Nein, wusste ich nicht. Als ich in die Sexta ging - so hieß die erste Gymnasialklasse - merkte ich, dass meine Klasse eine gemischte war. Jungs, in der Mehrzahl, und Mädchen. Mit meinen 10 Jahren hatte ich kein Recht, nach den Mädchen zu schielen. Tat ich aber doch. Es gab in der Klasse damals drei Frauen, die mir ans Herz gingen: da war das Dorle, winzig klein mit blonden Zöpfen. Ihr mächtiger Vater war Apotheker. Sie konnte mich mit ihren großen Augen anstarren, ohne ein Wort mit mir zu wechseln. Dann Rosa, ein Name, der auch damals schon einen kleinen Jungen nicht anmachen konnte. Aber in den Pausen spielten wir oft zusammen. Sie war diejenige, die nach meinen Vorstellungen unbedingt Lehrerin werden musste: sie war intelligent, aufrecht und hatte Führungsqualitäten. Um es kurz zu machen: als ich wegen Umzuges meiner Eltern diese Schule verlassen musste, drückte mir Rosa so fest die Hand, dass ich annahm, wir hätten ein Paar werden sollen. Ich sah sie nie mehr. Auch ihre Zöpfe waren blond.
Die dritte Frau in meinem jungen Leben aber, war ein stiller Vamp. Sie hieß Karin, war etwas adelig, mit einem "Von" im Namen und dunklem kurzem Haar. Ich war ihr von Anfang an verfallen, als sie von unserem Klassenlehrer, Professor Emlein, vorgestellt wurde. Schüchtern wie ich war, wagte ich es nicht, mit ihr zu sprechen. Schüchtern, wie sie war, schaute
sie an mir vorbei, wenn ich ihren Blick suchte. Sie schien aus einer anderen Welt zu kommen. Viele Jahre später, als ich ihren Namen in der Zeitung las, - ihr Vater war eine bekannte Persönlichkeit - war mir klar, dass Klein-Karin wohl mit ihren Eltern aus dem Ausland zugezogen war. Eine jüdische Familie mit deutsch-jüdischen Wurzeln. Da ich selbst mehrere Male die Schule wechseln musste, verstand ich, dass Karin damals keinen Sinn für verliebte kleine Jungs haben konnte. Es gibt mehr Begegnungen im Leben, die unvollendet bleiben, als solche, die zu etwas führen.
Meine Herkunft musste im Dritten Reich durch meine Eltern bis auf 200 Jahre zurück ermittelt werden, wegen der arischen Herkunft, die dann auch mehr oder weniger durch Taufurkunden und Ähnliches abgesichert war. Ich gehöre also zu einer Rasse, die man unideologisch als germanisch bezeichnen konnte. Das genügte zum Ausgrenzen von all den anderen, von denen es in meinem Land ohnehin nicht mehr viele gab: etwa 5000 Afrikaner, die irgendwo unsichtbar in der Berliner U-Bahn schufteten, vielleicht ebensoviele Juden, die versteckt wurden, zahllose Komunisten, Zeugen Jehovas, Zigeuner, Homosexuelle und Behinderte, die jeden Tag um ihr Leben bangen mussten, und von denen nur einige überlebten. Ein Freund meines Großvaters erschoss sich, als die Nazis ihn entdeckt hatten. Fünfzig Jahre später merkte meine Tante an, dass Herr Neumann Jude war.
Dann kam die Zeit, wo ein junger Mann anfängt, Bücher zu lesen. Karl May, natürlich, auch Trotzkopf, und Ernst Jünger, dem Sympathien für rechtes Gedankengut nachgesagt hatte. Ich verschlang seine Bücher. Jemand gab mir ein Buch von einem Stephan Zweig. Was für ein Autor. Was für eine schreibende Persönlichkeit. Man ist mit dem Bücherlesen oft ganz allein, kann nicht mit anderen darüber reden. Nach vielen anderen Lektüren und Jahren erfährt man dann, dass der geliebte Karl May ein Gesetzesübertreter war, mit einem eindeutigen Hang zum männlichen Geschlecht. Aber, hallo! Wie ist das möglich? Der Faschismus hat Homosexuelle als abartig bezeichnet, obwohl die sentimentale Bildung eines deutschen Jungen fast ausschließlich über Karl May und seinen Freund lief, nämlich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. So oder ähnlich. Und Stephan Zweig war Jude.
Dann habe ich mich in Hannah Arendt verliebt, Leonard Bernstein, und viele andere. Sigmund Freud muss ich jetzt nicht erwähnen. Ich könnte weitere prominente Juden aufzählen und - mehr und mehr - würden sich Namen hinzu gesellen, die entweder zu Juden gehören, oder zu Nichtjuden. Wo ist der Unterschied? Mein erster Kontakt zu einem russischen Radiosender lief über einen Juden: Radio Echo Moskau. Immer noch ein Protestradio in Russland. Auch Putin kann daran nicht rühren. Deshalb will ich nicht wissen, ob jemand homosexuell, katholisch, muslimisch oder sonst etwas ist. Es gilt die Unschuldsvermutung. Die meisten Menschen wissen ohnehin selbst nicht, wer sie sind. Und die meisten schaffen es nicht, es bis zum Ende ihres Lebens herauszufinden.
|
Sie heißt RITA JAHAN-FARUZ, Sängerin iranischer Herkunft mit jüdischen Wurzeln, in Israel und Iran sehr populär. |
Und, was es immer wieder gibt: Menschen, die sich nicht ausgrenzen lassen. Zur Zeit scheint es ungeschickt, für Putins Politik einzutreten. Heißt das auch, dass Russen unsere Verachtung verdienen? Wir dürfen bei Beurteilungen heute andere Kriterien zu Rate ziehen. Nationalität, Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft sind verstaubte Hilfsmittel. Manès Sperber, der Jude, welcher Glaubensrichtung gehörte er an? Er stammte aus Ostgalizien, das heute zur Ukraine gehört. Er wurde Österreicher, ging nach Berlin, dann nach Paris und schrieb meist auf Deutsch. Der Individualspychologe, der mit Alfred Adler zusammenarbeitete und sich von diesem trennte, verließ auch die kommunistische Partei. Er lebte in der stürmischen Zeit des Nationalsozialismus und kann über alles berichten. Was war er nun? Seine Schriften sind das, was man benötigt, um die Jahre des Faschismus zu vertsehen. Sie habe eine gute Freundin, die ich auch gut kenne und schätze, sagte mir meine Frau neulich. Diese sei Jüdin. Ich wusste es nicht. Ich hatte diese Freundin schon immer ins Herz geschlossen und wusste vieles über sie. Sie ist also Jüdin. Für einen "Germanen" oder "Teutonen" der "unschuldigen" Generation scheint dies aber immer noch ein Problem zu sein. Für mich nicht.