Mittwoch, 4. Januar 2012

Der letzte Schrei der Möwe



Wie Pfeile schießen sie (sich) in den Himmel, getragen von Winden, geschleudert im Sturm, weiß gegen grau, ein ewiges Spektakel für den, der sich an der See aufhält. Ihre Schreie klingen unbeherrscht, ihr Flügelschlag ein elegantes Trommelfeuer, der Ruheplatz, dann und wann, auf dem Laternenpfahl, damit man etwas Essbares besser erspähen kann. Doch auch im Fluge findet der Möwenschnabel was ihm zugeworfen wird. Die Weihnachtstage waren von diesem Schrei der Möwe bestimmt, von Wind und Wetter, manchmal auch Unwetter, und von chaotischem Einfahren in Städte, zum Beispiel Reims und York, während uns diesmal die Autobahnen, so lustlos sie auch sein mögen, gütig gesonnen waren. Kein Stau, keine Schneestürme, keine Milchsuppe. Dafür grelle, tiefliegende Wintersonne, und, ach, teilweise, vorweihnachtlich leere Autobahnen. Was für ein Segen. Die Reise sollte nach Yorkshire führen, wo Cathies Eltern und Brüder angesiedelt sind.




Doch zuerst statt Möwen: Tauben, herumsitzend um die Kathedrale von Reims wo auch der kaltsonnige Weihnachtsmarkt spielte und wir uns ein Glas Champagner leisteten. Die Anreise an einem Freitag Nachmittag, bei Einbruch der Dunkelheit: eine Katastrophe, die über eine Stunde dauerte. Kriegt endlich euren Verkehr geregelt, möchte man den verbürokratisierten Stadtbeamten zurufen, wenn man das tägliche Chaos zu Stoßzeiten miterlebt. Das gilt auch für das schöne York, dem das Mittelalter aus allen Nähten platzt. Als wir dann das vielgelobte Hotel in Reims gefunden hatten, waren wir zu erschöpft, um gleich an die zweisternige Tafel sitzen zu können, die das Hotel bereithält. Zuerst wurde fastgefoodet, in einem quirligen Amerikano-Imbiss ohne Charme, denn wir weilten 2 Nächte im schönen Reims und hatten etwas Zeit. Der von Cath reservierte Tisch wartete am nächsten Tag auf uns. Ich sollte nicht auf die verrucht gaumentirilierenden Einzelheiten unseres Speiseabenteuers eingehen. Nur so viel: der den Käse afiniert hat, war ein "fromager" (Käsermeister) aus Boulogne Sur Mer, Philippe Olivier. Der Käse - ich sage jetzt nicht: ein Gedicht, das gehört sich einfach nicht, - eine göttliche Eingebung, die den Gaumen als roten Teppich missbraucht hat. Einfach orgasmisch.




Während ein paar atlantische Wölkchen den Himmel verunsicherten, ging die morgendliche Reise stressfrei weiter in Richtung Seebrügge, wo das Auto nach etlichem Warten in den Bauch der "Pride of Bruges" eingefahren wurde. Gang einlegen, aussteigen, sich den Schlüssel für die Kabine geben lassen, und mit dem geringen Gepäck die Nummer 2053 aufsuchen. Das Ritual ist uns vertraut. Kurzes Zurechtmachen der Frisur, Gang in die Pianobar zum Einholen eines doppelten Gin'n'Tonic mit Eis. Danach das selbstbedienende Restaurant, das immer eine Flasche Rioja für uns parat hat. Bei großer Müdigkeit fällt dann die Enge der Kabine nicht mehr auf. Die Lautsprecher jagen frühmorgens in 4 Sprachen die 800 Passagiere zum Frühstück. Die Einfahrt in den Fjord von Hull, das eigentlich Kingston heißt, hat begonnen. Die Ausfahrt der LKWs, Busse und PKWs nimmt etwas Zeit in Anspruch. Dann geht die Reise rasant in Richtung Leeds, bis wir in Haworth, dem Städtchen der Bronte-Schwestern, bei Cathies Eltern angekommen sind. Hallihallo, Tasse Tee? Aber ja doch. Der neue Wintergarten wird bewundert. Er war schon Gegenstand längerer Telefonate gewesen, bevor er fertiggestellt war.

Weihnachten ist noch ein paar Tage hin. Drei Nächte verbringen wir im Häuschen einer befreundeten Witwe, ganz in der Nähe. English cosyness und beim Blick aus dem Fenster: Pferde und Hasen am Grasen, dahinter die baumlosen Hügel der Yorkshire Heidelandschaft. Frugal und friedlich. Nach ausgiebigem Erholungsschlaf nehmen wir den Zug nach Leeds, einer pulsierenden Großstadt mit Einkaufsstraßen, die weihnachtlich-prächtig geschmückt sind. Vieles wäre zu sagen, doch wir ziehen weiter, nach Huddersfield, auch keine Kleinstadt, wo Cathies Bruder Richard mit Sue und Sohn Johnny auf uns warten. Die Eltern werden zum Fest beim anderen Bruder in Stokesley erwartet. Also kein Abschied. Eine ausgedehnte Wanderung entlang eines großen Stausees bringt uns nach intensivem Dinieren wieder in Schuss. Und schon sind wir mit Sue und Johnny auf dem Weg zu Bruder Rob, während Richard die Eltern abholt und auch noch ein Cousin ankommt. Zwei weitere Söhne sind schon da. Der Laden ist komplett, die Weihnachtstafel ist für zwölf Personen feierlich gedeckt. Aufregungen gibt es keine. Nur reichlich zu essen und zu trinken. Gesungen wird nicht. Das bleibt der deutschen Weihnacht vorbehalten. Doch stimmungsvolle Hintergrundmusik.

