Mittwoch, 30. November 2011

Jopi Heesters - ich bin perplex!



Du hast es schon lange geschafft: Über 100 werden ist schon etwas. Was mich stört, sind diese Unsäglichen, die es nicht lassen können: Warum machst du dich nicht vom Acker? Musst du auch mit 108 noch auf der Bühne stehen? Natürlich bist du kein vollwertiger Star mehr. Die kleinen Hüpfer mit ihren nackten Hintern haben es da leichter. Ein wenig gepupst, und schon zählen sie zu den Promis. Johannes, du hast wahrlich viele Menschen ergötzt. Mit Stöckchen und Zylinder die Treppe herunter schlendern, mit Eleganz: davon haben viele geträumt. "Man müsste Klavier spielen können, wer Klavier spielt hat Glück bei den Frau'n". Keiner hat diesen Herrentyp besser verkörpert. Dass du auch zu deinem nächsten Geburtstag auf die Bühne möchtest, wer kann es dir verdenken? Neben der leichten Verlegenheit ob deines körperlichen Rückgangs - wer könnte das übersehen? - bleibt eine Ikone des deutschen Films, an der ja noch sooooo viele andere Ikone, Stars und Sternchen dranhängen: wahllos herausgegriffen: Hans Albers, Heinz Rühmann, ach, ich lasse es lieber. Wir wollen keine Liste erstellen.

Dass du Nazi warst, stimmt so nicht. Zwar hat der oberste Propagandafuzzi Goebbels dich in die Liste der Gottbegnadeten aufgenommen, mit dem Hinweis (jedoch) "Ausländer", aber in deinem Herkunftsland hatte man damit natürlich auch Schwierigkeiten: Ein Holländer als Lieblingsschauspieler der Deutschen, die andererseits die Niederlande besetzt hatten. Da muss man schon mit den Zähnen knirschen. Du hast das Regime ohne große Kommentare hingenommen. Als Künstler wohl vertretbar. Und neben Leni Riefenstahl umso akzeptabler. Aber Mitglied in der NSDAP warst du nicht. Du warst halt, was man einen Liebling des Volkes nennen könnte. Und das bist du immer noch, auch wenn man dreimal schlucken muss, wenn man deine Sekundenauftritte im Fernsehen verfolgt, schon seit langem liebevoll gestützt von deiner Simone Rethel, die ich als junges Mädel unglaublich süß fand. Schließlich schauspielerte sie auch ganz erfolgreich.




Ich möchte das Kapitel Jopi Heesters als ein einmaliges Kuriosum fortgesetzt sehen. Nein, Jopi, ich warte nicht darauf, dass du bald das Zeitliche segnest. Warum solltest du nicht weitermachen wie bisher? Das Rauchen hast du aufgegeben, und mit den Frauen machst du auch nicht rum, wie so viele deines Schlages, und auf der Bühne kracht es auch nicht mehr, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass es noch etliche, meist betagte Frauen gibt, für die du ein unerreichbarer Gott warst und auch bleiben wirst. Aber, vielleicht übertreibe ich da ein wenig. Nach allem, was geschehen ist, dürfen wir auch ein wenig auf dich stolz sein. Man gönnt sich ja sonst nichts. Herzliche Wünsche für einen geruhsamen Geburtstag.

Sonntag, 27. November 2011

Der Erste Advent - ist noch nicht schlimm




Die Hoffnung auf Umsätze hält noch das Gleichgewicht mit den geplanten Kaufwünschen, die das große Fest begleiten. Manche sind noch sehr weit entfernt vom Lichterglanz. Andere werden es immer bleiben. Die heimelige Atmosphäre, künstlich angefacht, überwiegt zwar noch, aber wann kommt die große Leere, aus der wir dann wieder nicht unsere Lehre ziehen? Libyen, Weißrussland, Griechenland, Italien? Alles Opfer des fehlgeschlagenen Versuchs, Glück mit Geld herbei zu betonieren. Es klappt einfach nicht. Die notwendigen Kompetenzen sind nicht da, wo sie gebraucht werden. Wir müssen uns auf etwas gefasst machen.

Die Karre, inzwischen, fährt sich selbst immer tiefer in den Dreck. Weihnachtsgefühle? Wie sollen die aufkommen? Bald ist der Zweite Advent, und so weiter. Kaufrausch hin oder her, es klappt nicht mehr. Was macht noch glücklich? Glänzende Kinderaugen? Maschinengesteuertes Schnellgebäck? Wir rennen doch wieder ins Leere. Hauptsache, wir rennen. Kleine Magenverstimmungen. Gut, das hält man aus. Doch die ständige Berieselung mit konsumgeilen Zumutungen (kauft noch dies und kauft noch das) geht zu weit. Man wartet auf etwas, das nicht mehr eintritt: der Zauber des Weihnachtsfestes ist dahin. Wir haben es geschehen lassen und sitzen deshalb, leicht überfüttert, unter dem Baum, der nicht mehr das ist, was er einmal war. Wir können uns auf etwas gefasst machen

