Seit Tagen wurden zwischen Arda und Ahmet kaum Worte gewechselt. Die Kinder waren ausgelassen, wie immer und konnten nicht verstehen, warum die Eltern ernst und unglücklich aussahen. Streit hatte es nicht gegeben. Kleine Unstimmigkeiten wurden stets beigelegt, bevor die Kleinen etwas merkten. Als Ahmet sagte, er würde nach Istanbul fliegen, fragte Arda nicht, warum, was er da tun würde, noch wann er wiederzukommen gedenke. Er wusste, dass es kein Mangel an Interesse war, sondern ein großherziges Loslassen, das er vielleicht nicht verdiente. Er würde nicht zurückkommen, ohne eine klare Entscheidung getroffen zu haben. Tina oder Arda, war für ihn nicht das Dilemma, sondern er wollte mit beiden Frauen glücklich sein können. Er dachte an seine Heimatinsel, in der auch Tina zu Hause war. Beide lebten sie in der Fremde, weil auf dieser verdammten Insel kein Platz für Liebende aus beiden Teilen zu sein schien. Auch die Teilung Deutschlands, die so glücklich zu Ende gegangen war, hatte ihn immer beschäftigt, nachdem Freunde ihm grausige Einzelheiten geschildert hatten. Dass sie selbst ohnmächtige Opfer einer politischen Konstellation waren, die anscheinend niemand ändern konnte oder wollte, machte ihn wütend. Er liebte Tina über alles, und er brauchte sie. Nicht alle waren in der Lage, so stark zu empfinden. Für ihn wurde dies eine existenzielle Frage. Tina rannte die Treppe hinunter, als er läutete. Atemlos hing sie an seinem Arm, als sie nach oben gingen. Fieberhaft fasste sie ihn an, entzog ihm die Jacke, die Schuhe, Hosen und sonstiges, als die Tür ins Schloss gefallen war. Es dauerte nicht lange, und sie lagen erschöpft am Boden, Auge in Auge, und hielten sich fest umklammert. „Mein geliebter Ahmet. Ich habe dich so lange nicht gesehen! Was soll ich nur ohne dich tun? Ich vernachlässige meine Arbeit, was mich nicht kümmert, und warte darauf, dass du mich anrufst. Spürst du, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann?“ Tina fing an zu weinen. Dann sagte sie fast tonlos: „Du darfst nicht mehr zu mir kommen. Ich habe beschlossen, unsere Beziehung abzubrechen. Ich habe Arda einen langen Brief geschrieben, den ich gestern abgeschickt habe. Es gibt kein Zurück. Arda weiß jetzt alles. Ich habe ihr geschrieben, dass ich endgültig aus deinem Leben treten werde. Und dabei bleibt es. Ahmet, ich liebe dich. Du bist mein Glück und mein Verderben.“ „Ich liebe dich auch und für immer, meine köstliche Tina,“ sagte Ahmet, „du darfst nicht Schluss machen. Ich werde bei dir bleiben. Du hast keine andere Wahl.“ Doch Tina ging zur Wohnungstür, öffnete sie und sagte nur noch: „Ich erwarte, dass du in fünf Minuten gegangen bist. Dann ging sie ins Bad und schloss sich hörbar ein. Ahmet verließ leise das Haus. Jeder Zweifel über das, was er zu tun hatte, war von ihm gewichen.
