Ramiro Santisteban: KZ in Mauthausen.
Du bist jetzt über 9o Jahre alt. Deine geliebte Frau Nini ist es auch. Welch eine Gnade für Euch und uns alle, dass Ihr alles überlebt habt. Paris ist schon lange Eure Heimat, wo auch Patrick, Euer einziger Sohn lebt. Auch er trägt eine spanisch-französische Seele im Leib. Bevor uns allen die Zeit davon läuft, möchte ich auf etwas zurückkommen, das nie vergessen werden darf.
Ramiro hat es überlebt. Es war die Kraft seiner 18 Jahre, der Glaube an die Liebe, an seine Familie, an die Vergänglichkeit eines Regimes, das Millionen Menschen das Leben kostete. Das Nazi-Reich in Deutschland und dem angeschlossenen Österreich, aber auch der Faschismus unter Franco in Spanien, hatten nicht nur die vielen Toten zu verantworten, auch die vielen Flüchtlinge gehen auf ihr Konto, die fern ihrer Heimat überlebten. Spanier flohen oft nach Frankreich, Deutsche gingen nach Amerika, Großbritannien, Frankreich, um der Allmacht des Terrors zu entkommen.
Als Deutscher der Kriegsgeneration hatte ich meine Lektion gelernt: der Hitlerfaschismus hatte 12 Jahre lang das Land fest im Griff. Auch Österreich gehörte damals dazu. Teils gewollt, teils ungewollt. Die Schuld lag bei einem pervertierten Deutschland, das in die verbrecherischen Hände der Nazis geraten war. Erst gegen Ende des 2. Weltkrieges kam die volle Wahrheit ans Licht: Millionen waren es, die in Konzentrationslagern ums Leben kamen, oder unter dem Terror leiden mussten und unter katastrophalen Bedingungen sozusagen als Überlebende neu wieder beginnen konnten. Dieser Teil unserer Vergangenheit ist voller Ereignisse, die allmählich dem Vergessen anheimfallen, obwohl Historiker, Lehrer und Betroffene noch dagegen ankämpfen. Die ehemaligen Konzentrationslager in Polen, Österreich, Deutschland, Frankreich und in der Tschechischen Republik sind heute Warnzeichen gegen das Vergessen.
Ich hatte großes Glück: mit 15 Jahren verliebte ich mich an meinem Gymnasium in ein Mädchen, das gerade aus der Champagne nach Deutschland gekommen war, um Deutsch zu lernen. Nicht gerade ein klassischer Fall von Schüleraustausch. Mir half es, verliebt und hochmotiviert wie ich war, in kurzer Zeit Französisch zu lernen und - nicht allzu lange, 1958, - in das befreite Frankreich zu gelangen und das Land so zu sehen wie es war. Unter dem Einfluss des damaligen Präsidenten Charles de Gaulle, wurde eine freundschaftliche Beziehung zwischen Frankreich und Westdeutschland aufgebaut. Francoise und ich verloren uns leider mit der Zeit aus den Augen. Was aber blieb, war meine Begeisterung für das Nachbarland, in dem ich dann über 30 Jahre arbeitete, allerdings in internationalen Organisationen in Paris und Straßburg.
Die Zeit in Paris in den Siebzigerjahren war bestimmt durch den Umgang mit lieben Freunden, Maman Guibert, ihrer Tochter GéGé und deren Wohnungsnachbarn, den Santistebans. Ramiro und Nini, deren Sohn Patrick ganz in der Nähe wohnte, luden uns oft zum Essen ein oder sie kamen zu GéGé. Ich war sehr oft dabei. Als Maman Guibert und GéGé starben, konnte ich noch nach Paris fliegen, zum letzten Gruß. Dann brach der Kontakt auch zu Ramiro und Nini ab. Patrick, der noch meine Adresse hatte, schickte mir eines Tages einen dreiseitigen maschinengeschriebenen Text auf Deutsch, mit der Bitte, diesen für seinen Vater ins Französische zu übersetzen. Es muss einige Wochen gedauert haben, bis ich die Übersetzung nach Paris schicken konnte.