Samstag, 26. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 7


Onkel Turgut hatte eine viel größere Distanz zu seiner zyprischen Heimat als Ahmet, da er  mit vierzehn Jahren die Landung der türkischen Truppen an der Nordküste der Insel bewusst miterlebte, dann aber zur Ausbildung nach London kam und seitdem nur gelegentliche Besuche bei seinen Eltern und Verwandten machte.
Ahmet  hatte bis zu seiner Ankunft in Großbritannien nur auf der geteilten Insel gelebt und diesen Zustand täglich  unter allen Aspekten vor Augen gehabt. Er wusste, dass eine solche Verbindung zwischen Griechischzyprern und Türkischzyprern nur in einem Drittland Bestand haben konnte. Auf die zyprische Heimat musste man dabei ganz verzichten. Dazu wäre Ahmet um seiner geliebten Tina willen bereit. Doch zuerst musste er wieder mit ihr sprechen können.  Ein Brief von Leila kam an. Ahmet hatte keine Lust, ihn zu öffnen. Wäre er von Tina gewesen, er hätte ihn mit fiebrigen Händen aufgerissen. Schließlich ging er doch daran, ihn zu lesen:
„Liebster Ahmet, 
Danke für Deinen Brief, der mich nicht überrascht hat. Du bist ja alt genug, um eine Freundin zu haben. Es sollte aber keine aus Südzypern sein, da Dir alle das Leben schwer machen  werden. Auf mich kannst Du Dich selbstverständlich verlassen. Wenn Du Tina liebst, dann muss sie ein ordentlicher Mensch sein. Ich glaube, ich könnte sie auch lieben. Übrigens hast Du total vergessen, mir ein Foto von ihr zu schicken! Tu das bei nächster Gelegenheit, damit ich sie mir besser vorstellen kann. Vielleicht darf ich nächstes Jahr nach London kommen. Ich habe Papa gefragt, und er sagte „ja“. Grüße Tante Jane und Onkel Turgut herzlich von mir.
In Liebe, Deine kleine Schwester Leila.“
Dass Ahmet keine Fotos von Tina besaß, war nicht ungewöhnlich. Sie hatten keine Zeit, an so etwas zu denken. Da fiel ihm jedoch ein, dass an dem Abend, als er Tina zum erstenmal sah, einige Aufnahmen gemacht wurden. Er hatte dies nicht beachtet. Jetzt wollte er herausfinden, ob und wie er ein Foto erhalten könne. Nikos, oder Kostas mussten das wissen. Bei Kostas` Eltern hatte sich noch niemand gemeldet, und Nikos wusste auch nicht so richtig, wie er die Sache anpacken konnte. Also hatte Ahmet auch diesbezüglich kein Glück.
Nun war wirklich viel Zeit vergangen, ohne, dass Ahmet irgend etwas hätte herausbekommen können. Seine Verzweiflung ließ ihn alles vernachlässigen, was er sonst mit regelmäßiger Akribie erledigte. Er zog sich auch  immer mehr von seinen Freunden zurück, und Onkel Turgut sah sich veranlasst, seinen Bruder in Kyrenia anzurufen und über den Zustand Ahmets zu berichten. Er machte jedoch keine genauen Angaben zum eigentlichen Anlass von Ahmets Verbitterung. Die Eltern dachten sich, dass ein Mädchen im Spiel sein musste, hielten diese Angelegenheit allerdings für die Sache ihres Sohnes. Ablenkung und neue Bekanntschaften würden das Ganze vergessen lassen. Schließlich gab es noch andere hübsche Mädchen. Es war viel wichtiger, dass er sein Studium gut zu Ende brachte.
Ein Foto von Tina wurde nicht gefunden. Die Wohnung der Familie Petropoulos schien nicht mehr zu existieren. Ahmet hatte noch einige Male davor gestanden, auch geläutet, aber ohne jeden Erfolg. Von Tag zu Tag wurde das Bild von Kristina in Ahmets Erinnerung blasser und undeutlicher. Das College hatte gerade seinen Betrieb wieder aufgenommen, und Onkel Turgut hielt einen Brief in der Hand, als Ahmet von einem Arbeitskreis über modernes Management nach Hause kam. Er riss ihm den Brief geradezu aus der Hand, denn seine Intuition sagte ihm, dass er von Tina war. Ahmet fiel ein kleines Foto entgegen, das er sofort wie eine Ikone an sich drückte. Dann las er den Brief, der nur sehr kurz und in großer Eile geschrieben war. 
„Mein Allerliebster, ich werde Dich nicht mehr sehen. Meine Eltern bewachen mich ständig. Ich kann nicht telefonieren, ich kann das Haus nicht verlassen. Seit gestern bin ich aus Oxford zurück, wohin man mich zu einer Tante gebracht hat. Diesen Brief wird eine Freundin, die mich gerade besucht, irgendwie zu Dir bringen. Morgen fliege ich mit meiner Mutter nach Athen, und bald muss ich wieder in Limassol zur Schule gehen. Ich liebe Dich,
                                                                                Kristina“
                                                                                                                                        
