Montag, 30. Januar 2012

Zähne können ganz schön klappern




wenn sie, ungepflegt wie sie oft sind, auch noch sonst total vernachlässigt werden. Halt! Nein, ich bin nicht Zahnarzt, und mein altersmäßig ziemlich weit vorgerücktes Gebiss funktioniert wie ein elfenbeinerner Marathonkauer. Dennoch fangen die meinen manchmal an zu klappern, wenn sie auch beim Öffnen meines Rechners schon mit Werbung zugeschüttet werden. Da flimmern die Bilderchen nur so herum. Manchmal ertönen auch Laute, die man dann ganz schnell wegschalten muss. Der Vorteil dieser ungefragten Bebrabbelung mit Werbemüll ist jedoch, dass der Mensch lernen kann, sich so total gegen alle Reklame zu immunisieren, dass er alles kaufen würde, NUR NICHT DAS ANGEPRIESENE PRODUKT. Verstanden?

An einem Sonntag Morgen - draußen wabern noch die Nebel - kann es ganz schön auf den Geist gehen, eine zahnärztliche Werbung zu lesen, die etwa so lautet: "Hervorragender Kaukomfort. So schmeckt das Essen wieder. Herausnehmbare Brücken, statt Klammerprothesen, die nicht halten und den ganzen Gaumen abdecken". Wo dieser werbende Dentalbohrer angesiedelt ist, verrate ich nicht, denn ich möchte nicht auch noch der Schleichwerbung bezichtigt werden. Fehlte gerade noch, dass demnächst einer auf die Idee kommt (ich weiß, es ist noch verboten), sich für die pflegeleichte Entsorgung eines Blinddarmes ins Zeug zu legen. Oder: "Bei Zangengeburten geben wir drei Prozent Rabatt, wenn gleichzeitig die Zähne reguliert werden". Beißen sie zu!

Wissen diese Ritter des Mehrwertes nicht, dass die etwas Helleren unter den Medienopfern eher so gelobtes Produkt vernichten würden, als es kaufen? Oder, zeigt die Erfahrung, dass solche Methoden dennoch wirken? Dann möchte ich auswandern. Aber wohin? Es gibt sturmfreie Buden, aber zahnfreie? Werbung kann ihren Sinn haben, verkaufsfördernd ist sie nicht. Wir haben schon zu viel davon mitgekriegt. Sollte sie rein informativ sein und auf lügenhafte Schmeicheleien verzichten, können wir hinsehen oder hinhören. Das Anpreisen einer Ware macht müde und aggressiv. Spart doch eure Werbung! Der Etat dafür könnte an all die gehen, die sich den Kauf nicht leisten können. Der Mensch möchte zwar träumen, aber auch verwirklichen können. Dazu reicht dann das Geld nicht. Wenn man ohne Geld glücklich sein kann, pfeift man zu allererst auf die zweifelhafte Werbung. Wenn man es nicht kann, tauchen immer neue Wünsche auf. Das meiste wird jedoch nicht gebraucht.

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 11




Tina war wieder in Istanbul und hatte gerade ihre Reisetasche in der Diele ihrer Wohnung abgesetzt, als das Telefon läutete. Es war Ahmet. „Tina, ich bin froh, dass du zu Hause bist. Ich warte seit gestern Abend auf dich. Öffne bitte die Tür, denn in 3o Sekunden werde ich bei dir sein“. Tina hatte keine Zeit, sich zu freuen, denn  Ahmet  kam schon die Treppe heraufgestürmt, einen riesigen Strauß Mimosen in der einen, ein kleines Mobilfon in der anderen Hand. „Kristina Petropoulos, willst du meine Frau werden? Du wirst keine Chance haben, nein zu sagen. Du musst mich auch nicht heiraten, wenn du nicht willst. Du musst mich nur ertragen, wie ich bin.“ Tina hatte bereits ihrer praktischen Veranlagung nachgegeben und seelenruhig Ahmets Krawatte von seinem Hals gelöst und begonnen, ihm Jacke und Hemd abzunehmen. Als hätte sie das alles erwartet. Sanft glitten sie zu Boden und hielten sich umschlungen. Ahmet barg sein Gesicht an Tinas Brust und weinte. „Ich liebe dich und euch euch alle“, hauchte er, „Arda, Leila, Turgut, Jane, Nikos, Can, Hakan und du bist meine geliebte Tina, meine Tina.“



Acht Jahre ist es her, dass ich mit dieser Geschichte vertraut bin. Die Zeit zum Aufschreiben fehlte mir. Lange habe ich gezögert, weil das Ende dieser Begebenheiten eher ein Anfang war. Tina kam mit dem Interview des damaligen Präsidenten Denktasch groß heraus. mehrere britische Blätter haben es, auch auszugsweise, abgedruckt. Ahmet ist meines Wissens immer noch im türkischen Außenministerium beschäftigt, und Hakan, der jüngste  Sohn Ahmets und Ardas hat gerade beschlossen, in Nikosia ein Studium zu beginnen und griechisch zu lernen. Die Hauptstadt Zyperns ist immer noch geteilt, aber viel durchlässiger geworden. Der Norden der Stadt wirkt weniger provinziell. Der griechische Süden gehört der Europäischen Union an, wovon auch der Norden profitiert. Aber die Probleme sind nicht gelöst. Ahmet und Tina sitzen oft zusammen und überlegen, wie sie neue Ideen einbringen könnten, die beiden Teile Zyperns wieder einander näher zu bringen. Vor kurzem ist der alte Präsident der türkischen Zyprer, Rauf Denktasch, gestorben. Erzbischof Makarios, der bei den Anfängen der Auseinandersetzungen zwischen den griechischen und den türkischen Zyprern eine fatale Rolle gespielt hatte, ist ebenfalls lange tot. Werden neue Generationen die Hürden überwinden können? Ahmet und Kristina sind ein stolzes Paar. Wenn sie nach Zypern kommen, verstecken sie sich nicht mehr vor den Menschen. Sie legen Wert darauf, jedem zu zeigen, dass Zyprer beider Ethnien glücklich miteinander leben können. Ich werde sie hoffentlich bei einem meiner nächsten Besuche in Istanbul, Ankara oder Girne/Kyrenia, der Perle Zyperns, wiedersehen.

                                                                           ENDE

Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 10




Tina saß am Pool, der nicht beleuchtet war, und wartete im Dunkeln bis sie ein Geräusch wahrnahm. Es war Leila. „Was machst du hier?“ fragte sie ohne jeden Vorwurf. Tina sagte nur: „Ich denke nach.“ „Willst du nicht ins Haus kommen, wir könnten etwas trinken?“ „Ich warte lieber hier, bis ich die nötige Bettschwere bekomme, um schlafen zu gehen.“ Leila war etwas überrascht, akzeptierte aber Tinas Wunsch. Als Tina fühlte, dass Ahmet nicht mehr kommen würde, beschloss sie, in ihr Zimmer zu gehen. Sie ließ die Tür zur Eingangshalle, sowie ein Fenster geöffnet, um in der Nacht eventuell etwas hören zu können. Lange lag Tina wach, und es geschah nichts. Dann hörte sie das Telefon, das in der Halle stand. Sollte sie versuchen, das Gespräch anzunehmen? Leila war schneller am Apparat und stieß einen freudigen Laut aus: „Ahmet, du? Wo bist du?“ Dann lauschte sie lange in den Hörer, während Tina sich wieder in ihr Bett zurückzog und abwartete. Sie hörte Leila noch sagen: “Tina ist bei mir, kann ich ihr alles erzählen?“ Dann legte sie auf und kam sofort an Tinas Tür. „Schläfst du?“ „Nein, komm rein!“ Leila öffnete vorsichtig und sagte: “Ahmet ist in Zypern. Er konnte dich nicht sehen, weil er eine wichtige Besprechung hatte, die mit dem Zypernproblem zusammenhängt. Wir sollen ihn morgen in Nikosia treffen. Ich habe die Adresse. Willst du nicht mit mir feiern, dass mein Brüderchen sich wieder gemeldet hat? Ich weiß, dass dich das nicht mehr interessiert, du könntest mir aber Gesellschaft leisten.“ „Natürlich komme ich“, sagte Tina, „weiß Arda, wo Ahmet ist?“ „Er hat sie erst heute angerufen“, sagte Leila und schloss ihren Morgenrock enger. Tina folgte ihr gähnend und setzte sich erschöpft in einen Sessel. Nach einigem fröhlichen Hin und Her wurde Leila plötzlich ernst und sagte: „Arda ist auf Ahmet nicht gut zu sprechen. Sie wirft ihm vor, alles vernachlässigt zu haben, die Kinder, die Familie, die Arbeit, sich selbst. Außerdem scheint er durch seine immer rätselhafteren Tätigkeiten in Schwierigkeiten zu kommen.“ Der Minister schenke ihm zwar volles Vertrauen, überfordere ihn jedoch mit Ansinnen, die in vielen Jahren nicht bewältigt werden konnten, während jetzt alles ganz schnell gehen müsse. Leila wusste nicht genau, worum es ging, aber Tina konnte sich denken, dass die notwendige Annäherung zwischen Nord und Süd das Hauptthema war. In über 20 Jahren hat es zahlreiche Zuspitzungen gegeben, die leicht zu einem militärischen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei hätten führen können. Die Situation auf der Insel spiegelte das wider, was in den beiden Ländern ohnehin nicht funktionierte: Das gutnachbarliche Verhältnis zweier Länder, die auch noch demselben Militärbündnis angehörten. Vielleicht war es diese Einbindung in die NATO, die Schlimmstes bis jetzt verhindern konnte.
Als Journalistin hatte Tina natürlich Zugang zu politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die sich oft nur sehr verkürzt und verfälscht in den Medien widerspiegelten. Viel Wichtiges wurde dabei ignoriert, weil es nicht als aktuell galt. Sie war neugierig auf Ahmets Bericht, verstand aber schon im Voraus, wenn er nicht viel zu seiner Tätigkeit sagen konnte. Leila schlug vor, am späten Nachmittag schon nach Nikosia zu fahren und die eine oder andere Sehenswürdigkeit flanierend zu besichtigen. Tina, die nicht einmal den größeren griechischen Teil Nikosias gut kannte, war sehr aufgeregt, als sie den heute türkischen Nordteil der Hauptstadt sah. Er wirkte sehr provinziell. Leila führte sie entlang des venezianischen Festungsringes, zeigte ihr im Vorbeigehen das Haus des nordzyprischen Präsidenten, die kleine und  die große Karawanserei, deren Restaurierung seit Jahren im Gange ist, dann ging der Weg direkt zur Selimiye-Moschee, die von den Osmanen durch Anbau zweier Minarette ihren gotischen Charakter nicht verloren hatte. Im 14. Jahrhundert war die größte gotische Kathedrale Zyperns die Krönungskirche der fränkischen Lusignans, einer französischen Adelsfamilie, die sich bis 1489, also fast dreihundert Jahre an der Macht halten konnte, bevor die Venezier kamen. Tina hatte das alles in der Schule gelernt. Ihr Vater hatte damals großen Wert darauf gelegt, die Rolle der Osmanen, die ebenfalls dreihundert Jahre in Zypern geherrscht haben, bis 1878, so gut es ging zu schmälern. Dass er diese Moschee früher nur die Kathedrale der heiligen Sophie nannte, war ihr damals nicht aufgefallen. Jetzt konnte sie sich damit abfinden, dass ein Teil ihrer Heimat eine klar umrissene türkisch-zyprische Identität besaß. 



