Mittwoch, 2. März 2016

Hallo, Mama

Weißt du noch, wie ich als Säugling auf einem Hocker in der Küche stand und die gefüllte Milchflasche auf den Boden warf, wo sie zu meinem Vergnügen zerschellte? Ich konnte gerade stehen, muss unter einem Jahr gewesen sein, höchstens anderthalb Jahre, und ich erinnere mich genau, dass mich Neugier gepackt hatte, zu sehen was passiert, wenn ich die Flasche wegwerfe. Du kamst herbeigeeilt, sahst die Katastrophe und lächeltest mich freundlich an. Das ist meine älteste Erinnerung an dich - und an mich.


Dein Kleiner 

Später konntest du an meinem zufriedenen Gesicht ablesen, wie sehr mir das Essen schmeckte, das du köstlich zubereitet hast. Es machte dir Spaß, mir beim Genießen zuzuschauen. Ich war immer dein bester Kunde, denn das Essen schmeckte mir fast immer. Bei frischem Spinat aus dem Garten musste ich allerdings passen. Auch heute noch treibt mir Spinat als Gemüse Schauer der Abneigung über den Rücken.

Einmal hast du mich vor dem Tod gerettet, oder vor dem was ich dafür hielt. Ich war 9 und hatte beschlossen, mich gegen die französische Besatzung zu wehren. Der Krieg war gerade zu Ende gegangen. Französische Truppen hatten unser Haus besetzt, es sich im Erdgeschoss gemütlich gemacht, eine Fahne aufgezogen und ein Schilderhaus vor den Eingang gestellt. Abwechselnd stand da ein Wachhabender mit einem Gewehr. Ich schlief im ersten Stock: Genau um sieben Uhr morgens wurde die Wache abgelöst. Dabei schossen zwei Soldaten auf Befehl an der Trikolore vorbei, riefen etwas auf Französisch, während ich mir die Ohren zuhielt, denn die Schüsse gingen dicht an meinem Zimmer und an der Fahne vorbei. Ich beschloss, Widerstand zu leisten, schlich mich am hellen Tag mit der ledernen Einkaufstasche von Mama an den arglosen Wachposten heran, holte plötzlich die mit Wasser gefüllte Luftpumpe heraus und spritzte ihm das Wasser ins Gesicht. Empört warf er das Gewehr zur Seite und rannte mir nach. Da ich die Tasche nicht dem Feind überlassen wollte, wurde ich von dem wütenden und nassen Kämpfer eingeholt und bei uns im Hause in das Zimmer geführt, wo sich etwa 20 Soldaten aufhielten. Ein dunkelhäutiger Afrikaner band mich an einen Stuhl. Dann umringten mich die Krieger mit gezogenem Bajonett und schauten mich bedrohlich an. Für mich war der Moment höchster Lebensgefahr gekommen. Das amüsierte Lächeln einiger Soldaten sah ich nicht. In meiner Not schrie ich wie noch nie in meinem Leben. Meine Mama, die etwas Französisch konnte, hörte mich schreien, kam die Treppe herunter, riss die Tür auf, sah in welchem Zustand ich mich befand und wurde zur Tigerin. Unter empörten Schreien band sie mich los und zog mich hinter sich her. Sie hatte mich gerettet. Erst 2 Tage danach war ich in der Lage, Muttern   mein gefährliches Tun ungeflunkert darzulegen.



Als ich viele Jahre später einen Job in Paris antrat, sagte Mama traurig: Jetzt werden wir dich überhaupt nur noch selten zu sehen bekommen. Nein, sagte ich, und schaffte es, trotz Familie und Kindern wenigstens 2mal im Monat meine Eltern zu sehen. Die Zeiten, wo ich mit Papa und den im Wald gepflückten Maiglöckchen schon frühmorgens am Bett meiner Mutter stand, um zum Muttertag zu gratulieren, waren längst verflossen. Die Eltern hatten ein paar schöne Jahre, dann kam die Nachricht: Mama hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. An ihrem Bett sagte Mama zu mir, sie fürchte sich vor dem Altersheim. Entsetzt rief ich ihr zu, dass dies nie geschehen würde. Ich hätte es auch nie zugelassen.



Dann arbeitete ich in Straßburg. Ich musste eine internationale Sitzung leiten, als sich gegen Mittag die Tür  öffnete und eine Kollegin darauf wartete, dass die Sitzung beendet wurde. Eine schreckliche Ahnung packte mich als ich ihr Gesicht sah. "Deine Mutter ist gestorben", sagte sie mir. Diesen  Schmerz habe ich nach vielen Jahren noch nicht überwunden. Ich konnte nicht bei ihr sein, als sie sich aus der Welt verabschiedete.



Wir haben uns immer gut verstanden. Mama war eine bedingungslose Mutter. Als ihr Sohn kann ich behaupten, dass es nie ein Zerwürfnis zwischen uns gegeben hat. Dass wir nicht voneinander Abschied nehmen konnten, haben wir beide nicht verdient. Deshalb blieben auch viele Dinge ungesagt. Bevor es zu spät ist, sollte man es sagen: Mama, du warst das beste was mir passiert ist. Heute bin ich so alt wie du damals warst, als du starbst. Mama, ich liebe dich heute noch so wie damals als Kind. Verlasse mich nicht. Bald ist wieder Muttertag. Dann werde ich einen Strauß Maiglöckchen kaufen. Die gibt es auch hier, in England.







Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen