Sonntag, 27. Januar 2013

Herr Neumann hat sich erschossen

Immer wieder jährt sich etwas. Und es gibt noch Überlebende, die berichten können. Doch die große Mehrheit schweigt gerne, weil sie nichts weiß, nichts wissen will, alles längst verdrängt hat. Erinnerung als ewiger Klotz am Bein? Nur wer sich erinnern mag, versteht auch.


Ich liebte meine Großeltern und durfte sie gelegentlich besuchen als ich ein kleiner Junge war. Ich verehrte meinen Opa, der mich täglich zu langen Spaziergängen mitnahm. Er und ich, wir waren ein Paar. Irgendwie stolz aufeinander. Oma rief einmal erzürnt aus: "Dieser Hitler ist ein Teufel". Ich war fünf und hörte es. Hatte sofort verstanden: was andere "Unseren Führer" nannten, wurde von Oma als Teufel bezeichnet. Als Kind wusste ich schon, dass ich mit niemandem darüber reden durfte, um meine Oma nicht in Gefahr zu bringen. Es war Krieg, und man fürchtete sich vor Fliegerangriffen und Uniformträgern.

An einem dunklen Winterabend nahm mich Opa mit zu Herrn Neumann. Ein alter Freund, den ich noch nie gesehen hatte. Wir gingen die steile Treppe im Nachbarhaus hinauf. Opa setzte sich zu Herrn Neumann an den Tisch. Die beiden alten Herren redeten. Ich spielte unter dem Tisch mit einem kleinen Auto und langweilte mich. Dann ging es wieder nach Hause. Am Abend des folgenden Tages kam Opa bleich und bestürzt in das verdunkelte Wohnzimmer gerannt und sagte: "Herr Neumann hat sich eine Kugel durch den Kopf geschossen. Ich stellte wohl keine Fragen, wusste aber, dass es etwas Schlimmes war.

Der Krieg nahm seinen Verlauf. Pforzheim, wo meine Großeltern wohnten, wurde durch einen Bombenangriff fast total zerstört. Auch das Haus meiner Großeltern. Sie wohnten dann jahrelang provisorisch in einer möblierten Wohnung und teilten sich die wenigen Quadratmeter mit meiner Tante, die auch alles verloren hatte. Die Nachkriegszeit war in Deutschland für alle schwierig. Opa, Oma und Tante blieben zusammen. Opa starb mit 98 Jahren. Ich war inzwischen ein junger Mann.

Auf diesen Opa kann man stolz sein!

Auch mein Tantchen wurde 93 Jahre. Ich besuchte sie regelmäßig. Sie kam auch gerne zu uns. Die Zeiten waren wieder besser. Kurz vor ihrem Tod hatten wir eine jener Unterhaltungen, die man nie mehr vergisst. "Kannst du dich an einen Herrn Neumann erinnern, der sich erschossen hat"? fragte ich sie nach all den Jahren. "Natürlich" sagte sie, "Herr Neumann hatte zwei Töchter, die nach Amerika verzogen. Als man auf ihn aufmerksam wurde, hat er sich getötet. Herr Neumann war Jude".

Wir müssen uns nicht ständig quälen, indem wir an die Scheußlichkeiten der Vergangenheit erinnern. Wer aber verdrängt, hat nichts verstanden. Zukunft gibt es nur, wenn es auch eine Vergangenheit gibt, die bewältigt wird. Irgendwie.













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