Es blieb  nicht mehr viel Zeit, denn Leila und Tina mussten sich zur türkischen Botschaft aufmachen, wo sie Ahmet treffen sollten. Sie lag jenseits der Stadtmauern, aber der grünen Linie so nahe, dass man den griechischen Teil der Stadt gut sehen konnte. Der einzige Übergang war ganz in der Nähe. Er vermittelte ein Gefühl von Verlorenheit und Trauer. Die Ankunft am Botschaftsgebäude war zunächst mit Kontrollen verbunden. Dann mussten sie  einige Zeit in der Halle warten, wo große Betriebsamkeit herrschte. Ein Herr im dunklen Anzug führte die Frauen in einen kleinen Salon, in dem schon mehrere Männer warteten. Als eine Tür sich öffnete, erkannte Tina sofort den türkischen Außenminister, der von seinem türkisch-zypriotischen Kollegen begleitet wurde. Ahmet folgte ihnen in kurzem Abstand und wies zwei der wartenden Männer an, den Ministern die Tür zu öffnen und sie hinaus zu geleiten. Von den beiden Frauen wurde keine Notiz genommen. Nur Ahmet blieb stehen und wußte nicht, ob er seine Schwester zuerst begrüßen sollte, oder Tina, die wie angewurzelt vor ihm stand. Ahmet entschied sich für Tina, beeilte sich dann aber, Leila herzlich in die Arme zu schließen. Es ähnelte einem diplomatischen Ritual, wie Tina es schon oft beobachtet hatte. 
„Stört euch nicht daran, dass uns zwei Leibwächter folgen werden, wenn wir die Botschaft verlassen. Ich denke, dass wir trotzdem die Möglichkeit haben werden, miteinander zu sprechen. Notfalls tun wir es auf Englisch. Jetzt haben wir Zeit. Lasst uns in ein schönes Restaurant gehen, das hier ganz in der Nähe erst vor kurzem eröffnet hat.“ Leila und Tina hatten sich diese Begegnung nach Wochen der Ungewissheit etwas weniger protokollarisch vorgestellt, sich aber damit abgefunden. Sie betraten ein fast leeres Gasthaus. Der Wirt kam sofort auf Ahmet zu und begrüßte ihn herzlich. Die Leibwächter nahmen in einigem Abstand an einem Tisch Platz und fingen an zu rauchen. 


Das Essen begann mit zyprischen Mezes, einer ganzen Reihe kleiner Schüsselchen mit vielen  verschiedenen Speisen wie rote Bete, Tahin, Humus, Böreks, Halumikäse, Sellerie, Auberginen in Öl, gefüllter Paprika, gefüllte Weinblätter, Tintenfisch, Fleischbällchen, Gurken, Käse und geröstetes Brot. Tina wußte nicht wie sie sich verhalten sollte. Sie war mit Ahmet immer allein gewesen, in Gesellschaft anderer konnten sie nicht ungehemmt über ihre große Liebe sprechen. Dabei war dieses Thema alles andere als erschöpft. Dass sie Ahmet zuletzt abgewiesen hat, bedeutete ihr nichts mehr. Es war ohnehin eher eine Tat der Verzweiflung als eine ernsthafte Trennung gewesen.  Ahmet war wieder sehr schüchtern. Es war Leila, die sich an Ahmet wandte, um ihn zum Sprechen zu bringen. „Was sagst du dazu, dass Tina seit drei Tagen bei uns in Ozanköy ist?“ „Ich wusste es,“ sagte Ahmet, „seit unser Zusammentreffen bekannt wurde, hat eine gewisse Stelle in meinem Ministerium jeden unserer Schritte verfolgt. Ich habe dies auch erst vor kurzem durch einen Zufall erfahren. Als Tina nach Ercan flog und von dir abgeholt wurde, fragte man mich diskret, was dies zu bedeuten habe. Ich wusste natürlich nichts davon und beschloss, möglichst bald nach Ozanköy zu fahren, um Näheres herauszubekommen. Dabei fand ich Tina im Garten, und ich beschloss, unser Treffen von heute entsprechend vorzubereiten.“ Tina bemerkte, dass Ahmet es unauffällig geschafft hatte, sein Knie dem ihren unter dem Tisch anzunähern. Tina empfand diese Geste wie einen leidenschaftlichen Kuss, den sie mit ihrem Knie aufs eindeutigste erwiderte. „Es geht mir gegenwärtig nicht gut“, sagte Ahmet. „Wir stecken mitten in Verhandlungen mit der griechischen Seite, um den Dialog über eine Annäherung wieder konkret werden zu lassen. Die große Unbekannte ist immer die andere Seite, von der man nur ahnen kann, ob sie es ernst meint. Ich habe mich da persönlich voll eingesetzt und einen ersten kleinen Erfolg erzielt, deshalb kam auch gleich der Minister aus Ankara, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Es ist allerdings noch verfrüht, etwas nach außen dringen zu lassen.“ Ahmet blickte dabei Tina an, die als Journalistin jedoch genau so zuverlässig sein würde wie seine kleine Schwester. „Tinas Entscheidung, sich von mir zu trennen, hat mich in einen fürchterlichen Zustand versetzt, gerade auch, weil ich wusste, dass für mich auch beruflich vieles auf dem Spiel stand. Ich hatte den Glauben an meine Tätigkeit im Ministerium völlig verloren. Dazu kommt jetzt, dass Arda mir mitgeteilt hat, sie wolle sich scheiden lassen. Ich bräuchte jedoch nicht um die Kinder zu kämpfen. Eine Lösung müsse gefunden werden, um ihnen den Vater zu erhalten. Das ist alles zuviel für mich“. Zu Tina gewandt, sagte er: „Ich brauche dich. Du darfst mich nicht abweisen. Ich gehe daran zugrunde.“ Ahmet sah sehr verzweifelt aus. Leila sagte: „Du wirst das alles schaffen. Wir werden dir zur Seite stehen. Ich werde erst einmal nach Ankara fahren, um bei Arda und den Kindern zu sein. Tina, du solltest Ahmet vielleicht nicht sehen, bis die ganze Sache geregelt ist. Aber er braucht dich, und du musst dir Gedanken machen, wie ihr euer Leben organisieren wollt“. Eine gewisse Erleichterung machte sich bemerkbar. Das Essen wurde ohne großen Appetit fortgesetzt und mit einem Kaffee abgeschlossen. Dann begleitete Ahmet mit seinen Leibwächtern die beiden Frauen zu Leilas Auto  und sagte, er würde vor seiner Rückreise vom Hotel aus nochmals telefonieren. Tina wollte noch einen Tag mit Leila verbringen und dann wieder nach Istanbul zurückfliegen. Ahmet küsste Tina und Leila etwas förmlich, dann verabschiedete er sich.
Fortsetzung folgt.

Sonntag, 29. Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 9



Nicht ohne Stolz führte Leila ihren Gast zu Fuß hinauf zum ehemaligen Prämonstratenser-Kloster von Bellapais, einem verfallenen gotischen Bau im levantinischen Stil aus dem 13. Jahrhundert. Eine gute halbe Stunde zu Fuß genügte, um diesen idyllischen Ort zu erreichen, in dem in den Fünfzigerjahren auch der britische Schriftsteller und Zypernfreund Lawrence Durrell wohnte. Sein Haus ist heute noch zu besichtigen. In seinem Buch „Bittere Limonen“ beschreibt er ausführlich den „Tree of Idleness”, den “Baum des Müßiggangs“, der seit Jahren als Gasthaus von ganzen Schwärmen von Touristen aufgesucht wird, was die Qualität des Essens nicht gerade positiv beeinflusst. Das alles liegt mitten in palmenreichen Gärten mit blühenden Bäumen aller Art. Tina ließ sich von Leila alles erklären und freute sich über diesen herrlichen Morgenspaziergang. Im Dorf war auch ein kleines orthodoxes Kirchlein zu sehen, das darüber hinwegtäuschte, dass es seit über 20 Jahren keine Gläubigen mehr gab, die es hätten aufsuchen können. Leila schlug vor, zum Mittagessen mit dem Wagen nach Kyrenia zu fahren und am Hafen frischen Fisch zu essen. Der Harbour Club schien der richtige Ort für die immer noch in Hochstimmung schwelgenden Freundinnen zu sein. Das Essen war hervorragend, und der Blick über den halbmondförmig angelegten Hafen und das venezianische Kastell beeindruckten Tina. An einem kleinen Tisch gegenüber saß  ein Herr, der gelegentlich herüberblickte, als wolle er den Damen seine Referenz erweisen. Tina hatte den Eindruck, diesen Mann schon gesehen zu haben, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo das war. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, ohne dies Leila gegenüber zu erwähnen.  Am späten Nachmittag erhielt Tina den versprochenen Anruf aus Nikosia. Der Präsident konnte sie nicht zu einem Interview empfangen, sagte eine freundliche Frauenstimme. Der Zeitpunkt sei gerade nicht sehr günstig. Man würde sie in einigen Wochen vielleicht wieder kontaktieren, denn der Präsident sei durchaus an einem solchen Interview interessiert. Tina konnte das nicht ganz verstehen. Vor allem britische Zeitungen waren im Prinzip für solche Informationen zu haben, wenn zu erwarten war, dass neue Aspekte in der Zypernfrage auftauchten.



