Mittwoch, 7. Oktober 2015

Yorkshire G'schichten, oder wie man von Wien nach Haworth kommt

Die Wiener G'schichten scheinen ein für allemal vorbei. Kaum sitzt man im Auto und hat ein paar Kilometer hinter sich gebracht, da sieht die Welt ganz anders aus. Den Husten nehme ich noch mit. Er wird sich erst beruhigen, wenn wir in Yorkshire im Regen stehen. So weit ist es noch nicht. Zunächst fahre ich wie der Teufel, entlang der A1, Richtung Linz. Das dauert eine Weile. Es ist Sonntag, und das Radio spielt Debussy. Wie schön, wenn es "draußen" neblig ist, mit kleinen Sprüheinlagen und dem ruhigen Verkehr, ohne lästige LKWs. Anfang Oktober ist die Reisezeit vorbei. Bald ist Deutschland angekündigt, dann geht es schon über die bayrische Autobahn in Richtung Nürnberg.  Daran vorbei, brummbrumm, dann meldet sich der Appetit, zusammen mit einer geduldigen Blase. Bereits im Fränkischen, finden wir den kleinen Ort Brunn, wo zwei ältere Landdamen ein herrlich einfaches Essen servieren, gut, ja, sehr gut, ein sonntägliches Essen auf dem Lande. Das Ziel: auf dem Weg nach England mit einer Übernachtung auszukommen und am anderen Abend in Seebrügge, an der belgischen Küste, in die Pride of York einzufahren. So weit ist es noch nicht.

Cath will nach vielen Jahren der Abwesenheit von der Heimat wieder einmal einige Wochen in Haworth verbringen, wo ihr Vater gelebt hat und ihre Mutter, ganz in der Nähe, in Pflege untergebracht ist. Auch zwei Brüder mit ihren Frauen leben hier im Norden Englands. Bis nach Limburg wollen wir es schaffen, wo wir hoffentlich einen Blick auf die renovierte Residenz werfen können, die der verschwenderische Bischof Tebartz van Elst unvollendet hinterlassen musste, weil er in seiner Dämlichkeit und Arroganz den Zorn nicht nur der Katholiken auf sich gezogen hatte. Doch bis nach Limburg schafften wir es nicht mehr. Wir hatten stundenlange Staus hinter uns, und beschlossen, gleich nach Wiesbaden in ein im Dämmerlicht liegendes Seitental zu fahren, das zu einer Burg und einem Ort namens Epstein führte. Schnell hatten wir das kleine Hotel am Fuße der Burg ausgemacht, das Zimmer Nummer 10 erhalten und einen herzhaften Flammenkuchen bestellt und gegessen. Dazu Wein aus dem Rheintal.

Da wir dabei sind, unsere dreijährige Wiener Heimat langsam aufzugeben, ist alles, was nach Heimat aussieht, besonders interessant. Das junge Hotelpärchen, mit dem wir ins Gespräch kamen, sprach mit Begeisterung von dem echt schönen Ort Epstein, in dem es sein Zuhause gefunden hatte. Cath und ich freuten uns darüber, denn Cathies und mein Heimatgefühl hatte durch etliche Umzüge (Brüssel, Paris, Straßburg, Zypern, Schwarzwald, Wien) ein wenig gelitten. Wo ist man zuhause, wenn man es nicht eindeutig sagen kann? Überall und nirgendwo. Die Hotelfamilie sprach neben Deutsch auch Türkisch. Ihre Heimat: Epstein im Taunus.

Dann kam das verwirrende Stück bis an den Rhein, vorbei an Limburg und Bonn, die Ehemalige, das Übersetzen über den Großen Fluss, die Suche nach Aachen und nach dem besten Weg durch ein Stück Holland, Belgien, mit dem dicken Brocken Antwerpen, an dem wir elegant vorbeituckerten, bis wir auf den endlosen Geraden bis hin nach Brügge waren. Verspätetes Mittagessen an der Küste, letztes Volltanken vor dem teuren Norden, an dem wir am folgenden Morgen an Land gehen wollten, sich Annähern an die stattliche Fähre nach Hull, an der Nordostküste, ungeduldiges Warten bis wir endlich auf das Schiff durften.

"Handbremse anziehen" hieß es da im Unterdeck. Etwas Gepäck mit in die Kabine nehmen, und sofort an der Bar relaxen, mit einen englischen Bier (Cath) oder einem Gin'n'Tonic (ich), bis der Kahn vollbeladen ist und die Passagiere in den Esssaal gebeten werden. Dann kann es losgehen. Ich freue mich immer auf diesen Teil der Reise: Im Restaurant trinken wir eine Flasche Roséweine aus Rioja, in der Kabine ist es angenehm eng, und in den Klappbetten wird nach einer solchen Autofahrt geschlafen wie es es die englische Königin nicht besser könnte. Die See war atemberaubend ruhig. Das morgendliche Frühstück atemberaubend europäisch, die Nacht, atemberaubend erholsam. Jeder, der andersherum zu denken versteht, kommt spätestens dann auf seine Kosten, wenn das Auto wieder auf der Straße steht und man auf der linken Seite losfahren muss. Irrtümer sind da keine erlaubt.

Nach etwa 100 km, jetzt in Meilen ausgedrückt, vorbei an Leeds, Bradford und Halifax (Achtung! Cathie's Geburtsort!), weiter im Westen, liegt Haworth. Im Regen! An diesem Ort hielten es die berühmten Bronte-Sisters aus. Da lebten und starben sie. Wir kamen rechtzeitig an, um dann in die Old Hall zu Fuss zu gehen. Da gab es für mich Fish'n Chips, in Wirklichkeit Battered Haddock genannt, und für Cath: Saussages mit einer beängstigenden Auswahl an Gemüsen. Kaum gegessen, fuhren wir zu Margaret, Cathies Mutter. Der Oberschenkelhals war gebrochen, jedoch auf dem Weg zur Heilung. Die alte Dame ist aber sehr müde, sodass wir nicht lange bleiben können.

Der Rest unseres Tuns: Sweet nothing. Wird der Regen einmal enden? Niemand regt sich darüber auf. Es geschieht halt. Cath öffnet zuhause die Schränke, um irgendetwas zum Naschen zu finden. Erfolglos. Wir müssen Einkäufe machen. Gin haben wir aus Wien mitgebracht. Tonic von Schweppes finden wir hier. Auch das ist Heimat. In Deutschland findet die Woche als Woche der Heimat statt. Ein sehr mutiges Thema für ein Land, das selbst einmal dazu beigetragen hat, diese Heimat zu zerstören, aber auch die schönsten Worte dafür zu finden. Heimatland, Heimatland, Dein gedenk' ich 
ewig, oh, mein stilles Heimatland! Ich hoffe, dass alle "Fremden", die in Deutschland und Österreich heimisch werden und werden müssen, das Gefühl haben können, zuhause zu sein. Ich konnte immer zuhause sein, wenn ich jemanden lieben konnte und selbst geliebt wurde. Cath ist jetzt in ihrer Heimat, und ich fühle mich hier pudelzuhause. 








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