Nicht ohne Stolz führte Leila ihren Gast zu Fuß hinauf zum ehemaligen Prämonstratenser-Kloster von Bellapais, einem verfallenen gotischen Bau im levantinischen Stil aus dem 13. Jahrhundert. Eine gute halbe Stunde zu Fuß genügte, um diesen idyllischen Ort zu erreichen, in dem in den Fünfzigerjahren auch der britische Schriftsteller und Zypernfreund Lawrence Durrell wohnte. Sein Haus ist heute noch zu besichtigen. In seinem Buch „Bittere Limonen“ beschreibt er ausführlich den „Tree of Idleness”, den “Baum des Müßiggangs“, der seit Jahren als Gasthaus von ganzen Schwärmen von Touristen aufgesucht wird, was die Qualität des Essens nicht gerade positiv beeinflusst. Das alles liegt mitten in palmenreichen Gärten mit blühenden Bäumen aller Art. Tina ließ sich von Leila alles erklären und freute sich über diesen herrlichen Morgenspaziergang. Im Dorf war auch ein kleines orthodoxes Kirchlein zu sehen, das darüber hinwegtäuschte, dass es seit über 20 Jahren keine Gläubigen mehr gab, die es hätten aufsuchen können. Leila schlug vor, zum Mittagessen mit dem Wagen nach Kyrenia zu fahren und am Hafen frischen Fisch zu essen. Der Harbour Club schien der richtige Ort für die immer noch in Hochstimmung schwelgenden Freundinnen zu sein. Das Essen war hervorragend, und der Blick über den halbmondförmig angelegten Hafen und das venezianische Kastell beeindruckten Tina. An einem kleinen Tisch gegenüber saß ein Herr, der gelegentlich herüberblickte, als wolle er den Damen seine Referenz erweisen. Tina hatte den Eindruck, diesen Mann schon gesehen zu haben, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo das war. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, ohne dies Leila gegenüber zu erwähnen. Am späten Nachmittag erhielt Tina den versprochenen Anruf aus Nikosia. Der Präsident konnte sie nicht zu einem Interview empfangen, sagte eine freundliche Frauenstimme. Der Zeitpunkt sei gerade nicht sehr günstig. Man würde sie in einigen Wochen vielleicht wieder kontaktieren, denn der Präsident sei durchaus an einem solchen Interview interessiert. Tina konnte das nicht ganz verstehen. Vor allem britische Zeitungen waren im Prinzip für solche Informationen zu haben, wenn zu erwarten war, dass neue Aspekte in der Zypernfrage auftauchten.
Da die vergangene Nacht recht kurz war, beschlossen Tina und Leila früh schlafen zu gehen und am Abend nichts mehr zu unternehmen. Tina wollte sich noch den herrlichen Garten anschauen, obwohl ein frischer Wind wehte, der sie leicht frösteln ließ. Sie setzte sich auf eine Bank am Schwimmbecken, das von unten türkisfarben angestrahlt war. Es gingen ihr politische Überlegungen durch den Kopf, die im Gegensatz zu ihrer romantischen Stimmung standen. Irgendwie versuchte sie, sich eine Wiedervereinigung zwischen Süd und Nord vorzustellen. Wie sollte das funktionieren? Auf beiden Seiten herrschte Hass und Bitterkeit über das Vergangene. Jede Seite befürchtete, von der anderen übervorteilt zu werden. Die existenziellen Ängste der türkisch-zyprischen Minderheit konnte sie gut verstehen. Auch den nicht ganz unschuldigen Patriotismus ihrer eigenen Landsleute. Wäre es nicht am besten, beide Volksgruppen würden getrennt voneinander ihre Staatswesen verwalten und im Schutze der eigenen Autonomie so etwas wie Völkerfreundschaft üben? Tina fragte sich mal wieder, ob aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt werden kann. Sie spürte, dass sie dabei war, ein Interview mit Denktasch vorzubereiten. Plötzlich wurde sie von hinten sanft umschlungen. Einem kurzen Schreck folgte freudiges Erstaunen und Jubel: es war Ahmet. Tina war außer sich. Wie war das möglich? Ahmet küsste sie so leidenschaftlich, dass sie vergaß, wie sie sich in Istanbul getrennt hatten. „Liebste, kein Wort zu Leila! Ich muss gleich wieder gehen. Du und ich werden überwacht. Ich erkläre dir alles in wenigen Tagen. Ich habe einen schwierigen Auftrag. Sei bitte morgen um die gleiche Zeit hier am Becken. Du bekommst dein Interview. Ich liebe dich.“ Ahmet verschwand im Garten. Tina war atemlos vor Glück. Leila rief nach ihr, um ihr noch etwas zum Essen anzubieten, aber Tina beschloss, ohne Umschweife in ihr Zimmer zu gehen. Sie konnte gerade noch unter leichtem Erröten Leila eine Gute Nacht wünschen und sich für den schönen Tag bedanken. Diese Nacht würde sie wohl wieder nicht schlafen können. Aber sie war überglücklich, und sie musste über alles nachdenken. Sie wusste, dass sie in jenem Bett lag, in dem Ahmet als Junge geschlafen hatte. Tiefe Behaglichkeit durchströmte sie.