Da die vergangene Nacht recht kurz war, beschlossen Tina und Leila früh schlafen zu gehen und am Abend nichts mehr zu unternehmen. Tina wollte sich noch den herrlichen Garten anschauen, obwohl ein frischer Wind wehte, der sie leicht frösteln ließ. Sie setzte sich auf eine Bank am Schwimmbecken, das von unten türkisfarben angestrahlt war. Es gingen ihr politische Überlegungen durch den Kopf, die im Gegensatz zu ihrer romantischen Stimmung standen. Irgendwie versuchte sie, sich eine Wiedervereinigung zwischen Süd und Nord vorzustellen. Wie sollte das funktionieren? Auf beiden Seiten herrschte Hass und Bitterkeit über das Vergangene. Jede Seite befürchtete, von der anderen übervorteilt zu werden. Die existenziellen Ängste der türkisch-zyprischen Minderheit konnte sie gut verstehen. Auch den nicht ganz unschuldigen Patriotismus ihrer eigenen Landsleute. Wäre es nicht am besten, beide Volksgruppen würden getrennt voneinander ihre Staatswesen verwalten und im Schutze der eigenen Autonomie so etwas wie Völkerfreundschaft üben? Tina fragte sich mal wieder, ob aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt werden kann. Sie spürte, dass sie dabei war, ein Interview mit Denktasch vorzubereiten. Plötzlich wurde sie von hinten sanft umschlungen. Einem kurzen Schreck folgte  freudiges Erstaunen und Jubel: es war Ahmet. Tina war außer sich. Wie war das möglich? Ahmet küsste sie so leidenschaftlich, dass sie vergaß, wie sie sich in Istanbul getrennt hatten. „Liebste, kein Wort zu Leila! Ich muss gleich wieder gehen. Du und ich werden überwacht. Ich erkläre dir alles in wenigen Tagen. Ich habe einen schwierigen Auftrag. Sei bitte morgen um die gleiche Zeit hier am Becken. Du bekommst dein Interview. Ich liebe dich.“ Ahmet verschwand im Garten. Tina war atemlos vor Glück. Leila rief nach ihr, um ihr noch etwas zum Essen anzubieten, aber Tina beschloss, ohne  Umschweife in ihr Zimmer zu gehen. Sie konnte gerade noch unter leichtem Erröten Leila eine Gute Nacht wünschen und sich für den schönen Tag bedanken. Diese Nacht würde sie wohl wieder nicht schlafen können. Aber sie war überglücklich, und sie musste über alles nachdenken. Sie wusste, dass sie in jenem Bett lag, in dem Ahmet als Junge geschlafen hatte. Tiefe Behaglichkeit durchströmte sie.
Wie ein kleines Mädchen freute sich Tina auf den nächsten Tag. Wie würde sie es schaffen, wieder allein und unbemerkt im Garten auf Ahmet warten zu können? Sie musste an ihre ersten Begegnungen mit Ahmet vor 20 Jahren in London denken. Nach unerwartet tiefem Schlaf, gefüllt mit wilden Träumen, begab sie sich zum Frühstück, das Leila liebevoll vorbereitet hatte: eine orientalische Mischung aus türkischem Kaffee, englischem Tee, Käse, mit Kreuzkümmel gewürztem Brot, Eiern, Oliven, Butter,  Tomaten und Orangensaft. Tina konnte ihren Zustand der Freude über Ahmets Erscheinen nicht verbergen. Doch Leilas Fröhlichkeit ähnelte im Ausdruck dem Glück Tinas, sodass die beiden Frauen ohne diesbezügliche Verwunderung den Tisch auf die Terrasse trugen, denn die Sonne wärmte bereits ausreichend. Nun wurden die Pläne des Tages besprochen. Tina hatte nicht viel Lust, zu arbeiten. Sie machte allerdings kleine Notizen, die sie in einem längeren Artikel über die griechisch-türkischen Beziehungen und das Verhältnis dieser Länder zur Europäischen Union verwenden wollte. Heute sollte es einen Besuch auf der Burg Hilarion geben, eine der drei mäßig erhaltenen Kreuzritterburgen, die das Kyrenia-Gebirge in fast tausend Metern Höhe zierten. Sankt Hilarion war ursprünglich ein Kloster gewesen, das von den Byzantinern im 11. Jahrhundert zur Festung  umgebaut wurde. Der Begriff St. Hilarion hatte für Griechisch-Zyprer eine magische Bedeutung, wie so vieles, das von ihnen aufgegeben werden musste, als die Insel endgültig geteilt war. Auch Tina knüpfte an Hilarion seltsame Erinnerungen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie beschlossen, die Burg zu besichtigen und dort oben über Mittag zum Picknick zu bleiben. Die Anfahrt von Ozanköy war kurz. Nach 10 Minuten Fahrt auf der Straße von Kyrenia nach Nikosia, der Pass war gerade erreicht, bog Leila nach rechts ab, um den Aufstieg zur Burg weiter zu verfolgen. Sie kamen an einem martialisch wirkenden türkischen Militärlager vorbei, das herrlich gelegen war. Tina fragte sich ob die jungen Soldaten diese Schönheiten der Natur wirklich sahen und schätzen konnten. Die Burg selbst ragte wie ein mahnender Finger in den Himmel empor. So viel lebende Geschichte in Form von Burgruinen,  dachte Tina etwas traurig. Wer waren die Menschen des 20. Jahrhunderts, ob Griechen oder Türken, Zyprer oder Fremde, die hier staunend, aber nichts ahnend von der Vielfalt mittelalterlichen Lebens, herumwanderten und das alles als eine Art Besitztum ansahen und nicht als eine Mahnung zum Frieden für künftige Generationen? Immer wieder dachte Tina auch an den kommenden Abend, die nächste Begegnung mit Ahmet.

Fortsetzung folgt.

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 8




Tina hatte noch keine Zeit gehabt, über ihre Reise nachzudenken. Sie war froh, so kurzfristig noch einen Flug buchen zu können. Ihr britischer Pass machte es möglich, ohne Schwierigkeiten nach Nordzypern einzureisen. Bei der Ankunft erhielt sie ohne Verzögerung ein Visum für drei Monate. An die Möglichkeit, während ihres Aufenthaltes einen „Ausflug“ über die Demarkationslinie in Nikosia nach dem griechischen Teil zu machen, dachte sie zunächst nicht. Sie wusste nicht einmal, ob dies erlaubt war. Sie wollte vor allem Leila kennenlernen und etwas über Ahmets Aufenthalt erfahren. Nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, war kein Anhaltspunkt über seinen Verbleib zu finden. Sie hatte große Angst, dass er sich etwas antun würde, wenn nicht bereits etwas geschehen ist. Da sie nur Handgepäck hatte, konnte sie gleich durch den Zoll gehen. Sie wurde von Leila sofort erkannt und in die Arme geschlossen. Beide Frauen empfanden gleichzeitig eine tiefe Sympathie für einander. Leila saß am Steuer und Tina wunderte sich ein wenig, dass im türkisch-zyprischen Teil der Insel, genau wie im griechischen, Linksverkehr herrschte, obwohl die Schutzmacht Türkei den kontinentalen Rechtsverkehr praktizierte. Die Fahrt ging nach dem Verlassen der Autobahn Ercan-Nikosia quer durch das Kyreniagebirge auf die Nordseite der Insel. Bei Dunkelheit konnte man in geringer Entfernung aus der Vogelperspektive das Lichtermeer von ganz Nikosia erkennen. Die Teilung der Stadt war nicht zu sehen. Die Lichter glänzten auf allen Seiten wie Edelsteine. Auch andere, kleinere Siedlungen flimmerten friedlich unter einem klaren Sternenhimmel. Irgendwie zögerte Tina, mit Leila ein Gespräch zu beginnen, bevor sie zu Hause angelangt waren. Auch Leila war nicht gesprächig. Eine Dreiviertelstunde war vergangen, als Leila von der Landstraße nach Kyrenia abbog, um nach Ozanköy hinauf zu fahren. 



Kristina konnte nicht viel sehen, aber sie ahnte die Nähe des Meeres, und sie konnte die angestrahlte Ruine der Abtei vor sich sehen. Leila steuerte eine abenteuerlich gestaltete Auffahrt hinauf und hielt vor einem älteren, aber sehr gepflegten Haus, das von allen Seiten beleuchtet war. Am Rande des Grundstückes konnte man ein türkisleuchtendes Schwimmbecken erkennen, das in Erwartung steigender Temperaturen bereits gefüllt war. Ein älterer Verwandter oder Nachbar kam herbeigeeilt, um den Frauen aus dem Auto zu helfen und das Gepäck die Stufen zum Eingang hinauf zu tragen. Zwei Hunde kamen freundlich angepirscht und schnupperten an Tina hinauf. Leila und Tina gingen sofort in einen großzügigen Wohnraum und erfrischten sich mit Orangensaft, der auf sie wartete. 
„Sprechen wir Englisch oder Türkisch?“ fragte Leila, „Griechisch kann ich leider nicht“. „Mein Griechisch ist auch nicht sehr gut zur Zeit, wenn dich meine Fehler nicht stören, können wir Türkisch sprechen,“ sagte Tina und dankte etwas förmlich für Leilas herzliches Willkommen. „Möchtest du etwas essen? Jetzt gleich? Oder später?“ Tina hatte keinen Appetit und sagte, sie würde vielleicht vor dem Schlafengehen eine Kleinigkeit zu sich nehmen. „Bist du zum ersten Mal im Norden Zyperns?“ wollte Leila wissen, die ihrerseits keine Erinnerungen mehr an ihre Geburtsstadt Limassol hatte. „Die Neugier ist schon lange da, aber du kannst dir nicht vorstellen, unter welchen Druck man gerät, wenn man Verwandten oder Freunden von einer Reise nach Nordzypern berichten würde. Ganz zu schweigen vom Verdacht der Spionage, dem man sich automatisch aussetzen würde.“ „Ich kann dir morgen eine ganze Reihe griechisch-orthodoxer Kirchen in der Region zeigen, die nicht zerstört wurden. Du bleibst doch hoffentlich lange genug, dass wir zusammen etwas unternehmen können. Ich würde dir gerne das Andreaskloster zeigen und dich dort mit unserer griechischen Minderheit zusammen bringen. Als Journalistin müsste dich das doch interessieren.“ „Sicher. Aber als Frau möchte ich vor allem mehr über Ahmet erfahren. Was kann nach deiner Meinung mit ihm geschehen sein?“ Leila merkte, dass sie die ganze Zeit um das eigentliche Thema herum geredet hatte.


