Selma ging mit ihrer Freundin, die sie an ihrer Arbeit teilhaben lassen wollte, in das kleine Nebenzimmer, um sich schon einmal mit dem Ort des Gesprächs vertraut zu machen. Der Außenminister erschien, begleitet von drei Mitarbeitern, die ihr der Reihe nach vorgestellt wurden. Selma schaute eigenartig berührt auf, als der Minister sagte: „Dies ist ein neuer Mitarbeiter aus Nordzypern, Ahmet Aslan, der dem Ministerium als Berater dient.“ Selma brauchte einige Sekunden, bevor sie in der Lage war, zu sprechen: “Ich bin Tina.“ Ahmet bewegte sich kaum und sagte nur: „Selma Taylor ist Tina?“ Dann wandte er sich an den Minister und flüsterte ihm etwas zu. Der Außenminister sagte zu Selma: „Wir können das Gespräch auch ein andermal führen,“ drehte sich um und verließ den Raum. Maureen hatte nicht richtig verstanden, worum es ging und schaute Selma fragend an. Sie wusste natürlich, dass ihre Freundin ihrem Vornamen Kristina den türkisch klingenden Namen Selma hinzugefügt hatte, unter dem sie allmählich bekannt wurde. Selma Taylor war ihr Markenzeichen als Journalistin geworden. An den Namen des damaligen Geliebten Kristinas konnte sich Maureen allerdings nicht sofort erinnern. Mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Tina und Ahmet standen sich unschlüssig gegenüber und trauten sich nicht, etwas zu sagen. Tina kramte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und gab sie Ahmet. Dieser nahm sie stumm entgegen. Zu vieles ging ihm durch den Sinn. Er machte eine hilflose Bewegung mit den Händen und sagte nur noch: „Ich rufe dich an.“ Beide wussten, dass ein solches Zusammentreffen nicht vor den Augen anderer abgehandelt werden durfte. Sie würden sich nach alsbald wieder sehen. Soviel war sicher.
Kristina und Maureen verließen den Dolmabahce-Palast umgehend und nahmen ein Taxi nach Hause. „Warum war ich unfähig, mit Ahmet zu sprechen?“ dachte sie. Zu viel Zeit war vergangen. „Ich habe längst aufgehört, ihn zu lieben,“ wollte sie sich einreden. „Warum hat er mich damals nicht gesucht, als er meinen Brief erhielt? Hat er ihn tatsächlich erhalten? Ich weiß es nicht.“ Das Telefon klingelte eindringlich, als sie in die Wohnung traten. Maureen hörte Tina sagen: „Ja, Ahmet, wir treffen uns in einer Stunde, in der Halle des Mamaris.“ Tina konnte vor Aufregung nur sagen: “Maureen, du musst mich heute Abend entschuldigen. Ich kann mit dir nicht essen gehen. Ich muss Ahmet sehen, nach so langer Zeit. Warte nicht auf mich. Es wird sicher spät, denn es gibt wird viel zu erzählen geben.“ Vielleicht ist Ahmet heute ein ganz anderer, ging es Tina durch den Kopf. Er ist sicher verheiratet. Glücklich? Unglücklich? Bin ich glücklich? Sie beschloss, sich keine dieser Fragen zu beantworten. Wie ein aufgeregtes kleines Mädchen fing sie an, sich zurecht zu machen, um Ahmet zu sehen. Dann fiel ihr ein, dass sie London anrufen musste, um zu sagen, dass das Interview mit dem Außenminister geplatzt war, jedenfalls für die gerade in der Planung befindliche Wochenendausgabe des Guardian.
Kristina nahm wieder ein Taxi und fuhr zum Marmaris, einem bekannten Istanbuler Hotel. Als wolle er jedes Aufsehen vermeiden, hatte sich Ahmet in der hintersten Ecke der Hotelhalle verkrochen. Da er den Eingang zum Hotel nicht aus den Augen gelassen hatte, sah er Tina sofort. Er erhob sich schnell und ging ihr entgegen. Mit großer Umsicht führte er sie an seinen Platz und setzte sich ihr gegenüber. Beide wussten, dass sie nun zunächst zwanzig Jahre totgeschwiegener Vergangenheit zu überbrücken hatten. Dabei fragten sie sich, ob es nicht bittere Enttäuschungen geben würde, die auch mit der Feststellung enden konnten, dass sie sich nichts mehr zu sagen hätten. Tina glaubte jedoch zu spüren, dass er sie mit den gleichen Augen eines Liebenden betrachtete, wie sie es von anderen Männern kannte, die ihr den Hof gemacht hatten. Er muss jetzt um die vierzig sein, sagte sie sich, und in den besten Jahren seines Lebens. Er wirkte ruhig und ausgeglichen. Sein pechschwarzes Haar hatte nicht gelitten, um die Hüften war er wohl etwas kräftiger geworden. Für Tina hatte sich Ahmet nicht wesentlich verändert, stellte sie zufrieden fest. Ahmet sah in Tina sofort jene schöne, reife Frau, die er sich schon vor zwanzig Jahren vorstellen konnte. Sie musste einen Mann oder einen ständigen Begleiter haben. Das Glück konnte nicht einfach nach so langer Zeit sich zurückmelden und sagen: “Hier bin ich,“ ging es Ahmet durch den Kopf. Nun hatten beide begriffen, dass sie sich nur anschauen mussten. Niemand erwartete von ihnen Konversation. So saßen sie eine Weile, bis ihnen jemand eine Getränkekarte vorlegte und auf eine Bestellung wartete. Ahmet hatte keine Ahnung, welches Lieblingsgetränk Tina hatte, und so bestellte er zwei Brandy Sour, ein Getränk, das in ihrer zyprischen Heimat auf beiden Seiten der Green Line mit Vorliebe getrunken wurde. Dies war nicht nur außerordentlich diplomatisch, dachte Tina, es freute sie sogar, wie ernsthaft er immer noch war, auch wenn es um Kleinigkeiten ging.
„Ich hätte dich nie hinter dem Namen Selma Taylor vermutet, obwohl mir deine Artikel immer sehr vertraut vorkamen, als hätte ich die Autorin gekannt,“ begann Ahmet und fügte hinzu: „erinnerst du dich noch an alles?“ „Als wäre es gestern gewesen,“ sagte Tina. „Du hast sicher keine Ahnung, wie mich meine Eltern behandelten, als ich ihnen sagte, ich wolle dich heiraten. Mein Vater schlug mich und nannte mich eine Prostituierte. Meine Mutter war unfähig, mir zu helfen. Wie kannst du uns so etwas antun, schrien sie mich an, und mein Vater brachte mich zu Tante Philia nach Oxford, bis kurz vor meiner Abschiebung nach Athen und dann nach Limassol. Ja, es war eine richtige Abschiebung. Man ließ mich nicht aus den Augen und verhinderte somit, was wie eine Katastrophe empfunden wurde. Als ich dann volljährig wurde, bemühte ich mich, nach England zu kommen, was einige Zeit dauerte. Ein Brief an deinen Onkel Turgut wurde nie beantwortet, und ich musste annehmen, dass deine Familie genauso barbarisch gegen dich vorgegangen ist. Es war für mich sehr schwer. Ich glaube, ich war zu jung und unreif, jedenfalls zu hilflos. Dann erlernte ich meinen Beruf, der mich heute voll ausfüllt.“ Diese lange Rede Tinas zeigte Ahmet, wie gut sie komplexe Zusammenhänge vereinfachend darzustellen vermochte. Allerdings verlor sie kein Wort über eventuelle Beziehungen zu anderen Männern. Vielleicht wollte sie ihm nicht weh tun mit irgendwelchen gescheiterten Affären. Dass sie keine feste Beziehung hatte, glaubte er zu wissen. Er erinnerte sich auch an eine sehr schmeichelhafte Bemerkung, die der Außenminister vor kurzem über sie gemacht hatte. Sie sei eine der interessantesten Griechinnen, die ihm in Athen oder sonstwo über den Weg gelaufen sei. Das bedeutete viel, denn der Minister gab sich meist sehr zugeknöpft.
Ahmet wollte den Fluss ihrer Rede nicht unterbrechen und sagte nichts. Kristina verstand und fuhr fort: „Als ich dann eine voll beschäftigte Schreiberin war, lernte ich einen Kollegen kennen, Nick Taylor. Er machte Dokumentarfilme bei einem Fernsehsender in Birmingham. Als er mir einen Bericht über die Lage in Zypern zeigte, den er gerade fertiggestellt hatte, bat ich ihn, einige Änderungen vorzunehmen, denn der Beitrag war sehr einseitig. Wenn man den Starrsinn von Fernsehleuten kennt, erwartet man nicht, dass sie dir entgegenkommen. Nick war sehr aufgeschlossen und vertraute meinen Ratschlägen sofort. Das hat uns zusammengebracht. Kinder hatten wir beide anfangs eingeplant, aber der berufliche Stress ließ es nicht zu. Dann war es zu spät. Nick kam durch einen Unfall um, vor zehn Jahren. Seitdem habe ich nicht einmal gelegentlich geflirtet. Wahrscheinlich habe ich mich zu sehr auf meine Arbeit konzentriert. Wie du weißt, haben Frauen als Journalisten es besonders schwer, wenn sie nicht gerade an Bettgeschichten interessiert sind.“ Tina wollte nun wirklich nicht mehr weiter erzählen und überließ es Ahmet, seinerseits über Vergangenes zu reden.
Fortsetzung folgt.
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