Donnerstag, 26. Januar 2012

Ahmet und Kristina - Zwanzig Jahre später -Teil 1



Istanbul, Sylvester 1999. Eine junge Frau namens Selma Taylor bereitet sich darauf vor, den letzten Abend des Jahres mit Freunden zu verbringen. Sie hatten in einem der besseren Restaurants am Bosporus, in Bebek, Tische reservieren lassen. Dort sollte Fisch gegessen und anschließend auf das Neue Jahr angestoßen werden. Selma freute sich nicht richtig darauf. Die Arbeit war im Dezember, wie immer, besonders hektisch gewesen. Ihre Leser wollten Stimmungsberichte und Analysen über die Lage im Nahen Osten, über die Türkei und dazu noch persönliche Schilderungen über die Art des Feierns, über die Lieblingsgerichte und Traditionen der Menschen dieser Region haben. Schließlich war sie eine jener populären Journalistinnen, die in mehreren Blättern gleichzeitig Artikel veröffentlichten, wobei zu bestimmten Anlässen auch ein Foto von ihr abgedruckt wurde. Gelegentlich war sie selbst Gegenstand von Spekulationen, denn ihre Leser in Großbritannien und in der Türkei kannten sie gut. Sie war für ihre mutigen und kompetenten Interviews mit Politikern und Künstlern bekannt. In der Türkei schrieb sie für eine englischsprachige Tageszeitung. Oft wurden ihre Artikel auch ins Türkische übersetzt und in einheimischen Zeitschriften abgedruckt. Dabei hatte sie selbst Türkisch gründlich gelernt, zum Schreiben von Aufsätzen reichte es allerdings nicht. Selma musste auch immer wieder dementieren, dass sie mit diesem oder jenem Journalistenkollegen oder Politiker enger liiert sei. Sie hatte ihren Mann vor etwa zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz verloren. Das Unglück geschah beim Flug über das Schwarze Meer. Seitdem gab es solche Spekulationen, denn sie war als Enddreißigerin eine auffallend  attraktive Frau. Manchmal amüsierte sie das alles, denn diese Klatschnachrichten waren in den wenigsten Fällen bösartig, aber es gab Augenblicke, da wünschte sie sich, weniger bekannt zu sein. Zu ihren Pflichten gehörte es auch, zu den Veranstaltungen des Istanbuler Presseklubs zu kommen, in dem die meisten ausländischen Journalisten Mitglied waren. Der Sylvesterabend war also mit Stress verbunden, dabei hatte sie gehofft, noch vor Jahresende die Ausläufer einer hartnäckigen Grippe loszuwerden und das neue Jahr ruhig angehen zu können. Sie zog ein türkisfarbenes Abendkleid an, verzichtete aber auf jede Art von Schmuck, nur ein Armband, ein Geschenk ihres umgekommenen Mannes, wurde angelegt. Der Abend verlief angenehm. Sie saß zwischen einem Kollegen, der als Türkeikorrespondent für die Süddeutsche Zeitung arbeitete und ausnahmsweise gleich nach Weihnachten aus München zurückgekommen war, und einem jungen Fernsehjournalisten aus Athen, mit dem sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte. Es wurde reichlich gegessen und getrunken.  Gegen Mitternacht bewegte sich alles hin zur Terrasse, um ein grandioses Feuerwerk, das jenseits des Bosporus und etwas weiter weg, über Istanbul, zu sehen war. 
„Wieder ein Jahr vergangen,“ dachte Selma und betrachtete ihr müdes Gesicht in einem Spiegel. Sie war mit dem Taxi nach Hause gefahren, nachdem sie zum Glück auf Anhieb eines gefunden hatte. Ihre Freundin Maureen wohnte einige Tage bei ihr, sie hatte gehofft, dem grauen Wetter in England zu entfliehen und in Istanbul ein wenig Sonnenschein tanken zu können. Dies war eine Illusion, über die Selma sie durch Ausflüge in die nähere Umgebung, hinwegtröstete. Und sie nahm  Maureen zu einigen Empfängen und Essen mit, die das trübe Wetter vergessen ließen. Es war nach zwei Uhr morgens, als sie und Maureen  endlich schlafen gingen. Am Abend des ersten Januar wollte sie mit ihrer Freundin zum Dolmabahce-Palast. Dorthin hatte der türkische Außenminister sie zu einem Gespräch eingeladen. Sie musste sich vorher gründlich auf dieses Interview vorbereiten. Sie wollte ihn über die Zukunft Zyperns befragen. Er war immer sehr höflich und zurückhaltend und hatte ihr schon bei früheren Gelegenheiten angenehme Komplimente gemacht. Da die Lage in Zypern sich mal wieder zugespitzt hatte, und es neue Gerüchte über eine baldige Lösung des Konfliktes gab, hatte sie noch vor Weihnachten um einen Gesprächstermin nachgesucht. Jetzt wollte sie aber keine schweren Gedanken mehr wälzen, sondern entspannt und schnell einschlafen.
Selma und Maureen bestiegen ein Taxi, das sie bei der kleinen Dolmabahce-Moschee absetzte, denn sie wollten noch ein wenig zu Fuß gehen. Da sie keine Einladungen hatten, musste Selma zunächst warten, bis das Personal am Eingang Rücksprache mit einem Mitarbeiter des Ministers genommen hatte. Dann konnten sie eintreten. Es schien ein kleiner Empfang zu sein, ohne protokollarischen Aufwand, ganz nach dem Geschmack des Ministers, der eine Reihe von guten Freunden eingeladen hatte. Dazu waren auch einige Diplomaten erschienen, handverlesen, wie Selma dachte, und ein Stab von Mitarbeitern, der sich in der Nähe des Ministers aufhielt. Bevor sie sich richtig umsehen konnten, kam der Minister auf die beiden Frauen zu und begrüßte sie. Nachdem die Neujahrswünsche ausgetauscht waren, sagte der Minister, er könne in etwa einer halben Stunde mit ihr das Gespräch führen, ein kleiner Salon würde dafür bereit stehen. Selma und Maureen bewegten sich durch die fröhlich schwatzende und trinkende Menge und begrüßten, wer ihnen bekannt vorkam oder vorgestellt wurde. Selma hatte sich vorgenommen, den Minister vor allem zu fragen, ob Nordzypern von der Türkei annektiert würde, wenn der griechisch-zyprische Teil der Insel in die Europäische Union aufgenommen würde. Dieses Gerücht war aufgekommen. Der Außenminister selbst hatte darüber schon laut nachgedacht. Die Formulierung dieser heiklen Frage machte ihr noch etwas zu schaffen.


Fortsetzung folgt.

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