 „Verzeih mir. Ich wusste nicht wie ich beginnen sollte, von meinem Bruder zu sprechen. Es ist nicht gerade ein Glück, von zwei Frauen geliebt zu werden. Vielleicht ist es das, was ihm zu schaffen macht. Vielleicht ist er deshalb verschwunden. Es darf ihm nichts zugestoßen sein.“ „Ich möchte wissen, ob das Ministerium in Ankara ihn auch sucht, oder ob man dort weiß, wo er sich aufhält.“ „Arda und ich wissen nichts. Die Kinder fragen nach ihm. Es wäre nicht zu vertreten, wenn er etwa im Auftrag des Ministeriums irgend eine vertrauliche Mission zu erfüllen hätte, von der wir nichts wissen.“ „Leila, du musst mir glauben, dass Ahmet und ich durch reinen Zufall wieder zusammen gekommen sind. Du weißt jedoch, wie sehr wir uns von Anfang an geliebt haben. Nichts davon war in der Zwischenzeit verloren gegangen. Ich glaube nicht, dass Ahmet Arda jemals betrogen hat. Ich weiß auch, dass er sie immer noch liebt. Aber es muss eine andere Liebe sein. Was zwischen ihm und mir war oder ist, muss man mit einem Schlag des Schicksals vergleichen. Ich habe keine andere Erklärung.“ „Niemand macht dir oder euch Vorwürfe. Aber das löst das Problem nicht.“ „Ich habe es für meinen Teil gelöst. Ich bleibe dabei. Aber ich kann nicht behaupten, ich liebte ihn nicht,“ sagte Tina ganz zaghaft und verfiel in längeres Schweigen. Leila, die für ihren Bruder auch große Liebe empfand, konnte das alles verstehen. Sie schlug vor, dass man nach einem schnellen Imbiss schlafen gehen sollte, um am anderen Morgen etwas unternehmen zu können. Tina hatte ihren tragbaren Computer mitgenommen. Sie wollte versuchen, den Präsidenten der türkischen Republik von Nordzypern, Rauf Denktasch, zu interviewen. Die Tatsache, dass eine griechisch-zyprische Journalistin (mit britischem Pass) zu einem Interview vorgelassen würde, wäre an sich schon eine Sensation. Sie wollte es versuchen. Schließlich hatte sie einen guten Ruf als seriöse Vertreterin ihrer Zunft. Sie hatte noch nie antitürkische Propagandaparolen verbreitet, wie das oft der Fall war. Ahmet wäre natürlich der ideale Helfer in dieser Sache gewesen. So musste sie sich an einen  britischen Bekannten wenden, der in Kyrenia wohnte und gute Kontakte zu Politik und Wirtschaft hatte.
Leila schreckte in der Nacht aus dem Schlaf. Arda war am Telefon und weinte vor Glück. Der Außenminister hatte sie mitten in der Nacht, nach einer Veranstaltung, angerufen, um ihr mitzuteilen, sie solle sich um Ahmet keine Sorgen machen. Es gehe ihm gut, mehr könne er im Augenblick nicht sagen. Leila zögerte nicht lange und ging in Ahmets Zimmer, um Tina zu wecken. Tina fing sofort an, laut zu weinen. Beide umarmten sich und beschlossen, nicht mehr schlafen zu gehen. Leila holte aus der Küche eine Flasche Sekt, die Ahmet ihr vor einiger Zeit gebracht hatte und die sie aus Zeitmangel nicht zusammen hatten trinken können. Mit lachenden Augen betrachteten sich die beiden Frauen und tranken bis nichts mehr in der Flasche war. Leicht angeheitert sagte Leila: „Du weißt, dass du sehr schön bist. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich auch in dich verlieben.“ „Und wenn ich ein Mann wäre, müsstest du dich vor mir verstecken,“ flüsterte Tina in aufgekratztem Zustand. Die innere Spannung über die seltsame Situation und die tagelange Ungewissheit über den Verbleib Ahmets hatte zu einer Entladung geführt, die der Sekt noch schöner machte. Wie kleine Gören alberten die beiden Freundinnen bis zum Tagesanbruch. Dann wurde gefrühstückt. Es war schon gegen 1o Uhr, als Tina telefonisch bis zum Präsidentenpalast in Nikosia vorgedrungen war, um nach dem Interview zu fragen. Die Antwort würde sie am späten Nachmittag erhalten. In der Zwischenzeit wollten die Frauen Ausflüge in die nähere Umgebung machen.

Fortsetzung folgt.

Samstag, 28. Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 7





Seit Tagen wurden zwischen Arda und Ahmet kaum Worte gewechselt. Die Kinder waren ausgelassen, wie immer und konnten nicht verstehen, warum die Eltern ernst und unglücklich aussahen. Streit hatte es nicht gegeben. Kleine Unstimmigkeiten wurden stets beigelegt, bevor die Kleinen etwas merkten. Als Ahmet sagte, er würde nach Istanbul fliegen, fragte Arda nicht, warum, was er da tun würde, noch wann er wiederzukommen gedenke. Er wusste, dass es kein Mangel an Interesse war, sondern ein großherziges Loslassen, das er vielleicht nicht verdiente. Er würde nicht zurückkommen, ohne eine klare Entscheidung getroffen zu haben. Tina oder Arda, war für ihn nicht das Dilemma, sondern er wollte mit beiden Frauen glücklich sein können. Er dachte an seine Heimatinsel, in der auch Tina zu Hause war. Beide lebten sie in der Fremde, weil auf dieser verdammten Insel kein Platz für Liebende aus beiden Teilen zu sein schien. Auch die Teilung Deutschlands, die so glücklich zu Ende gegangen war, hatte ihn immer beschäftigt, nachdem Freunde ihm  grausige Einzelheiten geschildert hatten. Dass sie selbst ohnmächtige Opfer einer politischen Konstellation waren, die anscheinend niemand ändern konnte oder wollte, machte ihn wütend. Er liebte Tina über alles, und er brauchte sie. Nicht alle waren in der Lage, so stark zu empfinden. Für ihn wurde dies eine existenzielle Frage. Tina rannte die Treppe hinunter, als er läutete. Atemlos hing sie an seinem Arm, als sie nach oben gingen. Fieberhaft fasste sie ihn an, entzog ihm die Jacke, die Schuhe, Hosen und sonstiges, als die Tür ins Schloss gefallen war. Es dauerte nicht lange, und sie lagen erschöpft am Boden, Auge in Auge, und hielten sich fest umklammert. „Mein geliebter Ahmet. Ich habe dich so lange nicht gesehen! Was soll ich nur ohne dich tun? Ich vernachlässige meine Arbeit, was mich nicht kümmert, und  warte darauf, dass du mich anrufst. Spürst du, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann?“ Tina fing an zu weinen. Dann sagte sie fast tonlos: „Du darfst nicht mehr zu mir kommen. Ich habe beschlossen, unsere Beziehung abzubrechen. Ich habe Arda einen langen Brief geschrieben, den ich gestern abgeschickt habe. Es gibt kein Zurück. Arda weiß jetzt alles. Ich habe ihr geschrieben, dass ich endgültig aus deinem Leben treten werde. Und dabei bleibt es. Ahmet, ich liebe dich. Du bist mein Glück und mein Verderben.“ „Ich liebe dich auch und für immer, meine köstliche Tina,“ sagte Ahmet, „du darfst nicht Schluss machen. Ich werde bei dir bleiben. Du hast keine andere Wahl.“ Doch Tina ging zur Wohnungstür, öffnete sie und sagte nur noch: „Ich erwarte, dass du in fünf Minuten gegangen bist. Dann ging sie ins Bad und schloss sich hörbar ein. Ahmet verließ leise das Haus. Jeder Zweifel über das, was er zu tun hatte, war von ihm gewichen. 
Leila beschloss, nicht mehr länger zu warten. Arda hatte sie aus Ankara angerufen, Schlimmes ahnend und äußerst beunruhigt, denn sie hatte seit Tagen nichts von Ahmet gehört, und ihr Kristinas Telefonnummer gegeben. Arda hatte natürlich versucht, durch Ahmets Büro etwas herauszufinden. Sie kannte alle seine Mitarbeiter. Diese sagten nur, er habe einige Tage Urlaub genommen, mehr wüssten sie nicht. Nun musste man versuchen, über Kristina vielleicht etwas zu erfahren. „Hallo, Tina. Ich bin Ahmets Schwester Leila. Arda und ich sind in großer Sorge wegen Ahmet. Nachdem Arda deinen Brief erhalten hatte, wartete sie auf Ahmet, der nicht nach Hause kam. Weisst du was geschehen ist? Es ist nicht seine Art, einfach zu verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.“ Tina war durch Ahmets Erzählungen auch mit Leila vertraut und freute sich zuerst, die Stimme von Ahmets Schwester zu hören. Die Tragweite der Frage war ihr zunächst nicht klar. Wenn Ahmet nicht nach Hause gekommen ist, wo konnte er dann sein? Es konnte ihm nichts zugestoßen sein, ohne dass man es erfahren hätte. Sie hatte sich verloren gefühlt, seit sie Ahmet für immer aus dem Hause gewiesen hatte. Aber sie hatte nicht an der Richtigkeit ihrer Entscheidung gezweifelt. Nun sprach Ahmets Schwester zu ihr, wie zu einer Freundin, die sie schon lange kennt. “Nein, ich weiß es nicht, Leila. Ich habe getan, was ich Arda in meinem Brief mitteilte. Ahmet ist gegangen, und ich habe inzwischen nichts mehr gehört. Was mich verwirrte, war, dass Ahmet meine Entscheidung einfach akzeptierte und das Haus verließ. Bitte, rufe mich an, wenn du etwas erfährst.“ Plötzlich überkam Kristina eine eigenartige Scham. Arda und Leila mussten vermuten, dass ihr Brief eine Finte war, um Spuren zu verwischen oder Arda in eine falsche Sicherheit zu wiegen, was Ahmet betraf. Sofort suchte sie nach Leilas Telefonnummer und rief sie in Ozanköy an, einem kleinen Ort unterhalb der berühmten Abtei von Bellapais, wenige Kilometer von Girne/Kyrenia  entfernt. Hier wohnte Leila im Haus der Eltern, die beide vor Jahren gestorben waren. Von Ahmet wusste Kristina, dass sein eigenes Kinderzimmer unverändert alle Zeiten überstanden hatte und auf seine gelegentlichen Besuche zuhause wartete. „Kristina hier“, sagte sie nur, „Ich werde heute Abend aus Istanbul kommen. Kann ich gegen zehn Uhr bei dir sein?“ Leila schien erfreut und sagte nur, Tina solle nicht ins Hotel gehen. Sie könne in Ahmets Zimmer übernachten, und sie würde sie am Flughafen in Ercan abholen. Es musste sich um den Flug Nummer 1264 von Turkish Airlines handeln, mit dem die Reisenden um 21 Uhr  in Nordzypern ankamen.
Leila fragte sich, was Tinas spontaner Besuch bedeutete. Nach dem Foto, das Ahmet ihr gezeigt hatte, würde sie Tina sicher erkennen. Bevor sie noch Einkäufe für ein eventuell verspätetes Abendessen machte, rief sie Arda an, einfach um sie wissen zu lassen, dass auch Tina beunruhigt war und nach Nord-Zypern kommen wollte. Ardas Hoffnung beschränkte sich im wesentlichen darauf, abzuwarten, bis Ahmet wieder auftauchen würde. Sie konnte sich darüber hinaus nicht vorstellen, wie es weitergehen würde. Er hatte sich immer als verantwortlicher und umsichtiger Familienvater verhalten, obwohl sie sich schon lange damit abgefunden hatte, dass er sowohl was seine Arbeit als auch sein Privatleben betraf, sehr verschlossen war. Zu Vieles schien bei ihm in den Bereich des Geheimnisvollen zu gehören. Das hing wohl mit seiner Arbeit im türkischen Außenministerium zusammen. Des öfteren hatte er angedeutet, dass er in einer vertraulichen Angelegenheit tätig werden musste, ohne jedoch Genaueres zu sagen. Leila freute sich sehr auf Kristina, die sie nur von Fotos und aus den Zeitungen kannte, und der sie ein Stück ihrer Heimat zeigen wollte, die auch Kristinas unbekannte Heimat war. Der Frühling war gerade dabei, auch den nördlichen Teil der Insel mit atemberaubender Blütenpracht zu verzaubern. Mimosen, Jasmin, wilder Fenchel, Klatschmohn, Alpenveilchen und einige seltene Orchideen ragten aus dem Meer von Blumen hervor, das von Gelbtönen jeder Art und schweren Düften überlagert wurde. Die Temperaturen waren milde bis kühl, vor allem in der Nacht. Leila verbrachte einige Zeit am Kleiderschrank, um sich für den Abend ein schönes Kleid oder ein Kostüm auszusuchen. Sie entschied sich dann für einen hellbraunen Hosenanzug, der ihre schlanke Figur betonte. Was würde Tinas Anliegen sein, fragte sie sich, denn niemand setzt sich einfach ins Flugzeug, um aus Neugier einen Besuch abzustatten.