Wir fahren mit Rob, Kate und Calum ans Meer. Ostküste Nordenglands. Ein mir völlig unbekannter Ort, der Saltburn heißt. Ein wenig mondän, ein wenig bergig, das Meer aufgepeitscht. Der Sand fegt über den Strand. Die Möwen feiern ihren Hexensabbat. Auf und ab, ohne Besen, aber mit wildem Geschrei. Fish and Chips, immer wieder gut. Nirgends findet man frischeren Heilbutt. Einsam erfriert sich ein Surfer beim Wellenreiten. Wahnsinn! Die Zuschauer tragen windfeste Mützen, Kappen und Anoraks. Hunde dürfen am Strand herumtollen. Manche jagen den Tennisbällen nach, die ihre Herrchen davongeschleudert haben. Tourismus heißt: Engländer aus England. Nur ein deutsches Auto habe ich gesichtet. Irgendwo gab es einen Holländer. Saltburn hat seine Reize. Und wir aus dem Schwarzwald, wir konnten unsere Gastgeber mit Weinen aus Baden und aus dem Elsaß beglücken. Eine Pipeline sollte man nach Yorkshire einrichten, denn trinkfest sind sie dort. Trotz der Wirtschaftskrise wäre der Umsatz gesichert. Badische Weine werden vorbehaltlos geschätzt und sind dort so gut wie unbekannt. Noch eine Nacht in Stokesley, dann geht es nach York, wo ein schönes altes Hotel, das Judges Lodgings,  unweit der Kathedrale, auf uns wartet. Es verfügt über nur 14 Zimmer, eines davon gehört uns, für 2 Nächte. Luxus pur.




Das Münster von York ist unglaublich schön. Die Stadt, von den Römern im Jahr 71 nach Christus unter dem Namen "Eboracum" gegründet, pulsiert wie eine Millionenstadt. Tausende Fußgänger bevölkerten die engen Straßen. Originelle Läden und Boutiken, Kneipen jeder Art machen das Bummeln zum Vergnügen. Museen, wo man hinblickt. Yorkshire Museum, York Art Gallery, York Castle Museum, National Railway Museum und so weiter. Was wir nicht besichtigt haben: Das Eisenbahnmuseum: kennen wir schon. Clifford's Tower, ein imposantes Festungswerk auf einem Hügel: Dort wurden im Mittelalter Juden massakriert. Der Weg hinauf schien uns zu mühsam. Ghost Walks, die beliebten, grauenerregenden Gespenstermärsche: bei Einbruch der Dunkelheit waren wir zu müde und hungrig. Dennoch: bei weit offenen Augen bleibt viel hängen.

                                                        Clifford's Tower


Die Absurditäten dieser Welt erfährt man im Radio. Wer in England um 3 Uhr nachts erwacht und sich mit Radio zerstreuen will, geht auf Radio Four. Die BBC sorgt dafür, dass ständig Informationen, oft seltsamer Art über den Äther gehen: Über 5000 Iren, die sich im Zweiten Weltkrieg freiwillig der britischen Armee angeschlossen hatten, gelten noch heute als Deserteure, soweit sie noch leben. Irland war damals neutral und setzte diese Freiwilligen auf eine schwarze Liste. Damit erhielten sie keine Arbeit und natürlich nie eine Rehabilitation. Solche Geschichten werden täglich aufgegriffen. Einmal ist es das Essen in den Krankenhäusern, das unter aller Kanone ist, ein andermal empört man sich über die Drogensucht oder die Dickleibigkeit der Bürger. Und immer wieder: die reichlich ausgezahlten Bonusse von Bankmanagern und Führungskräften. Bei zunehmender Verarmung des einfachen Mannes geradezu ein Reizthema. Dann wird wieder ganz viel gelacht. Das tut allen gut und bietet Trost. Das Vereinigte Königreich erlebt man so als ein ganz normales Land.

Der Wind wird auf dem Weg zur Fähre nach Hull in einen kräftigen Sturm umgewandelt. Regen peitscht auf uns nieder, als wir die ersehnte Fähre nach Seebrügge erreichen. Zum Glück gibt es bald wieder einen Gin'n'Tonic an der Bar. Der Pianist lässt nicht viel Talent erkennen, tut aber seine Arbeit, wie erwartet. Die See ist furchtbar aufgewühlt. Ich fürchte, vergessen zu haben, den Gang einzulegen. Das Auto wäre dann womöglich der Spielball der Gewalten. In der Kabine schaue ich ängstlich aus dem Fenster: grauweiße Gischt züngelt gegen das massive Schiff. Doch der Himmel ist von Sternen überzogen. Es wird also alles wieder gut gehen. Der Gang war eingelegt. Der Regen vorbei, als wir am frühen Morgen an Brüssel und Luxemburg vorbeizogen. Grelle Sonne begleitete uns auf dem Weg nach Straßburg und in den Schwarzwald. Die schrillen Schreie der Möwen vom Ärmelkanal klingen noch im Ohr. Jetzt wird erstmal geschlafen.




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