Durch frühere Andeutungen wusste ich, dass Ramiro irgendwo in „Deutschland“ einige Jahre in einem Lager verbracht und überlebt hatte. Nie wurde darüber in meiner Anwesenheit gesprochen. Der dreiseitige Text hingegen war ein Auszug eines Berichtes, den ein spanischer KZ-Häftling auf Deutsch aufgeschrieben hatte. Der Verfasser erzählte darin den Alltag spanischer Häftlinge im österreichischen Mauthausen. Die Gefangenen - wenn ich mich richtig erinnere - wurden täglich unter Aufsicht zweier Wachhabender kilometerweit zu einem Steinbruch zur Arbeit geführt. Sie kamen dabei an Häusern vorbei, von wo aus sie beobachtet wurden. Eine junge Frau wird im Text erwähnt, die den Gefangenen manchmal etwas zusteckte, vor allem, wenn der weniger strenge der beiden Bewacher am hinteren Ende des Trupps ging. Die Frau flüsterte den Gefangenen Nachrichten der BBC auf Deutsch zu, damit sie über den Verlauf des Krieges informiert waren. KZ-Gefangene waren von allen Nachrichten von außen abgeschnitten. Sie hatten keine Ahnung, wie die Kriegsfronten verliefen. Die Frau am Fenster sagte ihnen, dass der Krieg zu Ende gehe, die gegnerischen Fronten sich schon in Preußen und im französischen Westen befanden. Wie ich später erfuhr, haben der Verfasser und die Frau am Fenster geheiratet. Der spanische Häftling, der die Geschichte auf Deutsch aufgeschrieben hat, blieb nach der Befreiung in Österreich.
Ramiro, Nini, Patrick |
Wieder vergingen viele Jahre. Meine Frau und ich lebten drei Jahre in Wien (von Anfang 2013 bis Ende 2015). Das Facebook hat die Welt schon lange enger zusammenrücken lassen. Ich entdecke dort eine Nachricht von einem Patrick Santisteban. Ich reagiere, und die Antwort kommt prompt: ja, ich bin es, und ich war mit meinen Eltern auf Einladung der österreichischen Regierung in Mauthausen und in Wien. Natürlich wusste er nicht, dass wir in Wien wohnten. Und wir wussten nicht, dass Ramiro und Nini hochbetagt noch in derselben Straße wohnten, wo auch ich vor über 40 Jahren gewohnt hatte. In der Rue Marius Aufan in Levallois, dem Pariser Norden. Vor kurzem waren Cath und ich in Paris. Cath war beruflich dort, doch unser wichtigstes Ziel war die Rue Marius Aufan. Dort trafen wir Ramiro, Nini, Patrick und seine Frau. Es flossen Tränen der Freude, nach so vielen Jahren.
Als wir Abschied nahmen, überreichte mir Ramiro ein Buch: „Amanece en París“. Hier beschreibt Paloma Sánz, eine spanische Journalistin und Autorin, die 5 Jahre, die der junge Ramiro im Vernichtungslager Mauthausen verbrachte. Schreckliche Erlebnisse, die heute kaum jemand für möglich halten möchte. Wie Ramiro die Quälereien und Demütigungen dieser fünf Jahre als heiler Mensch überstanden hat, geht aus der Schilderung seines Lebens hervor. Was ihn zu einem glücklichen und zufriedenen Mann und Vater gemacht hat, ist seine einzige große Liebe, Nini, die auch heute noch seine Gedanken an seinen Augen abliest. „Amanece en París" ist eine Lebensgeschichte, die zeigt, wie stark der Mensch sein kann, wenn er sich dem Bösen widersetzt. Ramiro steht im Mittelpunkt dieser schrecklichen Schilderung.
Ediciones Planeta Madrid S.A. 2010. www.temasdehoy.es Der Autor dieser Zeilen wünschte sich neben der guten aber etwas schwierigen spanischen Fassung auch eine deutsche, englische, französische. Sein Spanisch ist kläglich, sodass er noch einige Zeit benötigen wird, das Buch zu lesen und zu verstehen. Vergessen kann er es nicht.
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