Fortsetzung folgt.

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 6




Leila flog am selben Tag  nach Nordzypern wie Ahmet nach Istanbul. Da die Abflugzeiten dicht beieinander lagen, konnten beide zusammen in Ahmets Dienstwagen zum Flughafen fahren. Während der Fahrt wechselten sie kaum ein Wort miteinander, wohl wegen des Fahrers, der annehmen musste, dass Leila eine enge Freundin Ahmets war. Dies hatte keine Bedeutung, doch es hemmte die beiden beim Sprechen. In der Wartehalle sagte Leila unvermittelt: „Wirst du Tina sehen?“ „Ja, aber wahrscheinlich nur ganz kurz, denn ich fliege nach Möglichkeit am Abend wieder zurück.“ Leila bohrte nicht weiter. Sie kannte ihren Bruder. Er würde immer einen eleganten Ausweg finden, um nicht die volle Wahrheit sagen zu müssen. „Ich bin besorgt, Ahmet,“ sagte sie, „du musst wissen, was du tust. Ich denke an Arda und die Kinder. Deine Frau wird früher oder später von der Sache erfahren. Ich verstehe dich gut, aber sie hat keinen Grund, dein Tun zu akzeptieren.“ „Leila, mache es nicht schlimmer als es ist. Tina und ich hätten vor zwanzig Jahren geheiratet, wenn man uns nicht daran gehindert hätte. Ich würde es immer noch auf der Stelle tun, wenn ich könnte. Wir müssen einen Weg finden, der um die Krise herum führt. In der Politik ist das ja auch manchmal möglich. Wie es weitergeht, weiß ich auch nicht. Ich werde wahrscheinlich bei Tina übernachten.“ Leila sagte nichts mehr. Sie küsste ihren Bruder und begab sich zum  angezeigten Flugsteig und verschwand hinter einer Reihe von Stellwänden. Ahmet kaufte sich noch ein paar Zeitungen und suchte den Ausgang für den Flug nach Istanbul.
Dort, in Istanbul, standen mehrere Gespräche mit verschiedenen Delegationen auf dem Programm. Es ging um die Vorbereitung von Sitzungen über Streitfragen mit Griechenland und mit der griechisch-zyprischen Republik. Nichts Konkretes, aber der Außenminister musste entsprechend  informiert werden, auch wenn keine Hoffnung auf gute Resultate bestand. Ahmet fühlte oft einen gewissen Widerwillen gegen solche Routinetreffen und hätte sich gewünscht, gleich zu Tina fahren zu können. Dies war erst am frühen Abend möglich. Ahmet rief Arda an und sagte, er würde die letzte Maschine nach Ankara nicht mehr bekommen. Dies klang  sehr natürlich, da es des öfteren vorkam und fast regelmäßig, wenn er mit dem Minister reiste. Nun konnte er sich auf seinen Besuch bei Tina konzentrieren. Sie hatte diese Reise nach Limassol verschieben können. Es wäre zu kompliziert gewesen, in weniger als drei Tagen eine solche Rückreise zu bewerkstelligen. Dabei würde ein Direktflug, wenn es ihn gäbe, nur höchstens eine Stunde dauern. Die Politik ist an allem schuld, dachte sich Ahmet wieder einmal. Dann war es soweit: Ahmet stürmte die Treppen hinauf, als Tina die Haustüre per Knopfdruck geöffnet hatte und schob einen großen Blumenstrauß durch die Wohnungstür, bevor er Tina überhaupt sah. Sie tat überwältigt und ließ sich ungestüm küssen. Nach wenigen Minuten hatte sie Ahmets Krawatte von seinem Hals gelöst, ein Vorgang, für den er selbst immer viel zu lange benötigte, was ihn ungeduldig werden ließ. Alle übrigen Kleidungsstücke flogen im hohen Bogen durch die Luft. Tina und Ahmet vergaßen alles. Sie lagen eng umschlungen im Gästezimmer – hier sollte Ahmet später schlafen – und fühlten ihr Glück wie ein Geschenk. Übermütig sagte Ahmet: „Ich werde von jetzt an nicht mehr sagen, dass ich dich liebe. Ich hasse Wiederholungen. Du weißt ganz genau, wie es um mich steht. Nun, gut, ich liebe dich, meine allerliebste Selma-Kristina-Petropoulos-Taylor. Willst du es noch einmal hören?“ „Du musst es mir nicht sagen. Außerdem wüsste ich es sofort, wenn du mich nicht mehr liebtest. Du kannst nicht lügen.“ Tina sah auf einmal nicht sehr glücklich aus. Sie fing an, zu weinen und sagte mit glänzenden Augen: „Ahmet, wie kann ich dir sagen, dass ich dich liebe? Ich habe kein Recht, dich zu lieben. Ich bin ein Fremdkörper in deinem Leben, und ich möchte deine Frau nicht unglücklich machen. Ich werde eine Entscheidung treffen müssen. Nicht du musst entscheiden, sondern ich.“ Ahmet schaute sie betroffen an. Er hatte sich nie klargemacht was ihre Beziehung für Tina, Arda und seine Kinder bedeuten würde. Er umging diese Fragen, so lange er nicht zu einer Entscheidung gezwungen war. Auf Tina würde er nie verzichten, und seine Familie wollte er nicht verlieren. Seine berufliche Situation war ihm einerlei. Aber er wusste, dass der Minister auf einen untadeligen Lebenswandel seiner engsten Mitarbeiter Wert legte, und dass er Schwierigkeiten bekommen würde. Wie ein kleiner Junge schlüpfte Ahmet in Tinas Arme. Seine Küsse reichten nur bis zu ihren Brüsten. Sie hielt ihn umschlungen, als müsse sie ihn schützen. Ahmet wünschte sich, bei ihr bleiben zu können, für immer.
Ahmet ließ sich gleich am Morgen, bei der Ankunft in Ankara, ins Außenministerium fahren, denn der Minister erwartete seinen Bericht. Danach rief er Arda an und sagte, er würde zum Mittagessen zu Hause sein. „Du schaltest immer dein Mobilfon ab, wenn du in Istanbul bist,“ sagte Arda nach der kurzen Begrüßung. „Gibt es etwas, das ich nicht wissen darf?“ Ahmet blickte verlegen aus dem Fenster und sagte kurz: „Nein, nein.“ Arda wollte eine andere Gelegenheit abwarten, um diese Frage noch einmal aufzugreifen. Früher fand er immer Zeit, für sie und die Kinder eine Kleinigkeit einzukaufen, meist etwas Süßes. Jetzt stand er mit leeren Händen da und wirkte zerstreut. „Turgut und Jane haben geschrieben. Ich habe den Brief nicht geöffnet; er ist an dich adressiert,“ sagte Arda und reichte ihm den Umschlag. Ahmet bat sie, ihn zu öffnen, was sie tat. Dann reichte sie ihn Ahmet, ohne etwas zu sagen. „Mein lieber Ahmet, ich schreibe Dir, weil wir lange nichts gehört haben. Du bist sicher, wie immer, sehr beschäftigt. Vor einigen Tagen kam Nikos zu Besuch. Du weißt, dass er zusammen mit einem Sozius in Dover eine Anwaltskanzlei betreibt und dort für Wirtschaftsfragen zuständig ist. Er sagte mir, er habe herausgefunden, dass Deine erste (?) Liebe, Kristina Petropoulos, heute als bekannte Journalistin in Istanbul arbeitet. Kennst Du diesen Namen, Selma Taylor? Sie muss mit einem Engländer verheiratet sein. Es würde mich interessieren, ob das stimmt. Eine weitere Neuigkeit: Jane und ich haben beschlossen, in ein paar Jahren den Salon aufzugeben und nach Nordzypern zu ziehen. Unsere Ersparnisse müssten reichen, und wir haben den ewigen Regen hier satt. Dann werden wir uns sicher wieder öfter sehen. Nikos lässt Dich herzlich grüßen. Wie geht es Euch allen? Grüße Arda und die Kinder, und sei auch Du herzlich gegrüßt, Deine Turgut und Jane.“ Arda stand stumm vor Ahmet und schaute ihn an. Er konnte ihr nicht in die Augen schauen. Er verließ das Zimmer und ging in sein Büro, um zunächst einmal diese plötzliche Wende zu verarbeiten. Arda wusste nun, was er in Istanbul machte. Er würde es auch nicht leugnen. Sie kam in sein Büro und sagte mit leiser Stimme: „Ahmet, du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Ich kenne diese Geschichte. Leila hat Andeutungen gemacht, wohl, um jeder Art von peinlicher Fragerei zuvorzukommen.

