Doch Ahmet dachte nicht daran, einen Bogen über zwanzig Jahre zu schlagen. Später vielleicht. Er schaute Tina an und wurde wütend bei dem Gedanken, dass er sie in all der Zeit geliebt hätte und mit ihr glücklich älter geworden wäre. Es muss alles meine Schuld sein, sagte er sich. Ich hätte sie finden müssen. Jetzt ist es zu spät. Jahrelang habe ich jeden Gedanken an sie verdrängt, und jetzt läuft sie mir über den Weg. Stockend und atemlos sagte er nur: “Tina, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Du kannst es nicht ändern, ich liebe dich.“ Tina war ratlos, denn sie hatte dies irgendwie erwartet. Als es ausgesprochen war, wusste sie, dass sich für ihr Leben plötzlich alles geändert hatte. „Du bist sicher verheiratet, hast vielleicht Kinder. Wie geht es übrigens Leila?“ wollte sie wissen. „Ich habe mich nach meinem Studium verheiratet. Meine Frau ist auch Zypriotin. In Girne geboren, du weißt schon, die türkische Fassung von Kyrenia. Die Kinder sind zwischen zehn und fünfzehn: Leila, benannt nach meiner Schwester, der es übrigens gut geht, Can und Hakan. Wir haben ein Haus in Ankara. Da ist natürlich nicht so viel los wie in Istanbul, aber die provinzielle Ruhe Zyperns fehlt mir nicht, und Ankara kann sich auch kulturell sehen lassen. Aber du kennst Ankara sicher schon länger als ich,“ fügte Ahmet hinzu, und Tina sagte nur: „Ich musste beruflich schon öfter nach Ankara.“ Tina fragte unvermittelt: “Liebst du deine Frau? Wie heißt sie eigentlich?“ Ahmet errötete wie ein Schuljunge und sagte: “Arda, sie heißt Arda. Ob ich sie liebe? Sie ist eine gute Mutter und hat alle Liebe verdient, deren man fähig ist.“ Tina hatte verstanden. Um ihre Gespräche fortsetzen zu können, gingen sie in ein kleines Restaurant, gegenüber vom Hotel und ließen sich dort in einer gemütlichen Ecke nieder.
Die Zeit verging schnell, und beide waren lange in vertraute Gespräche vertieft. Ahmet musste am kommenden Tag mit dem Außenminister nach Ankara zurück, nicht ohne zu versuchen, für Tina einen neuen Termin für ein Interview zu erhalten. Er gab ihr die Nummer seines Mobilfons. Sie wollten sich bald wiedersehen. Tina würde auch nach Ankara kommen, wenn der Minister dies wünschte. Ahmet erhielt für Tina den 2o. Januar als Interviewtermin, was ihr gut passte. Er ließ sie wissen, dass er in Ankara ein Hotelzimmer für sie reservieren lassen würde und freute sich riesig auf das Wiedersehen. Als Selma Taylor dann am 19. Januar im Sheraton ankam, fand sie ein großes Blumengebinde in ihrem Zimmer vor und eine Flasche Champagner in einem Eiskübel. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wer das veranlasst hatte. Kaum hatte sie ihr Gepäck geöffnet, läutete das Telefon. „Bist du gut angekommen?“ fragte Ahmet schüchtern. „Kann ich dich heute Abend sehen? Ich komme zu dir ins Hotel.“ Tina hatte Einzelheiten bezüglich des Interviews erwartet, aber vor allem freute sie sich, dass Ahmet sich offensichtlich den Abend freihalten wollte. Sie vergaß, ihm für die Blumen zu danken. Sie würde das nachholen. Nachdem sie ein Bad genommen hatte, machte sie sich zurecht, um mit ihm auszugehen. Sie benötigte recht wenig Zeit dazu, denn als Journalistin hatte sie gelernt, praktische Dinge schnell zu erledigen. Dafür saß sie jedoch manchmal lange über einem Artikel, bis sie den richtigen Anfang gefunden hatte. Es klopfte, und Ahmet trat schnell in ihr Zimmer. Er küsste sie flüchtig auf beide Wangen und kam sich dabei plump vertraulich vor. Er hatte es noch nie verstanden, eine Frau so uninteressiert zu küssen, dass sie sich auf Distanz gesetzt fühlte. Das war auch nicht seine Absicht. Diese verdammte Zurückhaltung, dachte er, muss beleidigend sein. Er nahm Tinas Gesicht in beide Hände und küsste sie noch einmal stürmisch. Ahmet verlor jede Kontrolle über sich, als sie leidenschaftlich seine Hüfte umschlang und ihn nach hinten in einen Sessel drückte. Sie küssten sich noch intensiver als damals bei Onkel Turgut, dachte Ahmet. Ein kleiner Rest Champagner war noch in den Gläsern, als sie sich aus dem Sessel erhoben, um ihre Kleider zusammenzusuchen. Dann gingen sie hinüber zum Bett und schliefen eng umschlungen ein. Für diese eine Nacht konnten sie sich geborgen fühlen wie Kinder, die wussten, dass ihre Eltern ausgegangen waren.
Tina träumte von ihrem geliebten Ahmet, in dessen Armen sie die ganze Nacht tanzte, und der sie unentwegt küsste. Ahmet sah im Traum seine kleine Schwester, der er unbedingt mitteilen musste, wen er wiedergefunden hatte. Als sie erwachten, dachte Ahmet daran, dass er zum erstenmal, seit er verheiratet ist, nicht nach Hause zu seiner Familie gekommen war, von Dienstreisen einmal abgesehen. Das schweigsame Frühstück musste den vorläufigen Abschluss dieser herrlichen Nacht bilden.
Tina ahnte nicht, was Ahmet sagen würde. Er schwieg lange und sagte dann: „Könnte ich doch einfach entscheiden, wie ich wollte, ich würde dich nicht mehr loslassen. Aber was immer ich von nun an beginne, ich werde etwas zerstören.“ Ahmet verließ das Hotel. Sie würden sich beim Interview wiedersehen, ohne sich ihre Liebe offen zeigen zu können. In der Zwischenzeit telefonierte Ahmet mit Arda und erzählte ihr, dass er bei einem Freund übernachtet habe, der in der Nähe des Sheraton wohne, weil er nach einem schweren Abendessen mit dem Minister zu müde gewesen war, um noch in den Stadtteil Maltepe zu fahren, wo sie wohnten. Das klang plausibel, aber Ahmet fühlte sich wie ein Verräter. Arda hätte es verdient, die Wahrheit zu hören, wie hart diese auch sein mochte.
Fortsetzung folgt
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