Wie ein kleines Mädchen freute sich Tina auf den nächsten Tag. Wie würde sie es schaffen, wieder allein und unbemerkt im Garten auf Ahmet warten zu können? Sie musste an ihre ersten Begegnungen mit Ahmet vor 20 Jahren in London denken. Nach unerwartet tiefem Schlaf, gefüllt mit wilden Träumen, begab sie sich zum Frühstück, das Leila liebevoll vorbereitet hatte: eine orientalische Mischung aus türkischem Kaffee, englischem Tee, Käse, mit Kreuzkümmel gewürztem Brot, Eiern, Oliven, Butter, Tomaten und Orangensaft. Tina konnte ihren Zustand der Freude über Ahmets Erscheinen nicht verbergen. Doch Leilas Fröhlichkeit ähnelte im Ausdruck dem Glück Tinas, sodass die beiden Frauen ohne diesbezügliche Verwunderung den Tisch auf die Terrasse trugen, denn die Sonne wärmte bereits ausreichend. Nun wurden die Pläne des Tages besprochen. Tina hatte nicht viel Lust, zu arbeiten. Sie machte allerdings kleine Notizen, die sie in einem längeren Artikel über die griechisch-türkischen Beziehungen und das Verhältnis dieser Länder zur Europäischen Union verwenden wollte. Heute sollte es einen Besuch auf der Burg Hilarion geben, eine der drei mäßig erhaltenen Kreuzritterburgen, die das Kyrenia-Gebirge in fast tausend Metern Höhe zierten. Sankt Hilarion war ursprünglich ein Kloster gewesen, das von den Byzantinern im 11. Jahrhundert zur Festung umgebaut wurde. Der Begriff St. Hilarion hatte für Griechisch-Zyprer eine magische Bedeutung, wie so vieles, das von ihnen aufgegeben werden musste, als die Insel endgültig geteilt war. Auch Tina knüpfte an Hilarion seltsame Erinnerungen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie beschlossen, die Burg zu besichtigen und dort oben über Mittag zum Picknick zu bleiben. Die Anfahrt von Ozanköy war kurz. Nach 10 Minuten Fahrt auf der Straße von Kyrenia nach Nikosia, der Pass war gerade erreicht, bog Leila nach rechts ab, um den Aufstieg zur Burg weiter zu verfolgen. Sie kamen an einem martialisch wirkenden türkischen Militärlager vorbei, das herrlich gelegen war. Tina fragte sich ob die jungen Soldaten diese Schönheiten der Natur wirklich sahen und schätzen konnten. Die Burg selbst ragte wie ein mahnender Finger in den Himmel empor. So viel lebende Geschichte in Form von Burgruinen, dachte Tina etwas traurig. Wer waren die Menschen des 20. Jahrhunderts, ob Griechen oder Türken, Zyprer oder Fremde, die hier staunend, aber nichts ahnend von der Vielfalt mittelalterlichen Lebens, herumwanderten und das alles als eine Art Besitztum ansahen und nicht als eine Mahnung zum Frieden für künftige Generationen? Immer wieder dachte Tina auch an den kommenden Abend, die nächste Begegnung mit Ahmet.
Fortsetzung folgt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen