Dienstag, 8. November 2011

Ich bin Jude - vielleicht, auch, ein wenig!

                                                               Jude


Es ist nicht gut, wenn junge Männer zu früh beginnen, sich zu verlieben. Das führt zu nichts. Ich war 10. Als sie in meine Klasse kam, war auch sie 10. "Ich heiße Karin von Mendelsohn", sagte sie dem Klassenlehrer, und schon war ich verliebt. Ihren Namen, das heißt den letzten Teil, habe ich aus Achtung und, weil ich sie immer noch liebe(?), abgeändert, denn ich hoffe, dass sie noch glücklich irgendwo lebt. Sie muss Jüdin sein, bei einem solchen Namen. Ich saß ihr gegenüber, sie hatte einen dunklen Bubikopf und sprach hochdeutsch. Erst viele Jahre später, als ein älterer Herr des gleichen Namens im öffentlichen Leben eine gewisse Rolle spielte, schien mir ein Licht aufzugehen. Karin war in meiner Klasse, sie würdigte mich jedoch nie eines Blickes. Schüchternheit auf beiden Seiten. Da war mein Dorle, eine blondzöpfige Apothekerstochter, der beste Trost. Sie kullerte mich mit ihren großen Augen an und hatte gelegentlich ein freundliches Lächeln für mich. Weder mit Karin noch mit Dorle ist es je zu etwas gekommen. Meine Eltern entführten mich einfach in eine andere Stadt, wo ich eine andere Schule besuchte. Dort konnte ich mich dann wieder in andere, aufregende Schönheiten allzu früh verlieben.

Adolf Eichmann wurde aus Südamerika nach Israel entführt. Das war nicht legal. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer wurde dort zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das war mehr als legal. Oder hätte dieses Monster (wie so viele) auch der irdischen Gerechtigkeit entgehen sollen? Seine Hinrichtung kam wie eine Erleichterung, änderte jedoch an der allgemeinen Befindlichkeit der Deutschen nichts. Heute sind wir dem Spiegel Nummer 45, 2011, dankbar, dass er endlich ein Eisen anpackt, das wohl gar nicht mehr so heiß ist: "Er darf es, er ist Jude", beginnt auf Seite 124 der Artikel unter dem diskreten Hinweis "Zeitgeist". Junge Juden in Deutschland, oder junge Deutsche mit jüdischem (Migrations)Hintergrund? Oder, einfach, junge, deutsche Juden? Das Tolle am Spiegelartikel ist, dass er die Entkrampfungsversuche der jungen Generation fortsetzt. Betroffenheitsgermanen und Berufsjuden werden zum Schweigen verurteilt. Die haben schon zu lange Blödsinn geredet. Wie können wir also die fatale Vergangenheit nicht vergessen und gleichzeitig aufhören, uns für alles Geschehene persönlich verantwortlich zu fühlen?

Viele Deutsche sind Türken, viele Juden sind Russen, viele Menschen wollen einfach nur Mensch sein. Seit der Bankenkrise wissen wir, dass es keine moralischen Instanzen gibt. Gerechtigkeit in die Hände der Justiz? Dass ich nicht lache. Geschichtsbewältigung in die Hände von Historikern? Es darf gelacht werden. Marcel Reich-Ranicki habe ich geliebt, nicht zuletzt, weil er ein manchmal ekliges, meist aber so herrlich rechthaberisches jüdisches Denkmal war, als er noch im Literarischen Quartett saß. Jetzt gibt es junge Juden, die in ihrem Deutschland andere Töne anschlagen und hoffentlich ein anderes Echo erhalten. Axel Springer und sein Philosemitismus war mir immer ein Dorn im Auge, hauptsächlich, weil er ein grässliches Blatt geschaffen hat, das ausgerechnet auf dem jüdischen Auge blind war. Neu für mich ist der Komiker Oliver Polak, über den ich zuerst im Spiegel gelesen habe. Man habe ihm ein Leben lang dumme Fragen gestellt und er eben dumme Antworten gegeben. Dazu ein seitengroßes Foto von ihm: Leopardenslip, rote Badeschuhe, weißes Judenkepi auf lockigem Kopf, dunkler Bart. Man weiß nicht, ob man lachen soll. Aber zum Weinen ist es auch nicht. Aus den ererbten Unterlagen meiner Eltern geht hervor, dass die Familie seit 200 Jahren arisch ist. Was geschah davor? Bin ich Jude? Karin, wie schön, wenn ich mich mit dir nach all den Jahren auch darüber unterhalten könnte.

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