Leila beschloss, nicht mehr länger zu warten. Arda hatte sie aus Ankara angerufen, Schlimmes ahnend und äußerst beunruhigt, denn sie hatte seit Tagen nichts von Ahmet gehört, und ihr Kristinas Telefonnummer gegeben. Arda hatte natürlich versucht, durch Ahmets Büro etwas herauszufinden. Sie kannte alle seine Mitarbeiter. Diese sagten nur, er habe einige Tage Urlaub genommen, mehr wüssten sie nicht. Nun musste man versuchen, über Kristina vielleicht etwas zu erfahren. „Hallo, Tina. Ich bin Ahmets Schwester Leila. Arda und ich sind in großer Sorge wegen Ahmet. Nachdem Arda deinen Brief erhalten hatte, wartete sie auf Ahmet, der nicht nach Hause kam. Weisst du was geschehen ist? Es ist nicht seine Art, einfach zu verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.“ Tina war durch Ahmets Erzählungen auch mit Leila vertraut und freute sich zuerst, die Stimme von Ahmets Schwester zu hören. Die Tragweite der Frage war ihr zunächst nicht klar. Wenn Ahmet nicht nach Hause gekommen ist, wo konnte er dann sein? Es konnte ihm nichts zugestoßen sein, ohne dass man es erfahren hätte. Sie hatte sich verloren gefühlt, seit sie Ahmet für immer aus dem Hause gewiesen hatte. Aber sie hatte nicht an der Richtigkeit ihrer Entscheidung gezweifelt. Nun sprach Ahmets Schwester zu ihr, wie zu einer Freundin, die sie schon lange kennt. “Nein, ich weiß es nicht, Leila. Ich habe getan, was ich Arda in meinem Brief mitteilte. Ahmet ist gegangen, und ich habe inzwischen nichts mehr gehört. Was mich verwirrte, war, dass Ahmet meine Entscheidung einfach akzeptierte und das Haus verließ. Bitte, rufe mich an, wenn du etwas erfährst.“ Plötzlich überkam Kristina eine eigenartige Scham. Arda und Leila mussten vermuten, dass ihr Brief eine Finte war, um Spuren zu verwischen oder Arda in eine falsche Sicherheit zu wiegen, was Ahmet betraf. Sofort suchte sie nach Leilas Telefonnummer und rief sie in Ozanköy an, einem kleinen Ort unterhalb der berühmten Abtei von Bellapais, wenige Kilometer von Girne/Kyrenia entfernt. Hier wohnte Leila im Haus der Eltern, die beide vor Jahren gestorben waren. Von Ahmet wusste Kristina, dass sein eigenes Kinderzimmer unverändert alle Zeiten überstanden hatte und auf seine gelegentlichen Besuche zuhause wartete. „Kristina hier“, sagte sie nur, „Ich werde heute Abend aus Istanbul kommen. Kann ich gegen zehn Uhr bei dir sein?“ Leila schien erfreut und sagte nur, Tina solle nicht ins Hotel gehen. Sie könne in Ahmets Zimmer übernachten, und sie würde sie am Flughafen in Ercan abholen. Es musste sich um den Flug Nummer 1264 von Turkish Airlines handeln, mit dem die Reisenden um 21 Uhr in Nordzypern ankamen.
Leila fragte sich, was Tinas spontaner Besuch bedeutete. Nach dem Foto, das Ahmet ihr gezeigt hatte, würde sie Tina sicher erkennen. Bevor sie noch Einkäufe für ein eventuell verspätetes Abendessen machte, rief sie Arda an, einfach um sie wissen zu lassen, dass auch Tina beunruhigt war und nach Nord-Zypern kommen wollte. Ardas Hoffnung beschränkte sich im wesentlichen darauf, abzuwarten, bis Ahmet wieder auftauchen würde. Sie konnte sich darüber hinaus nicht vorstellen, wie es weitergehen würde. Er hatte sich immer als verantwortlicher und umsichtiger Familienvater verhalten, obwohl sie sich schon lange damit abgefunden hatte, dass er sowohl was seine Arbeit als auch sein Privatleben betraf, sehr verschlossen war. Zu Vieles schien bei ihm in den Bereich des Geheimnisvollen zu gehören. Das hing wohl mit seiner Arbeit im türkischen Außenministerium zusammen. Des öfteren hatte er angedeutet, dass er in einer vertraulichen Angelegenheit tätig werden musste, ohne jedoch Genaueres zu sagen. Leila freute sich sehr auf Kristina, die sie nur von Fotos und aus den Zeitungen kannte, und der sie ein Stück ihrer Heimat zeigen wollte, die auch Kristinas unbekannte Heimat war. Der Frühling war gerade dabei, auch den nördlichen Teil der Insel mit atemberaubender Blütenpracht zu verzaubern. Mimosen, Jasmin, wilder Fenchel, Klatschmohn, Alpenveilchen und einige seltene Orchideen ragten aus dem Meer von Blumen hervor, das von Gelbtönen jeder Art und schweren Düften überlagert wurde. Die Temperaturen waren milde bis kühl, vor allem in der Nacht. Leila verbrachte einige Zeit am Kleiderschrank, um sich für den Abend ein schönes Kleid oder ein Kostüm auszusuchen. Sie entschied sich dann für einen hellbraunen Hosenanzug, der ihre schlanke Figur betonte. Was würde Tinas Anliegen sein, fragte sie sich, denn niemand setzt sich einfach ins Flugzeug, um aus Neugier einen Besuch abzustatten.
Fortsetzung folgt.
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