Tina saß am Pool, der nicht beleuchtet war, und wartete im Dunkeln bis sie ein Geräusch wahrnahm. Es war Leila. „Was machst du hier?“ fragte sie ohne jeden Vorwurf. Tina sagte nur: „Ich denke nach.“ „Willst du nicht ins Haus kommen, wir könnten etwas trinken?“ „Ich warte lieber hier, bis ich die nötige Bettschwere bekomme, um schlafen zu gehen.“ Leila war etwas überrascht, akzeptierte aber Tinas Wunsch. Als Tina fühlte, dass Ahmet nicht mehr kommen würde, beschloss sie, in ihr Zimmer zu gehen. Sie ließ die Tür zur Eingangshalle, sowie ein Fenster geöffnet, um in der Nacht eventuell etwas hören zu können. Lange lag Tina wach, und es geschah nichts. Dann hörte sie das Telefon, das in der Halle stand. Sollte sie versuchen, das Gespräch anzunehmen? Leila war schneller am Apparat und stieß einen freudigen Laut aus: „Ahmet, du? Wo bist du?“ Dann lauschte sie lange in den Hörer, während Tina sich wieder in ihr Bett zurückzog und abwartete. Sie hörte Leila noch sagen: “Tina ist bei mir, kann ich ihr alles erzählen?“ Dann legte sie auf und kam sofort an Tinas Tür. „Schläfst du?“ „Nein, komm rein!“ Leila öffnete vorsichtig und sagte: “Ahmet ist in Zypern. Er konnte dich nicht sehen, weil er eine wichtige Besprechung hatte, die mit dem Zypernproblem zusammenhängt. Wir sollen ihn morgen in Nikosia treffen. Ich habe die Adresse. Willst du nicht mit mir feiern, dass mein Brüderchen sich wieder gemeldet hat? Ich weiß, dass dich das nicht mehr interessiert, du könntest mir aber Gesellschaft leisten.“ „Natürlich komme ich“, sagte Tina, „weiß Arda, wo Ahmet ist?“ „Er hat sie erst heute angerufen“, sagte Leila und schloss ihren Morgenrock enger. Tina folgte ihr gähnend und setzte sich erschöpft in einen Sessel. Nach einigem fröhlichen Hin und Her wurde Leila plötzlich ernst und sagte: „Arda ist auf Ahmet nicht gut zu sprechen. Sie wirft ihm vor, alles vernachlässigt zu haben, die Kinder, die Familie, die Arbeit, sich selbst. Außerdem scheint er durch seine immer rätselhafteren Tätigkeiten in Schwierigkeiten zu kommen.“ Der Minister schenke ihm zwar volles Vertrauen, überfordere ihn jedoch mit Ansinnen, die in vielen Jahren nicht bewältigt werden konnten, während jetzt alles ganz schnell gehen müsse. Leila wusste nicht genau, worum es ging, aber Tina konnte sich denken, dass die notwendige Annäherung zwischen Nord und Süd das Hauptthema war. In über 20 Jahren hat es zahlreiche Zuspitzungen gegeben, die leicht zu einem militärischen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei hätten führen können. Die Situation auf der Insel spiegelte das wider, was in den beiden Ländern ohnehin nicht funktionierte: Das gutnachbarliche Verhältnis zweier Länder, die auch noch demselben Militärbündnis angehörten. Vielleicht war es diese Einbindung in die NATO, die Schlimmstes bis jetzt verhindern konnte.
