Samstag, 18. Dezember 2010

Der Schrei der Möwe am Bosporus

Nachts hört man sie kreischen und ächzen, auch wenn die Stadt etwas zur Ruhe kommt. Der Wind jagt sie über die Dächer. Das Meer bleibt unsichtbar, liegt aber zum Greifen nahe. Gibt es einen Unterschied zwischen den Möwen der Ostsee und denen am Bosporus? Ihr sehnsüchtiges Heulen verrät in der Nacht nicht, wo sie hinfliegen und wo sie herkommen. Vom Marmarameer? Wollen sie hinüber zum Goldenen Horn? Offen stehende Mülltonnen lassen sie Nahrung finden. Sie finden immer etwas. Sie beherrschen die Lüfte. Lassen wir es dabei.
Vorwinterliches Bangen, das Unbekannte einer bevorstehenden Reise, der Novemberhimmel, das leichte Gepäck, der diskret zügige ICE nach Frankfurt: sie alle versetzen in eine wohlige Spannung. Ist der Pass noch gültig? Habe ich alles eingepackt? Cath und ich saßen im allerersten Waggon eines Doppel-ICE, direkt hinter dem Lokführer, den man getrost zum Bahnpiloten ernennen könnte. Wir sehen, wie der Zug pfeilschnell das morgendliche Grau durchwühlt, der Flughafenstation unmerklich näher kommend. Dann ist es soweit. Der Flugschein muss an einem der Rechner einprogrammiert und ausgedruckt werden. Was für eine widerliche Beschäftigung. Die Kontrollen zu durchlaufen, hat dann mit Spießruten zu tun. Das dauert eine Weile. Fast unverhofft befinden wir uns in der Warteschlange für den Flug LH 1298 nach Istanbul. Ein „Airport Guide“ hatte uns die über hundert anderen Fluglinien aufgezeigt, aber elegant umgehen lassen. Die Lufthansa ist in Frankfurt schließlich zuhause und deshalb leicht zu finden. Wären wir bei Syrianair, Koral Blue Airlines, Tailwind Havayollari oder Uzbekistan Airways gebucht gewesen, hätten wir uns sicher verlaufen und nicht nach knappen drei Stunden am Atatürkflughafen ankommen können. Ja, bei der Ankunft kann man noch seelenruhig duty free einkaufen, bevor man das Taxi zum Hotel nimmt. Ich kenne nur noch den etwas bäuerlichen Flughafen von Nordzypern, wo man das ebenfalls tun kann. Man darf das ungestraft für kultiviert und zivilisiert halten. Bange Erwartung, wenn man in dieser Megastadt in das Taxi steigt. Der Fahrer sprach Türkisch, war nett, superschnell und zuverlässig.
Das Hotel, ein Fünfsternekasten, dem es, außer, vielleicht, an einem halben Stern, an nichts fehlt, liegt in Alt-Istanbul, das viele noch Stambul nennen. Die Blaue Moschee, die Hagia Sophia, der Große Basar und das Topkapi liegen in Fußweite, sofern die Füße das aushalten. Sänften, in denen früher die Damen herumgetragen wurden, sieht man hier schon lange nicht mehr. Die Männer liefen damals nebenher. Heute ist alles zu Fuß unterwegs. Wir wurden bereits erwartet, denn Cath hatte eine Aufgabe übernommen, die sie drei Tage an das Hotel fesseln sollte: Konfliktmanagement für Journalisten aus zwei verschiedenen Lagern: Georgien und Abchasien, das ein „abtrünniger“ Teil dieser ehemaligen Sowjetrepublik ist. Kriegerische Handlungen hatten das Land entzweit. Russland unterstützt die Abchasen, und Georgien hatte sich in diesem Konflikt wohl etwas übernommen. Gleich nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges hatte sich Abchasien zur autonomen Republik erklärt. Klein und unbemittelt, will Abchasien nun seine Selbständigkeit (behalten). Wer vermittelt? Den sogenannten Großmächten und den reichen Staaten ist das alles ziemlich egal. Friedliches Zusammenleben muss nicht nur in einer konfliktreichen Ehe gelernt werden, sondern auch in historisch gewachsenen Problemzonen, von denen es viele gibt. Nord- und Südzypern, Tschetschenien, Kosovo, usw. Einige der alten Zankäpfel gehören teilweise der Geschichte an: Südtirol, Nordirland,  Moldawien, (oder heißt es Moldova? Oder Moldau?) oder täuscht man sich da immer wieder? Überall bleibt jedenfalls viel zu tun. Schnell kann so ein Streit wieder aufflammen. Der Europarat bemüht sich redlich, solche Konflikte einzudämmen. Mit Erfolg? Cath ist da ein nützliches Rädchen, das gegnerische Seiten sich an einander annähern hilft. Für Journalisten gilt: sich nicht bange machen lassen, alles überprüfen, die Wahrheit lieben, nicht die Sensation, und die Argumente beider Seiten anhören.
