Samstag, 18. Dezember 2010

Leise rieselt der Schnee



Am Weihnachtsbau-haum die Lichter brennen. Seit September, möglicherweise schon vorher, rüsten die Schokoladefabriken für das große Fest. Weihnachtliche Motive tauchen auf: ein Schluck vorweg aus der großen Umsatzpulle. Lebkuchen, nein, nicht mehr von Muttern, sondern in Nürnberg hergestellt, und in Massen versandt. In alle Welt. Schmeckt eigentlich ganz gut. Und Magenkrämpfe können medikamentös gemeistert werden. In England beginnt das freundlich-aufdringliche Merry Christmas schon sehr früh. Jeder wünscht es jedem. Ohne Rücksicht. Eine echte Zumutung. Weltweit wird der Mensch aufbereitet. Dazu die Musik. Jingle Bells, White Christmas, Stille Nacht. Auch Hunde sind davon betroffen. Oder lässt sich ihr wehleidiges Jaulen anders erklären?


Ja, Gutes tun, das ist es. Die vielen hungrigen Münder. Die bettelarme Welt. Da gibt es was zu tun: ein Euro hier, ein Euro da. Das läppert sich zusammen. Pelzmäntel müssen nicht mehr sein. Ein Aufenthalt auf den Malediven tut’s auch. Der Sonne wegen. Da fällt dann schon mal ein Euro ab. Das schlechte Gewissen um den kerosinhaltigen Kurzurlaub lässt noch zusätzlich einen Euro locker werden. Also ist alles in Ordnung. Die polnische Gans. Der saftige Schinken aus dem Aostatal, Der echte Dresdner Stollen. Und eben: Nürnberger Lebkuchen, dazu Lübecker Marzipan. Das alles zum saisonmäßig reduzierten Benzinpreis. Auch der Strom soll teurer werden. Wieso? Er ist es doch schon. Das alles stimmt uns eigentlich ein auf die festlichen Tage, wo (eigentlich) unser Herr (eigentlich) in der Krippe liegt. Besinnlichkeit wird verordnet: soll ich noch etwas Marzipan essen, oder auch dem Kind von Gegenüber einen Euro schenken? Frieden, ja das ist es. Wenn wir den Hader ein wenig vergessen, wird alles gut. 
Der Weihnachtsstern ist (eigentlich) in Mittelamerika und Mexiko zuhause. Eigentlich aber auch hier, und er gehört zur Gattung der Wolfsmilch, was schauerlich klingt. Kurzum: eigentlich eine Zimmerpflanze, die die Haltbarkeit auf den Gipfel treibt. Mäßig wässern, nicht ewig von Ort zu Ort schleppen, als Geschenk immer willkommen, wobei man sein baldiges Ableben verhindern kann und der purpurrote Stern sogar den Winter überlebt und als grünes Gewächs weiterwuchert. So ist der Weihnachtsstern zum leuchtenden Symbol (für was eigentlich?) geworden. Welt weit. Feste kommen, Feste gehen. Die Süßigkeiten liegen im weihnachtlichen Magen. Seit dem Jahr 354 wird am 25. Dezember gesamtchristlich gefeiert. Der geschmückte Nadelbaum stammt aus dem beginnenden 16. Jahrhundert. Damals ging es noch ernsthaft um Apfel, Nuss und Mandelkern. Heute ist man zufrieden, wenn man seiner Pflicht als weihnachtlicher Konsument nachkommt. Abgemagert wird dann später oder gar nicht. Ach ja, die Weihnachtsinsel: sie wurde am Weihnachtsabend 1643 entdeckt. Wo sie liegt? Weit genug weg, um vom christlichen Fest weitgehend unberührt zu bleiben. Das betrifft vor allem die Nürnberger Lebkuchen, die im Indischen Ozean schnell vertrocknen würden. 
Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende. Ich war ein kleines Kerlchen mit einer noch kleineren Schwester. Was mein Vater damals trieb, weiß ich nicht. Er trug eine Uniform und war dauernd weg. Militärischen Ehrgeiz hatte er nicht. Wenn er auf Heimaturlaub war, zog er sofort die Uniform aus und wollte sie mir nicht zeigen. Ich glaube, er war Unteroffizier oder so, und schämte sich ein wenig, eher friedlich veranlagt zu sein. Eines Sonntags – er war auf Heimaturlaub – bestimmte er, die badische Spezialität Spätzle zu machen. Mama hatte dazu einen Braten gemacht. Die Teigware, die ich heute noch so liebe, musste dann als Nachtisch gegessen werden, denn Papa hatte das Kochwasser aus Versehen mit Zucker „gesalzen“. Wir alle lachten darüber. Eines anderen Sonntages, es war kurz vor Weihnachten, nahmen uns die Eltern mit auf einen Weihnachtsmarkt. Es war alles sehr dunkel. Daran kann ich mich dunkel erinnern, denn damals wurde verdunkelt, wegen der feindlichen Flieger. Ich weiß nicht, was sonst noch geschah: beim Rundgang erblickte ich eine aus Sperrholz zusammengebaute Ritterburg. Liebevoll angemalt. Sofort stellte ich mir die in Blei gegossenen Reiter und Soldaten vor, die ich ein Jahr davor geschenkt bekommen hatte, wie diese die Burg eroberten. Der Traum war schnell beendet: mein Vater sagte, die Burg ist viel zu teuer und außerdem schon verkauft. Eine Chance hatte ich noch: Vater wusste nicht immer was er tat. Schließlich hatte er auch Zucker ins Spätzlewasser getan. Und an jenen Weihnachten war der Tannenbaum besonders schön und sehr hoch. Ich durfte Papa dabei helfen, wie er mit einer Leiter eine herrliche gläserne Christbaumspitze befestigte. Auch die Kerzen brachten wir zusammen an. Die Kunst bestand darin, die Kerzen so zu befestigen, dass sie nicht schief im Baum hingen und das Wachs beim Brennen auf den Boden tropfte. Das Lametta und Engelhaar legte Papa selbst sorgfältig über die Zweige des Baumes. Dann musste ich wieder ins Kinderzimmer, wo meine Schwester mit ihren Puppen spielte. Langeweile – oder war es Spannung? – machte sich breit. Endlos lange warteten wir auf das Erklingen des Glöckleins. Wir liefen los. Das Fremdenzimmer, sonst ein fast vergessener Raum, war in weiches Kerzenlicht getaucht, als wir eintraten. Die Augen wanderten aufgeregt hin und her. Das obligatorische „Stille Nacht - Heilige Nacht“ wurde etwas mechanisch und ungeduldig gesungen, denn sofort hatte ich sie bemerkt: die Ritterburg unter dem Baum. Das Glück war unbeschreiblich und ist heute so nicht mehr zu finden. Zu viel Schokolade, Plastikkram und Jingobellgedudel. 
Dabei ist alles so einfach: Das liebe Jesulein, in Bethlehem im Stall geboren, sollte innere Freude auslösen. Erst viel später, als Jesus leidend am Kreuz hängt und sein Leben hingibt, um uns Menschen zu retten, entstehen die vielen Auslegungen, die auch zu Kriegen geführt haben. Den Friedensnobelpreis hätte Jesus mit seiner Hippiemähne aber nicht erhalten. Also haben wir es mit einer international nicht einmal anerkannten Persönlichkeit zu tun. Wieso wollte Jesus uns retten? Und wer sind wir? Vielleicht liegt es auch daran, dass wir diesem Erlöser von Anfang an das Du angeboten haben. Anbiederung. Schleimspur unsererseits. Nicht einmal unsere so fragilen Körper sind vor uns sicher. Also kaufen wir ungehindert die Steinofenpizza Margherita, frische Hähnchenbrustfilets,  die frischen Eier aus der Bodenhaltung, die frische Schnitzeltasche Milano, den light Gourmet Rohschinken, die argentinische Hasenpfanne, ofenknusprig, und den Delikatess Kochhinterschinken. Es ist alles frisch, doch das liebe Jesulein sieht alt aus. Wir ziehen den Hut vor einem Bankdirektor und zahlen fürs Benzin Fantasiepreise. Sind wir noch zu retten?
Und dann das Gebäck.
Im Süden nennt man das Breedle. Köstlichkeiten aus Mutters oder Omas Hand. Das heißt, es kommt eigentlich alles aus Schuhkartons, die auf unerreichbar hohen Schränken Tage, ja Wochen, gelagert hatten. Hildabreedle, dreistufig, mindestens ein voller Karton. Zimtsterne, zwei Kartons. Vanillekipferl, Lebkuchen, Springerle, Kokoshäufchen, Spritzgebackenes, Anisplätzchen, Vanillebrezelchen, und ein paar namenlose Köstlichkeiten. Das muss reichen. Es war alles im Überfluss vorhanden, und Mama füllte eine große Schale mit dem Gebäck. Diese stand auf einem kleinen Tisch neben dem Baum. Alle Augen wurden zugedrückt, wenn wir uns an die Breedle machten. So ein Kindermagen hielt das übrigens mühelos aus. Erst am 2. Weihnachtsfeiertag zeigten sich erste Anzeichen von Überfütterung. Tapfer wurde geleugnet. Die ewig Gestrigen unter den Hausfrauen, die meist auch einen Beruf haben, lassen sich dennoch nicht davon abbringen, Anfang Dezember, spätestens, das große Brett zu richten. Eingekauft werden neben den üblichen Gewürzen wie Vanillestange, Backpulver, Mandeln, Haselnüsse, Staubzucker, Orangeade, Zitronade, Anis, usw., große Mengen an Mehl, Eiern, Butter, Milch, und mehr. Dann werden Rezeptbücher gewälzt, Teige vorbereitet, Platz am großen Küchentisch geschaffen. Es wird ausgestochen, erste Düfte streichen an willigen Nasen vorbei. Männer haben damit nichts zu tun. Sie sind höchstens nützlich als Anführer, wenn das Kind nicht mehr warten kann und Vater dazu aufstachelt, doch die Schachtel auf dem Schrank zu öffnen und nachzusehen, was da drin ist. Dabei fällt etwas ab. Mutter bemerkt es zwar, lässt diese Klauerei jedoch als Teil eines Spieles auf sich beruhen, vorausgesetzt, der Diebstahl hält sich in Grenzen. Und Vater macht sich geschickt zum Komplizen seiner ungeduldigen Kinder.  Inzwischen hat uns die Weihnachtsindustrie diesen ultimativen Kick genommen. Immer mehr gestresste und unerfahrene Frauen fallen auf den Trick herein: Weihnachtsgebäck im Supermarkt, nach Rezepten von Oma hergestellt. Gefüllte Lebkuchenherzen, doppelt gefüllte Dominosteine, Baumkuchen (ja: Baumkuchen), Edle Nougat Zapfen, Zimtsterne und schokoüberzogenes Konfekt. Kinder, lasst die Finger von dieser Scheiße! Eure Geschmacksnerven sind noch nicht verdorben. Hausfrau, geh‘ in dich! Gut, man kann ja ein wenig nachhelfen, weil man einfach die Zeit nicht mehr hat, die man für all das benötigt. Wie wäre es mit einer einzigen selbstgebackenen Sorte Breedle und einem totalen Verzicht auf diesen unglaublich frechen Angriff auf unsere Weihnachtsgefühle. Kein Wunder, dass wir ständig aufgefordert werden, den Arzt oder Apotheker zu befragen. 
Es ist windig draußen. Der Schnee will sich dieses Jahr zum Fest nicht einstellen. Er kommt im Januar. Kühl ist es. Ja, an Heiligabend den Fernseher abschalten. Die Kerzen erst anzünden, wenn es ganz dunkel ist. Das Leuchten in den Augen der Kinder sehen. Die Zeit ganz langsam verstreichen lassen. Sich auf den Festbraten freuen, und darauf, dass Tante Rita und Onkel Heinz kommen. Sicher bringen sie ein Geschenk mit. Oder, sind wir endlich so weit, den Geschenkterror abzuschaffen? Die großen Haufen Einpackmaterial. Davon könnte man so manchem Obdachlosen noch einen Euro zustecken. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat schon stattgefunden. Die Müllhalden werden immer höher. Das Symbol des Festes ist der Plastikbeutel. Das liebe Jesulein versteht die Welt nicht mehr. Halleluja!

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