Fortsetzung folgt.

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 5





Das Gespräch mit dem Minister verlief ohne besondere Sensationen. Artig antwortete er auf Selma Taylors Fragen. Das Problem einer eventuellen Reaktion der Türkei auf die Aufnahme Südzyperns in die Europäische Union, schien dem Minister nicht aktuell genug. Eine Annektierung  Nordzyperns könne Teil einer Reihe von Maßnahmen sein, über die man noch nachdenke. Beim Abschied sagte Ahmet noch, er könne Tina nicht zum Flughafen begleiten und würde sie bald anrufen.
Das Abendessen stand auf dem Tisch. Die Kinder saßen schon und warteten auf die Vorspeise. Wenn Vater nicht rechtzeitig zum Essen erschien, durften die Kinder schon einmal beginnen. Ahmet hatte Arda angerufen, kurz bevor er das Ministerium verließ, damit sie wusste, wann er kommen würde. Als er die Wohnung betrat, sagte Arda: „Du hattest dein Mobilfon abgeschaltet gestern Abend. Das tust du doch sonst nicht. War es anstrengend?“ Ahmet konnte nicht verhindern, leicht zu erröten und murmelte nur etwas, bevor er die Kinder begrüßte. Hakan, der Jüngste, strahlte ihn an, Can sah etwas blass aus, und Leila, die große, fing sofort an, ihrem Vater die neuesten Geschichten aus der Schule zu erzählen. So hielt sich die etwas gespannte Stimmung in Grenzen. Arda zog sich früh zurück und Ahmet las noch eine Reihe wichtiger Artikel, die er auf die Seite gelegt hatte. Einige Tage vergingen, und der Alltag hatte wieder seinen normalen Verlauf genommen. 
Leila, die geliebte Tante aus Girne hatte sich für einige Tage in Ankara angesagt. Sie besuchte ihren Bruder gelegentlich und fühlte sich in dessen Familie sehr wohl, und sie war nicht verheiratet. Sie freute sich auf die Kinder ihres Bruders, und mit ihrer Schwägerin verstand sie sich auch ganz gut. Der Flug von Nordzypern nach Ankara dauerte etwas mehr als eine Stunde. Ahmet holte sie gewöhnlich vom Flughafen ab, wenn er das zeitlich schaffte. Leila war über all die Jahre seine Vertraute geblieben. „Dein Flug war mal nicht verspätet. Wie schön,“ sagte Ahmet als er Leila in die Arme schloss. Auf dem Weg nach Maltepe, einem guten Wohnviertel von Ankara, musste er Leila berichten, was geschehen war. Sie hatte als junges Mädchen einmal diskret versucht, über britische Freunde, die regelmäßig von Nordzypern in den griechisch-zyprischen Teil der Insel wechseln konnten, mit Kristina Kontakt aufzunehmen. Es wurde nichts  daraus, weil Tinas Eltern gerade das befürchtet hatten und deshalb besonders aufmerksam über ihre Tochter wachten. Sie hatte Ahmet darüber informiert, und er wollte nicht, dass sie mit ihrer Suche fortfahren solle. Also gab sie es auf. Als Ahmet seiner kleinen Schwester damals das Foto Tinas gezeigt hatte, verstand diese gleich, warum er so entschlossen war, sein Glück festzuhalten. Jetzt hatte sie sich vorgenommen, Tina unbedingt zu sehen. Als Schwester hatte sie nur Ahmets Wohl im Sinne; er war ihr großer Bruder und Held geblieben. Dass seine Ehe mit Arda eine leidenschaftslose Partnerschaft war, hatte sie nie gestört. Sie hatte auch nie von schrecklichen Szenen gehört, und die Kinder wuchsen in einer harmonischen Umgebung auf. Vielleicht wurden sie alle durch diese reizvollen Kinder getröstet, die einem vielleicht nicht sehr gelungenen Leben einen Sinn verleihen konnten. Sie selbst wäre jedoch an einer solchen Ehe nie interessiert gewesen. Nur in einer belanglosen Beziehung untergebracht zu sein, Kinder zu gebären und Haushalt zu organisieren, fand Leila ebenso bedauerlich, wie mit einem Partner zu leben, der nicht in der Lage war, bedingungslos zu lieben und seine Frau als völlig ebenbürtig zu respektieren. Sie konnte sehen, wie Ahmet geradezu in eine haltlose Lage hineinschlitterte. Das beunruhigte sie. Die Begrüßung Ardas und der Kinder, für die es Geschenke gab, vollzog sich mit großem Hallo. Man ging früh zu Bett, denn für den nächsten Morgen hatte man Pläne, etwas zu unternehmen.
Arda war mit Vorbereitungen für ein Picknick beschäftigt. Die Kinder freuten sich schon darauf, mit den Eltern und Tante Leila von der Insel, wie sie liebevoll genannt wurde, eine Autofahrt in eine sehr reizvolle Landschaft zu unternehmen. Am Ufer eines Stausees gab es Plätze, die sich für ein Picknick eigneten. Das Wetter war hervorragend. Ahmet erhielt einen Anruf aus dem Ministerium. Er wurde dringend benötigt. Der Außenminister musste eine Erklärung zur Zypernfrage abgeben, und Ahmet war für diese Angelegenheiten zuständig. Das Wochenende war damit für die Familie verloren. Ahmet bedauerte, dass er Leila und die Kinder nicht begleiten konnte. Er war erleichtert, dass Arda dies – wie schon oft – mit Gelassenheit und stillem Protest hinzunehmen schien. Da das Auto schon vollgeladen war, beschloss Ahmet, einen Dienstwagen kommen zu lassen. Arda konnte mit seinem Auto an den See fahren. Er nutzte die Wartezeit, um Tina anzurufen, obwohl es etwas früh am Morgen war. Schläfrig, aber nicht unfreundlich klang Tinas „Hallo“, das er ohne Umschweife mit: “Hier ist der Mann, der dich liebt“ beantwortete. „Ahmet,“ sagte sie mit einer Stimme, in der unerwartete Freude schwang, „wie kommt es, dass du so früh anrufst? Ist etwas passiert?“ „Nein. Ich wollte nur deine Stimme hören. Ich muss heute arbeiten. Gleich lege ich wieder auf. Nächste Woche komme ich für einen Tag nach Istanbul. Ich werde es einrichten, erst am anderen Morgen nach Ankara zurückzufliegen.“ Tina zögerte und sagte dann: „ich weiß nicht genau, wann ich hier sein werde. Du weißt, wie umständlich es für mich ist, von hier nach Limassol zu kommen. Wie lange ich von hier fort sein werde, kann ich noch nicht sagen. Es ist jedenfalls eine dringende Erbschaftsangelegenheit. Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben. Ich habe dir nichts davon erzählt. Auch mein Vater ist schon einige Jahre tot. Halte mich auf dem Laufenden, damit ich mich auf deinen Besuch einstellen kann.“ Ahmet sagte noch: „Leila ist gerade bei uns. Sie fliegt auch kommende Woche wieder nach Zypern. Schade, dass ihr  nicht zusammen dahin fliegen könnt. Meine beiden Lieblingsfrauen in einem Flugzeug! Was für ein hohes Risiko.“ Tina war sich nicht ganz sicher, ob Ahmet nur einen Scherz machen wollte. Sie spürte auch Ironie aus seinen Worten heraus. Gelegentlich hatte Tina bemerkt, dass Ahmet ausgelassen glücklich sein konnte, um dann plötzlich in einen bitteren Sarkasmus zu verfallen. „Ich freue mich schon“, sagte Tina und wünschte ihm noch ein nicht zu arbeitsreiches Wochenende. Ahmet hatte Glück: die Arbeit war relativ schnell getan, und er konnte sich schon am Samstag Nachmittag nach Hause fahren lassen. Er richtete sich auf einen ruhigen Abend mit der Familie und mit Leila ein. Arda und die Kinder gingen früh schlafen und überließen den Geschwistern das Feld, die eine ganze Schachtel Zigaretten rauchten und bis in den Morgen miteinander schwatzten.
Fortsetzung folgt.

Marcel Reich-Ranicki im Bundestag




Eigentlich wollte ich mich gleich hinsetzen und etwas schreiben, als Reich-Ranicki seine Rede vor dem Bundestag beendet hatte. Die Kanzlerin schaute bedrückt, der Bundespräsident hatte sein eingefrorenes Dauerlächeln heruntergefahren, und die vielen politischen Kämpfer, die Vertreter von Gesellschaft und Religionen und die meist jugendlichen Zuschauer auf den Tribünen standen wie unter Schock. Was der neunzigjährige Jude mit brüchiger Stimme vor der ganzen Nation vorgetragen hat, war ("ich spreche nicht als Historiker") der Bericht eines noch lebenden Zeitzeugen, der trotz aller konkreter Gefahren den Holocaust überlebt hat. Man kann dies alles auch nachlesen. Aber den Bundestag hat man noch nie so betroffen, so niedergeschlagen, so mitfühlend erlebt. Das ging durch alle Parteien. Ich beschloss, erst nachzudenken, bevor ich mich äußere.

Jetzt bin ich dazu bereit. Sofort fällt mir ein, dass Reich-Ranicki, als er noch das Literarische Quartett in der ARD leitete und er und seine Mitstreiter die literarische Szene der deutschsprachigen Welt besprachen, oft wie ein Diktator daherkam. Apodiktisch, unbarmherzig, subjektiv und in höchstem Maße unterhaltsam. Für Millionen Zuschauer ein wahres Fest von geistigem Blitz und Donner. Man hätte ihn manchmal hassen können, ob seiner Behauptungen. Fast kaustisch, nie albern ( was die Härte etwas abgemildert hätte), tobte er sich mit seiner markanten Sprechweise zusammen mit seinen Mitstreitern über literarische Phänomene aus. Für mich der beste Augenblick im deutschen Fernsehen, das inzwischen fast alle Zähne verloren hat, die dieser Möchtegerntiger einmal besaß. Reich-Ranicki also in seinen besten Jahren. Ich habe ihn damals schon geliebt, wie man einen guten Lehrer lieben kann.

Die Rede vor dem Bundestag über die entsetzlichen Taten Nazideutschlands war eine Erinnerung an menschliches Versagen, bürokratische Kriminalität und gleichzeitig auch an die Größe, die die systematische Ausrottung der Juden immer wieder hervorgebracht hat. Ja, wir sollen nicht nur an das Katastrophale unserer Geschichte erinnert werden, sondern auch an das, was Reich-Ranicki selbst zu einem Bewunderer und Vertreter deutscher Kultur gemacht hat. Wie stolz können wir auf einen solchen Zeitzeugen sein, der nie ein Berufsjude war, aber klar zu seinen Überzeugungen stehen konnte, nachdem der Naziterror beendet war. Ein Glück für uns alle, dass er noch lebt.

Jeder fünfte Deutsche, so hat man festgestellt, soll mit dem Wort Auschwitz nichts mehr verbinden können. Jeder fünfte Deutsche soll latent rechtslastig sein und nationalsozialistisches Gedankengut mit sich herumtragen. Rassismus also, bei 20% der Bevölkerung? Ich kann und will es nicht glauben. Alle, die wir das Naziregime überlebt haben oder in eine demokratische Welt hineingeboren wurden haben die Pflicht, aufzustehen, wenn das Böse sich regt. Und wir wissen was das ist. Das geschieht immer und überall. Auch immer öfter???? Haben wir den Mut, den Mund aufzumachen, wenn es notwendig ist. Dann können wir uns auch noch im Spiegel betrachten, wenn wir, wie Marcel Reich-Ranicki, über neunzig sind.

Donnerstag, 26. Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 3





Selma ging mit ihrer Freundin, die sie an ihrer Arbeit teilhaben lassen wollte, in das kleine Nebenzimmer, um sich schon einmal mit dem Ort des Gesprächs vertraut zu machen. Der Außenminister erschien, begleitet von drei Mitarbeitern, die ihr der Reihe nach vorgestellt wurden. Selma schaute eigenartig berührt auf, als der Minister sagte: „Dies ist ein neuer Mitarbeiter aus Nordzypern, Ahmet Aslan, der dem Ministerium als Berater dient.“ Selma brauchte einige Sekunden, bevor sie in der Lage war, zu sprechen: “Ich bin Tina.“ Ahmet bewegte sich kaum und sagte nur: „Selma Taylor ist Tina?“ Dann wandte er sich an den Minister  und flüsterte ihm etwas zu. Der Außenminister sagte zu Selma: „Wir können das Gespräch auch ein andermal führen,“ drehte sich um und verließ den Raum. Maureen hatte nicht richtig verstanden, worum es ging und schaute Selma fragend an. Sie wusste natürlich, dass ihre Freundin ihrem Vornamen Kristina den türkisch klingenden Namen Selma hinzugefügt hatte, unter dem sie allmählich bekannt wurde. Selma Taylor war ihr Markenzeichen als Journalistin geworden. An den Namen des damaligen Geliebten Kristinas konnte sich Maureen allerdings nicht sofort erinnern. Mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Tina und Ahmet standen sich unschlüssig  gegenüber und trauten sich nicht, etwas zu sagen. Tina kramte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und gab sie Ahmet. Dieser nahm sie stumm entgegen. Zu vieles ging ihm durch den Sinn. Er machte eine hilflose Bewegung mit den Händen und sagte nur noch: „Ich rufe dich an.“ Beide wussten, dass ein solches Zusammentreffen nicht vor den Augen anderer abgehandelt werden durfte. Sie würden sich nach alsbald wieder sehen. Soviel war sicher.
Kristina und Maureen verließen den Dolmabahce-Palast umgehend und nahmen ein Taxi nach Hause. „Warum war ich unfähig, mit Ahmet zu sprechen?“ dachte sie. Zu viel Zeit war vergangen. „Ich habe längst aufgehört, ihn zu lieben,“ wollte sie sich einreden. „Warum hat er mich damals nicht gesucht, als er meinen Brief erhielt? Hat er ihn tatsächlich erhalten? Ich weiß es nicht.“  Das Telefon klingelte eindringlich, als sie in die Wohnung traten. Maureen hörte Tina sagen: „Ja, Ahmet, wir treffen uns in einer Stunde, in der Halle des Mamaris.“ Tina konnte vor Aufregung nur sagen: “Maureen, du musst mich heute Abend entschuldigen. Ich kann mit dir nicht essen gehen. Ich muss Ahmet sehen, nach so langer Zeit. Warte nicht auf mich. Es wird sicher spät, denn es gibt wird viel zu erzählen geben.“ Vielleicht ist Ahmet heute ein ganz anderer, ging es Tina durch den Kopf. Er ist sicher verheiratet. Glücklich? Unglücklich? Bin ich glücklich? Sie beschloss, sich keine dieser Fragen zu beantworten. Wie ein aufgeregtes kleines Mädchen fing sie an, sich zurecht zu machen, um Ahmet zu sehen. Dann fiel ihr ein, dass sie London anrufen musste, um zu sagen, dass das Interview mit dem Außenminister geplatzt war, jedenfalls für die gerade in der Planung befindliche Wochenendausgabe des Guardian.
Kristina nahm wieder ein Taxi und fuhr zum Marmaris, einem bekannten Istanbuler Hotel. Als wolle er jedes Aufsehen vermeiden, hatte sich Ahmet in der hintersten Ecke der Hotelhalle verkrochen. Da er den Eingang zum Hotel nicht aus den Augen gelassen hatte, sah er Tina sofort. Er erhob sich schnell und ging ihr entgegen. Mit großer Umsicht führte er sie an seinen Platz und setzte sich ihr gegenüber. Beide wussten, dass sie nun zunächst zwanzig Jahre totgeschwiegener Vergangenheit zu überbrücken hatten. Dabei fragten sie sich, ob es nicht bittere Enttäuschungen geben würde, die auch mit der Feststellung enden konnten, dass sie sich nichts mehr zu sagen hätten. Tina glaubte jedoch zu spüren, dass er sie mit den gleichen Augen eines Liebenden betrachtete, wie sie es von anderen Männern kannte, die ihr den Hof gemacht hatten. Er muss jetzt um die vierzig sein, sagte sie sich, und  in den besten Jahren seines Lebens. Er wirkte ruhig und ausgeglichen. Sein pechschwarzes Haar hatte nicht gelitten, um die Hüften war er wohl etwas kräftiger geworden. Für Tina hatte sich Ahmet nicht wesentlich verändert, stellte sie zufrieden fest. Ahmet sah in Tina sofort jene schöne, reife Frau, die er sich schon vor zwanzig Jahren vorstellen konnte. Sie musste einen Mann oder einen ständigen Begleiter haben. Das Glück konnte nicht einfach nach so langer Zeit sich zurückmelden und sagen: “Hier bin ich,“ ging es Ahmet durch den Kopf. Nun hatten beide begriffen, dass sie sich nur anschauen mussten. Niemand erwartete von ihnen Konversation. So saßen sie eine Weile, bis ihnen jemand eine Getränkekarte vorlegte und auf eine Bestellung wartete. Ahmet hatte keine Ahnung, welches Lieblingsgetränk Tina hatte, und so bestellte er zwei Brandy Sour, ein Getränk, das in ihrer zyprischen Heimat auf beiden Seiten der Green Line mit Vorliebe getrunken wurde. Dies war nicht nur außerordentlich diplomatisch, dachte Tina, es freute sie sogar, wie ernsthaft er immer noch war, auch wenn es um Kleinigkeiten ging.
„Ich hätte dich nie hinter dem Namen Selma Taylor vermutet, obwohl mir deine Artikel immer sehr vertraut vorkamen, als hätte ich die Autorin gekannt,“ begann Ahmet und fügte hinzu: „erinnerst du dich noch an alles?“ „Als wäre es gestern gewesen,“ sagte Tina. „Du hast sicher keine Ahnung, wie mich meine Eltern behandelten, als ich ihnen sagte, ich wolle dich heiraten. Mein Vater schlug mich und nannte mich eine Prostituierte. Meine Mutter war unfähig, mir zu helfen. Wie kannst du uns so etwas antun, schrien sie mich an, und mein Vater brachte mich zu Tante Philia nach Oxford, bis kurz vor meiner Abschiebung nach Athen und dann nach Limassol. Ja, es war eine richtige Abschiebung. Man ließ mich nicht aus den Augen und verhinderte somit, was wie eine Katastrophe empfunden wurde. Als ich dann volljährig wurde, bemühte ich mich, nach England zu kommen, was einige Zeit dauerte. Ein Brief an deinen Onkel Turgut wurde nie beantwortet, und ich musste annehmen, dass deine Familie genauso barbarisch gegen dich vorgegangen ist. Es war für mich sehr schwer. Ich glaube, ich war zu jung und unreif, jedenfalls zu hilflos. Dann erlernte ich meinen Beruf, der mich heute voll ausfüllt.“ Diese lange Rede Tinas zeigte Ahmet, wie gut sie komplexe Zusammenhänge vereinfachend darzustellen vermochte. Allerdings verlor sie kein Wort über eventuelle Beziehungen zu anderen Männern. Vielleicht wollte sie ihm nicht weh tun mit irgendwelchen gescheiterten Affären. Dass sie keine feste Beziehung hatte, glaubte er zu wissen. Er erinnerte sich auch an eine sehr schmeichelhafte Bemerkung, die der Außenminister vor kurzem über sie gemacht hatte. Sie sei eine der interessantesten Griechinnen, die ihm in Athen oder  sonstwo über den Weg gelaufen sei. Das bedeutete viel, denn der Minister gab sich meist sehr zugeknöpft. 
Ahmet wollte den Fluss ihrer Rede nicht unterbrechen und sagte nichts. Kristina verstand und fuhr fort: „Als ich dann eine voll beschäftigte Schreiberin war, lernte ich einen Kollegen kennen, Nick Taylor. Er machte Dokumentarfilme bei einem Fernsehsender in Birmingham. Als er mir einen Bericht über die Lage in Zypern zeigte, den er gerade fertiggestellt hatte, bat ich ihn, einige Änderungen vorzunehmen, denn der Beitrag war sehr einseitig. Wenn man den Starrsinn von Fernsehleuten kennt, erwartet man nicht, dass sie dir entgegenkommen. Nick war sehr aufgeschlossen und vertraute meinen Ratschlägen sofort. Das hat uns zusammengebracht. Kinder hatten wir beide anfangs eingeplant, aber der berufliche Stress ließ es nicht zu. Dann war es zu spät. Nick kam durch einen Unfall um, vor zehn Jahren. Seitdem habe ich nicht einmal gelegentlich geflirtet. Wahrscheinlich habe ich mich zu sehr auf meine Arbeit konzentriert. Wie du weißt, haben Frauen als Journalisten es besonders schwer, wenn sie nicht gerade an Bettgeschichten interessiert sind.“ Tina wollte nun wirklich nicht mehr weiter erzählen und überließ es Ahmet, seinerseits über Vergangenes zu reden.