Ich hatte damit nichts zu tun, lächelte jedoch immer freundlich, wenn ich im Hotel einem der Teilnehmer begegnete. Historisch-ethnisch-religiös-sprachlich bedingte Kollektivpsychotherapie ist nicht mein Ding. Da lasse ich die Finger weg. Dafür tauchte ich im vertrauten Istanbul unter, wo Teppichhändler, und Sesamkringelverkäufer unterwegs sind. Natürlich kann man eine solche Stadt nicht in drei Tagen auch nur annähernd erforschen. Nicht einmal die zahllosen Spuren der Vergangenheit können gedeutet werden. Zu vieles ist dort geschehen, seit der Gründung dieses Weltzentrums der Menschheit. Erdbeben, Kriege , Brände und Erosion haben an den Baulichkeiten genagt, sie zerstört und auch teilweise wieder erstehen lassen. Das moderne und ultramoderne Istanbul hat sich da eingefügt. Die Faszination für diese Stadt ist immer schon dagewesen. 
Es ist Bayram, ein Fest, das aus drei (?) Tagen besteht, und erstaunlicherweise den Straßenverkehr erheblich reduziert, während andererseits Millionen feiernder Istanbuler die Tage nutzen, um Moscheen, Museen und andere Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Die kleinen Istanbuler werden dabei liebevoll von ihren Papis, Mamis oder Omis durch die übervölkerten Straßen geschoben. Dass dabei Granatapfel- und Orangensaft,  sowie Fanta, hektoliterweise getrunken wird, ist der Feiertagsstimmung und dem herrlichen Wetter zu zu schreiben. Istanbul im November: ich hatte es vor Jahrzehnten auch schon mal kalt und unwirtlich erlebt. Es sind dreißig Jahre her, dass ich Istanbul entdeckte und sofort bezaubert war. Damals musste ich weiter, nach Ankara, wo ich eine ähnliche Aufgabe hatte, wie Cath heute: europäische Erfahrungen in der Ausbildung von Sprachlehrern zusammen zu führen, mit Hilfe von Spezialisten aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Jährlich drängten 200 000 neue Schüler an die Gymnasien. Diese Aufgabe konnte das Land nicht alleine bewältigen. Um die entsprechenden Lehrer auszubilden und zu motivieren, mussten neue Methoden und alte Erfahrungen aus den genannten Ländern erprobt und eingesetzt werden. Studiengänge für Sprachlehrer, Unterricht über die Massenmedien, Fernsehen und Rundfunk, neue Lehrmittel und Schulbücher. Eine gigantische Aufgabe, die ich von einer türkischen Kollegin übernommen hatte, und die mich oft in die Türkei brachte. 
Necla lebte damals in Straßburg, heute im modernen Teil Istanbuls, hoch über dem Bosporus. Ich werde sie besuchen. Das viel getadelte Militär hatte im November 1980 den gewalttätigen Rivalitäten an den Schulen und Universitäten ein Ende gesetzt. Diese Machtübernahme hatte nach einiger Zeit Frieden und Ordnung im Lande wieder hergestellt. Ein Beweis dafür, dass ausländische Analysten oft zunächst einmal unken, weil das den Medien gefällt, bevor sie logische Schlüsse ziehen.
Die Geschichte Istanbuls,  erst in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Hauptstadt durch Ankara abgelöst, ist so vielfältig, dass man die Hoffnung verliert, den Überblick zu gewinnen.
Byzanz, Konstantinopel, Istanbul, eine einzige Stadt, oft erobert, abgebrannt, zerstört, wieder hergerichtet. Eine Million um 1950, schon 4 Millionen um 1975, heute ist es unmöglich, genaue Zahlen für die Einwohner zu erhalten. Es leben wohl 13 bis 16 Millionen Menschen in Istanbul. Sie alle lieben diese Stadt, auch die vielen Minderheiten, während die Fremden sie mit Ehrfurcht bestaunen. Sie verschluckt die Menschen nicht, wie etwa New York oder London, sie saugt sie ein und spuckt sie wieder aus. Istanbul ist ständig in Bewegung. Auch nachts. Seit ihrer Gründung vor 2600 Jahren verbindet  diese Stadt Europa mit Asien, heute durch Europas längste Hängebrücke versinnbildlicht. Der „Grenzfluss“ ist der Bosporus. Das Goldene Horn, europaseitig ein reizvoller Blinddarm, den manche auch Kloake nennen. Man liebt es dennoch. Aus dem heutigen Griechenland stammt der sagenhafte Gründer, Byzas. Um 658 vor Christus soll er Byzantios, oder auf Lateinisch Byzantium, gegründet haben. Im Jahre 324 nach Christus wurde die Stadt zu Ehren des Kaisers Konstantin I, des Großen, in „Konstantinopel“ umbenannt. Dieser war von Trier nach Byzanz gekommen, um das oströmische Reich mit dem weströmischen  wieder zusammenzufügen. Das gelang jedoch nicht. In Trier hatte er das römische Reich gegen den Druck aus dem germanischen Norden verteidigen wollen. Das gelang ebenfalls nicht. Zehn Jahre lang war Trier also die Hauptstadt des römischen Reiches gewesen, ohne dass dies etwas geändert hätte. Es konnte nicht gut gehen. Die Geschichte zog weiter und diktierte ihre Gegebenheiten. Für Istanbul hinterließ sie unterschiedliche Namen in verschiedenen Sprachen. Letztendlich wurde Istanbul daraus, als die Stadt 1453 von den  Osmanen erobert wurde. 
Der (f)liegende Teppich
Die Kunst, Teppiche zu verkaufen, ist so alt wie der Teppichhandel selbst. Nur gewiefte Teppichfreunde schaffen es, erhobenen Hauptes aus einem Teppichhaus zu entkommen, ohne der Versuchung zu erliegen und ein, vielleicht, zu teuer eingekauftes Paket unter dem Arm zu tragen. Den freundlich gestellten Fangfragen des Hausherrn müssen mindestens drei mögliche Antworten gegenüber stehen, sonst gerät man in Erklärungsnot und entzieht sich dem Ganzen nur mit dem Kauf eines Teppichs oder wenigstens einer Brücke. Die amerikanische Methode („Was kostet der ganze Laden? Ich kaufe ihn) ist nicht sehr wirtschaftlich. Also muss man sich anstrengen. Mit einem guten Freund, der des Türkischen mächtig war, ging ich einmal in Ankara in ein Teppichgeschäft. Ankara ist irgendwie das Preußen der Türkei: man hat dort (immer noch?) solide Preise, niedrig und attraktiv, und verhandelt wird nicht. Also flüsterte ich meinem Freund zu: diese Nomadenbrücke aus Anatolien mit den Minaretts am Rande gefällt mir. Mein Freund darauf hin zum Verkäufer: „Osmanbey, mein Freund weiß nicht, ob er einen Teppich kaufen will. Ich glaube, wir gehen mal wieder. Danke für den Tee“. Draußen gab ich mich überrascht:  „Aber Norbert, diese Brücke hätte ich gerne gekauft, ich bin sogar ganz sicher“. „Nichts überstürzen“, hörte ich ihn sagen. Sein Lächeln war wissend und verschlagen. „Morgen gehen wir nochmals zu ihm und machen ihm ein Angebot. Dann geben wir noch etwas nach, und du hast dein Geschäft gemacht“, sagte Norbert. So geschah es. Die Brücke verschwand in meinen Unterhosen im Koffer und tauchte erst zuhause wieder auf. Wenn ich das Stück mehrmals am Tage betrachte, weiß ich, dass ich nicht zu viel bezahlt habe und dass der Orient ein Teppichparadies ist. Zurück nach Istanbul. Ich stehe am Rande der Ordu Caddesi, einer der großen Geschäftsstraßen der Altstadt, und blicke unschlüssig um mich. Geht es zum Basar hinauf oder hinunter? Man kann im Orient leicht die Orient---ierung verlieren. Schon fragt mich ein zufällig wartender Herr, ob er mir helfen könne. Im Nu stand ich in einem Teppichladen der Luxusklasse und hielt, von einem kleinen Jungen auf einem Tablett gereicht, den Tee in der Hand. Der Besitzer stellte sich vor: „Ich heiße Orhan Soundso, woher kommen sie“? Ich wusste, dass ich lügen musste. Auf meiner Visitenkarte steht auch noch die Straßburger Adresse. Das passte mir. Ich heiße Wolfgang, auf Englisch natürlich: Wuffgäng. Jetzt beginnt das Zeremoniell: ob ich Teppichliebhaber sei, schon mal einen gekauft hätte, ob der an der Wand mir gefiele, ob ich mir vorstellen könne, was er wert sei, ich solle doch mal einen Vorschlag machen. Die Kunst der Diplomatie besteht darin, sich aus jedweder Lage aalglatt heraus zu reden, und zwar, nicht wie der Elefant im Porzellanladen. Wir schieden als Freunde. Zum erstenmal in meinem teppichgeschwängerten Leben, verließ ich ein Teppichgeschäft ohne auch nur einen kleinen Bettvorleger zu kaufen. Mein Stolz war berechtigt, obwohl ich gelogen hatte, was das Zeug hielt. Die Wahrheit hat im Orient eben ein anderes Gesicht. Man sagt Dinge, die hautnah an der Wirklichkeit vorbeischrammen, maßstabgerecht, etwa, wie eine Sternschnuppe, die ja auch tausende Kilometer an unserem Planeten vorbeistreicht und die irdische Wirklichkeit für Sekunden fraglich erscheinen lässt. Damit habe ich mir das Orientdiplom geholt, auf das ich schon lange scharf war.
Fernsehen bringt die Menschheit einander näher.
Als es schwarz/weiß begann, gab es Länder mit Fernsehen und Habenichtse. Die Fernsehländer hatten ein Programm, das um 16 Uhr begann und vor Mitternacht beendet wurde. Man befürchtete eine Überfütterung des Zuschauers und die hohen Produktionskosten. Die Aufnahmegeräte waren teuer, und jede einfache Produktion erforderte: 1-2 Wagen für den Transport, wenn es Außenaufnahmen gab, neben dem Kameramann, Beleuchter, Toningenieur, Kabelträger und Assistenten auch noch einen Regisseur. Ganz zu schweigen von Programmdirektoren, Aufnahmeleitern, Kopierwerk und Schnitt. Letzteres reiste nicht mit. Sicher habe ich etwas vergessen. Heute gibt es in jedem Land 20-50 Programme, die alle rund um die Uhr in Farbe senden. Dazu über Satellit, im Prinzip, noch den ganzen Rest der verfügbaren Programme bis hin zu Arirang, der englischsprachigen Propagandamaschine Südkoreas. Das wäre unglaublich gut, wenn die ausgestrahlten Programme nicht das geistige Niveau von Schimpansen hätten. Als erstes möchte ich mich bei den Schimpansen entschuldigen. Es ist mir nur so herausgerutscht. Zweitens muss ich mich entschuldigen bei den Fernsehmachern, die Talent haben und irgend etwas Interessantes auf den Bildschirm zaubern wollen. Dann bei all denen, die längst aufgehört haben, das Fernsehen ernst zu nehmen. Ich bin nicht nach Istanbul gekommen, um fernzusehen. Aber: wie verführerisch, in einem Hotel aus Neugier durch zu zappen. Zumal der Bildschirm von erschreckender Breite war und man ihm kaum aus dem Weg gehen kann. Zuerst folgte ich dem netten Gebrabbel einer Sissi Perlinger, die im ZDF den Weg ins Glück suchte. Damit ist neben der Friedrich-Ebert-Stiftung auch die CDU in der Türkei würdig vertreten. Die Grünen sind es durch Cem Özdemir, dem man alles vorwerfen kann, nur nicht, er sei waschechter Schwabe. Zum Glück sind die meisten TV-Programme auch in der Türkei völlig unpolitisch. Dafür halten sie viel von Unterhaltung und Werbung. Während die Deutsche Welle TV von Prinz William und Kate Middleton als künftiges Ehepaar schwärmt, äußert sich Arte auf Arabisch. Zwar ist mir nicht bekannt, dass man in der Türkei Arabisch spricht, aber die Rai Uno macht es auf Italienisch, die CNN auf Amerikanisch und NHK auf Japanisch. Dafür sendet „een“ Werbung auf Deutsch und Flämisch (?). Es ist zu vermuten, dass das Angebot von ca. 50 Kanälen nur die Spitze des türkischen Eisberges ist, und dass im Prinzip alle Sprachen vertreten sind, sogar Türkisch. Natürlich ist es überaus reizvoll, in seinem Hotelzimmer auf 50 Fernsehprogramme zugreifen zu können, der Unterhaltungswert ist jedoch bei weitem größer, wenn man sich vom Room Service eine Flasche Wein (Vila Doluca, warum nicht?) liefern lässt oder eine halb ausgezogene Lady vom Escort Dienst. Die fernsehgerechte Debilisierung der Kinder fängt auch in der Türkei mit Zeichentrick an (Disney Channel, CartoonNetwork). Später im Leben, kommen, wie in Deutschland, populäre Programme wie Musikantenstadel oder Bauer sucht Frau hinzu. Originell ist eigentlich nur noch die Augsburger Puppenkiste und Tatort. Alles andere ist überall schon mal ausprobiert, durchgezogen und wieder abgesetzt worden. Am schlimmsten sind eingeblendete Lacher in amerikanischen Juxserien. Man fühlt sich gedemütigt. Ich würde zu gerne wissen, wie sich der kritische Türke fühlt, wenn er einen dieser Kanäle einschaltet, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Vorbei die Zeiten, wo man am nächsten Tag noch Fernsehkritiken nachlesen konnte. Das Fehlen dieser Kommentare ist der Beweis für die Bedeutungslosigkeit des Fernsehens. Auch die neuerliche Nutzung der Redewendung „umso – umso“, die das „Je-desto“ mehr und mehr ersetzt. Nur der Wetterbericht macht manchmal noch Sinn, wenn nicht gerade von Starkregen die Rede ist.
Necla
Wie schön, wenn man in einer solchen Stadt Freunde hat. Sie heißt Necla und ging in die deutsche Schule. Später, als der Krieg zu Ende war, ging ihr Lehrer nach Deutschland, und ich bekam ihn als Oberstudiendirektor. Wir beide konnten nur Gutes über ihn erzählen. Necla lebt mit Selahatin und dessen kurdischer Frau in einem Haus mit traumhaftem Blick auf das was Istanbul ausmacht: die Silhouette der Moscheen mit den Minaretts, der Bosporus mit der großen Hängebrücke. Ein Anblick aus Tausend und einer Nacht. Selahatin brachte Netsch (wie ich sie gerne nannte) in ihrem kremfarbigen Mercedes zu unserem Hotel, wo wir in Ruhe Plauderten und lunchten. Sie ist mit der Politik ihres Landes unzufrieden. Wen wundert das? Ich bin auch nie zufrieden. Man kennt alle Reden von Politikern im Voraus. Mut und Originalität scheinen verpönt. Also können die Medien nur berichten über schon Gewusstes. Dass Gelegentlich ein Unglück passiert, ist ein wahres Glück. Was hätte man sonst zu berichten? 