Als Journalistin hatte Tina natürlich Zugang zu politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die sich oft nur sehr verkürzt und verfälscht in den Medien widerspiegelten. Viel Wichtiges wurde dabei ignoriert, weil es nicht als aktuell galt. Sie war neugierig auf Ahmets Bericht, verstand aber schon im Voraus, wenn er nicht viel zu seiner Tätigkeit sagen konnte. Leila schlug vor, am späten Nachmittag schon nach Nikosia zu fahren und die eine oder andere Sehenswürdigkeit flanierend zu besichtigen. Tina, die nicht einmal den größeren griechischen Teil Nikosias gut kannte, war sehr aufgeregt, als sie den heute türkischen Nordteil der Hauptstadt sah. Er wirkte sehr provinziell. Leila führte sie entlang des venezianischen Festungsringes, zeigte ihr im Vorbeigehen das Haus des nordzyprischen Präsidenten, die kleine und die große Karawanserei, deren Restaurierung seit Jahren im Gange ist, dann ging der Weg direkt zur Selimiye-Moschee, die von den Osmanen durch Anbau zweier Minarette ihren gotischen Charakter nicht verloren hatte. Im 14. Jahrhundert war die größte gotische Kathedrale Zyperns die Krönungskirche der fränkischen Lusignans, einer französischen Adelsfamilie, die sich bis 1489, also fast dreihundert Jahre an der Macht halten konnte, bevor die Venezier kamen. Tina hatte das alles in der Schule gelernt. Ihr Vater hatte damals großen Wert darauf gelegt, die Rolle der Osmanen, die ebenfalls dreihundert Jahre in Zypern geherrscht haben, bis 1878, so gut es ging zu schmälern. Dass er diese Moschee früher nur die Kathedrale der heiligen Sophie nannte, war ihr damals nicht aufgefallen. Jetzt konnte sie sich damit abfinden, dass ein Teil ihrer Heimat eine klar umrissene türkisch-zyprische Identität besaß.
Es blieb nicht mehr viel Zeit, denn Leila und Tina mussten sich zur türkischen Botschaft aufmachen, wo sie Ahmet treffen sollten. Sie lag jenseits der Stadtmauern, aber der grünen Linie so nahe, dass man den griechischen Teil der Stadt gut sehen konnte. Der einzige Übergang war ganz in der Nähe. Er vermittelte ein Gefühl von Verlorenheit und Trauer. Die Ankunft am Botschaftsgebäude war zunächst mit Kontrollen verbunden. Dann mussten sie einige Zeit in der Halle warten, wo große Betriebsamkeit herrschte. Ein Herr im dunklen Anzug führte die Frauen in einen kleinen Salon, in dem schon mehrere Männer warteten. Als eine Tür sich öffnete, erkannte Tina sofort den türkischen Außenminister, der von seinem türkisch-zypriotischen Kollegen begleitet wurde. Ahmet folgte ihnen in kurzem Abstand und wies zwei der wartenden Männer an, den Ministern die Tür zu öffnen und sie hinaus zu geleiten. Von den beiden Frauen wurde keine Notiz genommen. Nur Ahmet blieb stehen und wußte nicht, ob er seine Schwester zuerst begrüßen sollte, oder Tina, die wie angewurzelt vor ihm stand. Ahmet entschied sich für Tina, beeilte sich dann aber, Leila herzlich in die Arme zu schließen. Es ähnelte einem diplomatischen Ritual, wie Tina es schon oft beobachtet hatte.
„Stört euch nicht daran, dass uns zwei Leibwächter folgen werden, wenn wir die Botschaft verlassen. Ich denke, dass wir trotzdem die Möglichkeit haben werden, miteinander zu sprechen. Notfalls tun wir es auf Englisch. Jetzt haben wir Zeit. Lasst uns in ein schönes Restaurant gehen, das hier ganz in der Nähe erst vor kurzem eröffnet hat.“ Leila und Tina hatten sich diese Begegnung nach Wochen der Ungewissheit etwas weniger protokollarisch vorgestellt, sich aber damit abgefunden. Sie betraten ein fast leeres Gasthaus. Der Wirt kam sofort auf Ahmet zu und begrüßte ihn herzlich. Die Leibwächter nahmen in einigem Abstand an einem Tisch Platz und fingen an zu rauchen.
Das Essen begann mit zyprischen Mezes, einer ganzen Reihe kleiner Schüsselchen mit vielen verschiedenen Speisen wie rote Bete, Tahin, Humus, Böreks, Halumikäse, Sellerie, Auberginen in Öl, gefüllter Paprika, gefüllte Weinblätter, Tintenfisch, Fleischbällchen, Gurken, Käse und geröstetes Brot. Tina wußte nicht wie sie sich verhalten sollte. Sie war mit Ahmet immer allein gewesen, in Gesellschaft anderer konnten sie nicht ungehemmt über ihre große Liebe sprechen. Dabei war dieses Thema alles andere als erschöpft. Dass sie Ahmet zuletzt abgewiesen hat, bedeutete ihr nichts mehr. Es war ohnehin eher eine Tat der Verzweiflung als eine ernsthafte Trennung gewesen. Ahmet war wieder sehr schüchtern. Es war Leila, die sich an Ahmet wandte, um ihn zum Sprechen zu bringen. „Was sagst du dazu, dass Tina seit drei Tagen bei uns in Ozanköy ist?“ „Ich wusste es,“ sagte Ahmet, „seit unser Zusammentreffen bekannt wurde, hat eine gewisse Stelle in meinem Ministerium jeden unserer Schritte verfolgt. Ich habe dies auch erst vor kurzem durch einen Zufall erfahren. Als Tina nach Ercan flog und von dir abgeholt wurde, fragte man mich diskret, was dies zu bedeuten habe. Ich wusste natürlich nichts davon und beschloss, möglichst bald nach Ozanköy zu fahren, um Näheres herauszubekommen. Dabei fand ich Tina im Garten, und ich beschloss, unser Treffen von heute entsprechend vorzubereiten.“ Tina bemerkte, dass Ahmet es unauffällig geschafft hatte, sein Knie dem ihren unter dem Tisch anzunähern. Tina empfand diese Geste wie einen leidenschaftlichen Kuss, den sie mit ihrem Knie aufs eindeutigste erwiderte. „Es geht mir gegenwärtig nicht gut“, sagte Ahmet. „Wir stecken mitten in Verhandlungen mit der griechischen Seite, um den Dialog über eine Annäherung wieder konkret werden zu lassen. Die große Unbekannte ist immer die andere Seite, von der man nur ahnen kann, ob sie es ernst meint. Ich habe mich da persönlich voll eingesetzt und einen ersten kleinen Erfolg erzielt, deshalb kam auch gleich der Minister aus Ankara, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Es ist allerdings noch verfrüht, etwas nach außen dringen zu lassen.“ Ahmet blickte dabei Tina an, die als Journalistin jedoch genau so zuverlässig sein würde wie seine kleine Schwester. „Tinas Entscheidung, sich von mir zu trennen, hat mich in einen fürchterlichen Zustand versetzt, gerade auch, weil ich wusste, dass für mich auch beruflich vieles auf dem Spiel stand. Ich hatte den Glauben an meine Tätigkeit im Ministerium völlig verloren. Dazu kommt jetzt, dass Arda mir mitgeteilt hat, sie wolle sich scheiden lassen. Ich bräuchte jedoch nicht um die Kinder zu kämpfen. Eine Lösung müsse gefunden werden, um ihnen den Vater zu erhalten. Das ist alles zuviel für mich“. Zu Tina gewandt, sagte er: „Ich brauche dich. Du darfst mich nicht abweisen. Ich gehe daran zugrunde.“ Ahmet sah sehr verzweifelt aus. Leila sagte: „Du wirst das alles schaffen. Wir werden dir zur Seite stehen. Ich werde erst einmal nach Ankara fahren, um bei Arda und den Kindern zu sein. Tina, du solltest Ahmet vielleicht nicht sehen, bis die ganze Sache geregelt ist. Aber er braucht dich, und du musst dir Gedanken machen, wie ihr euer Leben organisieren wollt“. Eine gewisse Erleichterung machte sich bemerkbar. Das Essen wurde ohne großen Appetit fortgesetzt und mit einem Kaffee abgeschlossen. Dann begleitete Ahmet mit seinen Leibwächtern die beiden Frauen zu Leilas Auto und sagte, er würde vor seiner Rückreise vom Hotel aus nochmals telefonieren. Tina wollte noch einen Tag mit Leila verbringen und dann wieder nach Istanbul zurückfliegen. Ahmet küsste Tina und Leila etwas förmlich, dann verabschiedete er sich.
Fortsetzung folgt.
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