Donnerstag, 25. Mai 2017

Der Brite und die Wirklichkeit.

Bei meinem Gang hinunter ins Zentrum von Haworth habe ich beschlossen, von jetzt an ein kurzärmeliges Hemd anzulegen und mich der Wirklichkeit des frühsommerlichen Hochs zu stellen. Der Engländer ist schon längst darauf eingestimmt: Männer tragen gerne diese absonderlichen Shorts, die mehr als großzügig das Knie bedecken, sowie, bei einem Hoch wie heute, die leicht klappernden Sandalen. Der Hund bleibt an der Leine, weil Strafen wegen "fouling" empfindlich sein können und der Hundekot auch weggeräumt werden muss. Und Tätowierungen sind bei den Jüngeren die Norm.


Die britische Frau zeigt ungewöhnliches Selbstbewusstsein, ob hübsch oder unhübsch. Frauen haben im Vereinigten Königreich schon früh die Erfahrung gemacht, dass sie genauso intelligent sind wie die Männer, und deshalb auch die gleichen Rechte beanspruchen können. Schließlich ist Theresa May ihre politische Führerin, und nicht die erste Frau im Geschäft. Maggie Thatcher galt jedoch als etwas verbissen, wähend Theresa sich fest und solide gibt. Der Falklandkrieg hat Maggie nicht gut getan. Und auch Mays Brexit ist noch eine offene Seifenblase, die den Engländer hart und unerwartet in einer noch neuen Wirklichkeit treffen könnte.


Es ist natürlich vermessen, den Enländer an sich zu beobachten und Schlüsse daraus ziehen zu wollen. Doch die winzigen täglichen Beobachtungen geben sicher etwas her, denke ich. Die Vorgärten, meist ohne Gartenzwerge, sind oft winzig. Manchmal passen nur die Mülltonnen hinein. Oder ein paar prächtige Schalen oder Töpfe mit liebevoll eingesetzten Zierpflanzen. Die Mauer hin zum Gehsteig verfügt oft über eine "Rille" mit Erde, sodass kleine Blumen und Büsche darin wachsen können. Reihenhäuser können auch mal richtig verlottert sein, mit ungpflegten Fenstern oder Türen. Der Gehsteig mit uraltem Pflaster, jeder Begehung mit Kinderwagen abhold. Und für zwei Fußgänger nebeneinander ungeeignet. Auf solche Wirklichkeiten stellt sich der Brite gerne ein. Seine Geduld kommt durch solche Alltagsproblemchen erst richtig in Bewegung. Der andere hat immer recht und wird freundlich durchgelassen.


Ich muss etwas pauschal werden: der Engländer liebt das Auto. Ohne Protz, aber mit einem guten Markengefühl. Mercedes ist immer und überall etwas besseres. Man kennt das. Doch Jaguar und Volvo lassen Luft für kleine Steigerungen. Standard, neben Honda, dürften BMW, VW und Audi sein. Wenn genügend Testosteron vorhanden ist, darf es auch ganz schön laut werden. Der Auspuff ist dann oft mitschuld. Man kümmert sich nicht sehr um solche Dinge. Doch das Verhalten am Steuer ist in der Regel tadellos. Man lässt sich gegenseitig freundlich den Vortritt. Verstöße können aber  streng per Hupe kritisiert werden.


Erlaubt die britische Wirklichkeit dem Menschen, ein besserer zu werden? Liebt er deshalb seine Nationalflagge so abgöttisch? Überall ist sie zu sehen. Ein Symbol für alles Britische? Das Hineinschlüpfen in Verkleidungen jeder Art mutet ebenfalls etwas befremdlich an. Fast jedes Wochenende ist durch irgendwelche Kostümfeste geprägt. Wenn das nicht genügt, kann der Brite auch noch das Steam Punk betreiben, das in der Rolle von anderen öffentliche Herumgehen, das kaum mit dem Kölner Karneval zu vergleichen ist. Dieses Rätsel werde ich wohl nie lösen.


Also, was ist britische Wirklichkeit und woher kommt sie? Ich glaube, dass diese Wirklichkeit aus vielen Facetten besteht: die absolute Leugnung und Ignorierung. Sonst hätten es die Johnsons, Farages und Goves nicht so leicht gehabt, eine ganze Bevölkerung in das Brexit zu treiben, was offensichtlich keiner gewollt hatte. Die Einschneckung einer Gesellschaft, die auf einer Insel lebt. Wir sind anders, ist das Gefühl. Dann haben die Briten eine lange und erfolgreiche Geschichte hinter sich, wo sie die Welt beherrschten und sich überlegen fühlen mussten. Kein Wunder, dass unsere Freunde von jenseits des Kanals ihre eigene Methode haben, an der Wirklichkeit vorbeizuschrammen. Aber, was ist Wirklichkeit?

Wirklichkeit ist auch, wenn Cath mich am Arm fasst und fragt: riechst du etwas? Und ich wie immer nein sage. Dann taucht er auf: der geöffnete Fish & Chips Laden, wo die Menschen leidenschaftlich gerne schlangestehen.









Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen