Eigentlich wollte ich mich gleich hinsetzen und etwas schreiben, als Reich-Ranicki seine Rede vor dem Bundestag beendet hatte. Die Kanzlerin schaute bedrückt, der Bundespräsident hatte sein eingefrorenes Dauerlächeln heruntergefahren, und die vielen politischen Kämpfer, die Vertreter von Gesellschaft und Religionen und die meist jugendlichen Zuschauer auf den Tribünen standen wie unter Schock. Was der neunzigjährige Jude mit brüchiger Stimme vor der ganzen Nation vorgetragen hat, war ("ich spreche nicht als Historiker") der Bericht eines noch lebenden Zeitzeugen, der trotz aller konkreter Gefahren den Holocaust überlebt hat. Man kann dies alles auch nachlesen. Aber den Bundestag hat man noch nie so betroffen, so niedergeschlagen, so mitfühlend erlebt. Das ging durch alle Parteien. Ich beschloss, erst nachzudenken, bevor ich mich äußere.
Jetzt bin ich dazu bereit. Sofort fällt mir ein, dass Reich-Ranicki, als er noch das Literarische Quartett in der ARD leitete und er und seine Mitstreiter die literarische Szene der deutschsprachigen Welt besprachen, oft wie ein Diktator daherkam. Apodiktisch, unbarmherzig, subjektiv und in höchstem Maße unterhaltsam. Für Millionen Zuschauer ein wahres Fest von geistigem Blitz und Donner. Man hätte ihn manchmal hassen können, ob seiner Behauptungen. Fast kaustisch, nie albern ( was die Härte etwas abgemildert hätte), tobte er sich mit seiner markanten Sprechweise zusammen mit seinen Mitstreitern über literarische Phänomene aus. Für mich der beste Augenblick im deutschen Fernsehen, das inzwischen fast alle Zähne verloren hat, die dieser Möchtegerntiger einmal besaß. Reich-Ranicki also in seinen besten Jahren. Ich habe ihn damals schon geliebt, wie man einen guten Lehrer lieben kann.
Die Rede vor dem Bundestag über die entsetzlichen Taten Nazideutschlands war eine Erinnerung an menschliches Versagen, bürokratische Kriminalität und gleichzeitig auch an die Größe, die die systematische Ausrottung der Juden immer wieder hervorgebracht hat. Ja, wir sollen nicht nur an das Katastrophale unserer Geschichte erinnert werden, sondern auch an das, was Reich-Ranicki selbst zu einem Bewunderer und Vertreter deutscher Kultur gemacht hat. Wie stolz können wir auf einen solchen Zeitzeugen sein, der nie ein Berufsjude war, aber klar zu seinen Überzeugungen stehen konnte, nachdem der Naziterror beendet war. Ein Glück für uns alle, dass er noch lebt.
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