Fortsetzung folgt.

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später - Teil 4



Doch Ahmet dachte nicht daran, einen Bogen über zwanzig Jahre zu schlagen. Später vielleicht. Er schaute Tina an und wurde wütend bei dem Gedanken, dass er sie in all der Zeit geliebt hätte und mit ihr glücklich älter geworden wäre. Es muss alles meine Schuld sein, sagte er sich. Ich hätte sie finden müssen. Jetzt ist es zu spät. Jahrelang habe ich jeden Gedanken an sie verdrängt, und jetzt läuft sie mir über den Weg. Stockend und atemlos sagte er nur: “Tina, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Du kannst es nicht ändern, ich liebe dich.“ Tina war ratlos, denn sie hatte dies irgendwie erwartet. Als es ausgesprochen war, wusste sie, dass sich für ihr Leben plötzlich alles geändert hatte. „Du bist sicher verheiratet, hast vielleicht Kinder. Wie geht es übrigens Leila?“ wollte sie wissen. „Ich habe mich nach meinem Studium verheiratet. Meine Frau ist auch Zypriotin. In Girne geboren, du weißt schon, die türkische Fassung von Kyrenia. Die Kinder sind zwischen zehn und fünfzehn: Leila, benannt nach meiner Schwester, der es übrigens gut geht, Can und Hakan. Wir haben ein Haus in Ankara. Da ist natürlich nicht so viel los wie in Istanbul, aber die provinzielle Ruhe Zyperns fehlt mir nicht, und Ankara kann sich auch kulturell sehen lassen. Aber du kennst Ankara sicher schon länger als ich,“ fügte Ahmet hinzu, und Tina sagte nur: „Ich musste beruflich schon öfter nach Ankara.“ Tina fragte unvermittelt: “Liebst du deine Frau? Wie heißt sie eigentlich?“  Ahmet errötete wie ein Schuljunge und sagte: “Arda, sie heißt Arda. Ob ich sie liebe? Sie ist eine gute Mutter und hat alle Liebe verdient, deren man fähig ist.“ Tina hatte verstanden. Um ihre Gespräche fortsetzen zu können, gingen sie in ein kleines Restaurant, gegenüber vom Hotel und ließen  sich dort in einer gemütlichen Ecke nieder. 
Die Zeit verging schnell, und beide waren lange in vertraute Gespräche vertieft. Ahmet musste am kommenden Tag mit dem Außenminister nach Ankara zurück, nicht ohne zu versuchen, für Tina einen neuen Termin für ein Interview zu erhalten. Er gab ihr die Nummer seines Mobilfons. Sie wollten sich bald wiedersehen. Tina würde auch nach Ankara kommen, wenn der Minister dies wünschte. Ahmet erhielt für Tina den 2o. Januar als Interviewtermin, was ihr gut passte. Er ließ sie wissen, dass er in Ankara ein Hotelzimmer für sie reservieren lassen würde und freute sich riesig auf das Wiedersehen. Als Selma Taylor dann am 19. Januar im Sheraton ankam, fand sie ein großes Blumengebinde in ihrem Zimmer vor und eine Flasche Champagner in einem Eiskübel. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wer das veranlasst hatte. Kaum hatte sie ihr Gepäck geöffnet, läutete das Telefon. „Bist du gut angekommen?“ fragte Ahmet schüchtern. „Kann ich dich heute Abend sehen? Ich komme zu dir ins Hotel.“ Tina  hatte Einzelheiten bezüglich des Interviews erwartet, aber vor allem freute sie sich, dass Ahmet sich offensichtlich den Abend freihalten wollte. Sie vergaß, ihm für die Blumen zu danken. Sie würde das nachholen. Nachdem sie ein Bad genommen hatte, machte sie sich zurecht, um mit ihm auszugehen. Sie benötigte recht wenig Zeit dazu, denn als Journalistin hatte sie gelernt, praktische Dinge schnell zu erledigen. Dafür saß sie jedoch manchmal lange über einem Artikel, bis sie den richtigen Anfang gefunden hatte. Es klopfte, und Ahmet trat schnell in ihr Zimmer. Er küsste sie flüchtig auf beide Wangen und kam sich dabei plump vertraulich vor. Er hatte es noch nie verstanden, eine Frau so uninteressiert zu küssen, dass sie sich auf Distanz gesetzt fühlte. Das war auch nicht seine Absicht. Diese verdammte Zurückhaltung, dachte er, muss beleidigend sein. Er nahm Tinas Gesicht in beide Hände und küsste sie noch einmal stürmisch. Ahmet verlor jede Kontrolle über sich, als sie leidenschaftlich seine Hüfte umschlang und ihn nach hinten in einen Sessel drückte. Sie küssten sich noch intensiver als damals bei Onkel Turgut, dachte Ahmet. Ein kleiner Rest Champagner war noch in den Gläsern, als sie sich aus dem Sessel erhoben, um ihre Kleider zusammenzusuchen. Dann gingen sie hinüber zum Bett und schliefen eng umschlungen ein. Für diese eine Nacht konnten sie sich geborgen fühlen wie Kinder, die wussten, dass ihre Eltern ausgegangen waren. 
Tina träumte von ihrem geliebten Ahmet, in dessen Armen sie die ganze Nacht tanzte, und der sie unentwegt küsste. Ahmet sah im Traum seine kleine Schwester, der er unbedingt mitteilen musste, wen er wiedergefunden hatte. Als sie erwachten, dachte Ahmet daran, dass er zum erstenmal, seit er verheiratet ist, nicht nach Hause zu seiner Familie gekommen war, von Dienstreisen einmal abgesehen. Das schweigsame Frühstück musste den vorläufigen Abschluss dieser herrlichen Nacht bilden. 

Tina ahnte nicht, was Ahmet sagen würde. Er schwieg lange und sagte dann: „Könnte ich doch einfach entscheiden, wie ich wollte, ich würde dich nicht mehr loslassen. Aber was immer ich von nun an beginne, ich werde etwas zerstören.“ Ahmet verließ das Hotel. Sie würden sich beim Interview wiedersehen, ohne sich ihre Liebe offen zeigen zu können. In der Zwischenzeit telefonierte Ahmet mit Arda und erzählte ihr, dass er bei einem Freund übernachtet habe, der in der Nähe des Sheraton wohne, weil er nach einem schweren Abendessen mit dem Minister zu müde gewesen war, um noch in den Stadtteil Maltepe zu fahren, wo sie wohnten. Das klang plausibel, aber Ahmet fühlte sich wie ein Verräter. Arda hätte es verdient, die Wahrheit zu hören, wie hart diese auch sein mochte. 

Fortsetzung folgt