An einem Abend kann Cath sich freimachen. Wir nehmen die Straßenbahn ich hatte mir das so gewünscht!), fahren bis zur Endstation und gehen unweit des Dolambahce-Palastes einige Stufen hinauf, bis wir am Haus ankommen. Der Fahrstuhl ist ein ehrwürdiges Stück Technik. Gittertüren schließen, innere Flügeltüren schließen (oder auch nicht) und schon fährt er hinauf in die 200 qm-Etage, wo Netsch wohnt. Zuerst der Blick über den Bosporus, hin zum Topkapi und zur Blauen Moschee und zu all den anderen, von denen die schönsten von Baumeister Sinan gebaut wurden. Behaglicher Luxus umgibt uns. Wir trinken etwas und betrachten alte Fotos und Teppiche. „Hier, das bist du“ hörte ich Netsch sagen. Sie deutete auf einenTerroristen im schwarzen Bart und unsäglicher Bubikopffrisur. Das soll ich gewesen sein? Ich leugne es. „Das ist der Professor“. Auch ein Terrorist. Dann Felix, ein längst verstorbener Freund aus Frankreich. Er ist ein Gentleman, war einer, und wird in unserem Gedächtnis immer einer sein. Selahatin hatte Tschekessisches Huhn gemacht, eine köstliche Speise nach altem Rezept, mit nussiger, kremiger Soße. Vorspeise, Nachspeise, Weißwein und Rotwein. Selahatin gibt sein bestes, und wir erleben mal wieder jene Gastfreundschaft, die bei uns Kanaken im Norden Europas so selten geworden ist. Kanaken ist polynesisch und heißt Mensch. Später wurde der Begriff auch in Deutschland verwendet, um ausländischen Mitmenschen Achtung zu erweisen. Mancher Türke kann davon ein Lied singen. Unser Selahatin musste uns dann mit Neclas gemütlichen Mercedes zum Hotel zurückbringen. Jetzt geschah das Wunder des Heiligen Geistes: Selahatin sprach ununterbrochen türkisch mit uns. Das machte die Rückfahrt kurzweilig und spannend, denn ich versuchte, möglichst viel zu verstehen. Allah möge mir gnädig sein: es gelang nicht immer, aber wir langweilten uns nicht und verabschiedeten uns von Selahatin mit „tesekkür ederim“ und „allaha-ismalardik“. Sowohl das Dankeschön als auch das Aufwiedersehen spreche ich nach Angaben meiner türkischen Freunde ohne jeden Akzent aus. Ist das eine jener eher orientalischen Wahrheiten?
Nachwort
Der Türke an sich ist nett, freundlich, kinderfreundlich und omafreundlich. Gastfreundschaft ist Teil seines Wesens. Was mich beunruhigt ist die Tatsache, dass in Deutschland Fußmatten verkauft werden, auf denen „welcome“ steht. Können wir nicht mehr in der eigenen Sprache „willkommen“ sagen? Dafür haben wir nach Aussagen einiger konservativer Politiker eine abendländische, christlich-jüdische Kultur. „Tritt ein, bring Glück herein“ hieß es noch im 19. Jahrhundert. Dafür haben wir heute eine christlich-jüdische Kultur. Was für ein Unsinn! Was machen wir mit der wachsenden Anzahl von Mitbürgern, die an Allah glauben? Wenn ich an Opus Dei denke, läuft es mir kalt über den Rücken.

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