habgierigen großen Schwestern zu entkommen. Sie flüchteten in eine unsichtbare Ritze und warteten, bis der Spuk vorüber war.  Am nächsten Morgen, es war noch nicht 7 Uhr, die Temperaturen waren in der Nacht auf angenehme 18C° gefallen, machte ich als erstes einen Gang auf die untere Terrasse. Die Hunde hatten mit dem frenetischen Bellen aufgehört. Von Ferne hatte es herüber geklungen, als wäre eine Katze in einen Hundeharem eingebrochen. Sofort sah ich den gelblichen Batzen Gelee, seit gestern um ein gutes Drittel verkleinert. Weit und breit war keiner der wuseligen Schlecker zu sehen. Das änderte sich in dem Augenblick als die Rufe des Muezzin etwas verschlafen, und selbstverständlich vom Band gespielt, zu mir herüber drangen. Noch etwas staksig und unsicher bewegten sich zwei Ameisen auf den süßen Hügel zu. Sie mußten auf Erkundungstour geschickt worden sein, denn sie rührten nichts an. Ich vermute,  die Arbeitszeiten sind so geregelt, daß beim ersten Sonnenstrahl die Abschleppdienste wieder funktionieren. Von meinen „sugar ants“, den angeblich aus Südamerika eingeschleppten Winzameisen, habe ich nichts mehr gesehen. Das Geschäft muß ihnen eine Nummer zu groß gewesen sein.
Der dritte Tag der Quittenausgabe war angebrochen. Eine einzige Ameise tanzte unschlüssig um den verbliebenen Haufen herum. Ich beschließe, mit einem Löffelchen den süßen Batzen aufzuheben und in den Garten zu werfen, um dem peinlich gewordenen Spiel ein Ende zu bereiten. Ich höre die Ameisen geradezu flehen: „Wir schaffen es nicht mehr. Seit der letzten Naturkatastrophe (meine Tochter hatte im April die Terrasse gefegt) sind wir nur noch einige Hundert. Nur mit Mühe können wir den normalen Betrieb aufrecht erhalten“. Ich muß an Fräulein Ditmar denken, meine geliebte betagte Lehrerin, vor endlosen Zeiten verstorben. Ich war etwa 10 Jahre alt, als sie mich in einer privaten Angelegenheit sprechen wollte. Seit kurzem hatte sie ein junges Kaninchen in ihrem Haus, das sie liebevoll fütterte. Es hüpfte fröhlich im Wohnzimmer herum und durfte in ihrem Lieblingssessel Platz nehmen.  Da wir Nachbarn waren, fragte sie mich, ob ich nicht gelegentlich in den nahen Wiesen etwas Löwenzahn sammeln könne, es sei doch Frühling und Kleingeorg liebe diese Pflanze besonders, was mir bekannt war. Ich würde mein Taschengeld aufbessern können, denn für jedes Spankörbchen Löwenzahn bekäme ich 5 Pfennige. Fräulein Ditmar muß sich einen großen Vorrat an solchen Münzen besorgt haben, denn sie zahlte regelmäßig und bar. Nach einer gewissen Zeit – ich hatte ihr ein Körbchen nach dem anderen gebracht, denn ich wollte schnell reich werden, - sagte sie mir freundlich: „ich gebe dir die 5 Pfennige gerne weiterhin, aber wir schaffen es nicht mehr“. Dabei schauten Fräulein Ditmar und Kleingeorg mich so ehrlich an, daß ich auf diese Geldquelle freiwillig verzichtete, schließlich wollte ich nicht nur einmal reich, sondern auch ein Edelmann werden. Meine Ameisen müssen vor einem ähnlichen Dilemma gestanden haben. Ich habe meine Lektionen im Leben immer noch nicht gelernt. Zum Schluß, - ich muß irgendwie versuchen aus dieser Ameisensaga wieder herauszukommen, -  möchte ich alle warnen, sich über die Kleinheit dieser Tiere lustig zu machen. Erstens liebe ich sie, zweitens gibt es Abermilliarden davon auf der Erde. Wer sagt uns, daß wir es nicht sind, die wie lächerliche Riesen dastehen? Eine dusselige Minderheit, die geschützt werden muß? Viel zu groß, um in eine kuschelige Ritze zu passen. 
Ein Nachsatz zum Thema Ameisen: Bei einer mehrstündigen Wanderung durch die Kyreniaberge, begleitet von einer quirligen Schottin, die 13 Jahre in Tasmanien zugebracht hatte, mußte ich erfahren, daß tasmanische Ameisen, die „Bull ants“ die Größe von 1,5 Inch aufzuweisen haben. Was sind anderthalb Inch? Ich weiß es nicht. Die Erzählerin sagte mir auch nicht, was sie 13 Jahre lang in Tasmanien gemacht hat. Kennern muß ich nicht erläutern, daß Tasmanien zu Australien gehört. Schon aus diesem Grund hätte ich sie fragen sollen, warum sie in Tasmanien war. Klavierunterricht? Ärzte ohne Grenzen? Oder einfach nur der Versuch, mit wenig Geld einen längeren Urlaub zu gestalten?

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