Ahmet war glücklich über dieses Lebenszeichen, das weder seine Adresse, noch einen Absender enthielt. Wie sollte er antworten? Er starrte auf das Foto und weinte. Onkel Turgut und Tante Jane sagten nicht viel. Auch sie konnten sich zunächst nicht erklären, wie dieser Brief  in ihre Hände gekommen war. Er war unter der Wohnungstür hindurch geschoben worden. Am nächsten Tag fand Ahmet Zeit, Leila für ihren Brief zu danken. Das Foto wollte er nicht aus den Händen geben, aber er versprach, es Leila bald zu zeigen. Dann berichtete er vom traurigen Ende seiner wundervollen Beziehung. Ahmets Brief an Leila war sehr kurz. Er hatte mit allem Schluß gemacht. Schwarze Gedanken überfielen ihn wie eine endlose Nacht.

Ahmet und Kristina, Teil 6




Als er Nikos traf, erzählte er alles und hoffte, er würde ein paar gute Ratschläge erhalten. Einige Tage waren schon vergangen, als dieser auf Ahmets Bitte hin, versuchte, bei Kostas anzurufen. Niemand antwortete. Sie hatten wohl alle London verlassen. Nikos tat diese ganze Angelegenheit sehr leid. Er konnte aber auch die Eltern Kristinas verstehen. Es gab einfach keine Möglichkeit, zusammenzukommen, wenn man Zypriot der einen und der anderen Seite war. Schließlich waren beide Seiten der Insel durch die Grüne Linie fast hermetisch getrennt von einander. UN-Truppen schützten diese Grenze seit vielen Jahren schon, damit es zu keinen Zwischenfällen kam, was dennoch nicht ganz verhindert wurde. Muslimische Türken und orthodoxe Griechen hatten sich so weit auseinandergelebt, dass jeder sich nur noch an die Grausamkeiten des anderen erinnern konnte. Nikos musste sich allerdings eingestehen, dass es die griechisch-zyprische Seite war, die ihre Überlegenheit missbraucht hatte, um die türkischen Zyprioten allmählich von der Insel zu verdrängen. Zwei Drittel der Inselbevölkerung gegen das andere Drittel. Nikos wusste natürlich auch, dass die militärische Intervention der Türkei, 1974, ein vorläufiger Schlusspunkt war, der den Schutz der türkisch-zypriotischen Minderheit bewirkte, was auf griechischer Seite wie eine gegen sie gerichtete Barbarei empfunden wurde. Seitdem war Zypern geteilt, ein Streitpunkt, der gewöhnlich jeden Ansatz einer Begegnung der beiden Lager im Keim erstickte. Wie konnten sich Kristina und Ahmet auf so etwas einlassen? Wie war es überhaupt möglich, dass beide sich so vorbehaltlos lieben konnten?
Zwei Wochen waren längst vergangen. Onkel Turgut und Tante Jane waren still und zufrieden aus Schottland zurückgekehrt, und Ahmet hatte ihnen das Nötigste erzählt, denn er konnte seinen Zustand ohnehin nicht vor ihnen verbergen. Tante Jane konnte sich als Engländerin, die mit einem Türkzyprer verheiratet war, sehr gut in Kristinas Lage versetzen. Auch ihre Eltern, die Turgut heute herzlich lieben, hatten anfangs große Bedenken geäußert. Wie viele Ehen dieser Art waren schon gescheitert? Nicht, weil es an Zuneigung fehlte, sondern weil verschiedene Kulturen und Welten offensichtlich doch nicht immer vereinbar sind. Aber, war es denn so ernst mit den beiden? Sie waren ja noch sehr jung und konnten über ein solches Scheitern leicht hinwegkommen. „Nimm es nicht so tragisch, mein Kleiner,“ sagte Onkel Turgut. „Wir werden schon herausfinden, was geschehen ist. Vielleicht kann man mit ihren Eltern doch sprechen,“ meinte er. Sehr überzeugend klang dies allerdings nicht. Ahmet hätte genügend Arbeit gehabt, um sich abzulenken. Das Studium hatte ja erst begonnen. Er würde noch drei Jahre hier bleiben müssen. Aber er hatte keine Kraft. Er schlief schlecht und aß ganz wenig. Nikos war der einzige seiner Freunde, der gelegentlich nach ihm schaute und ein Bier mit ihm trank. Ahmet musste einen Entschluss fassen. Er würde Tinas Eltern aufsuchen und mit ihnen über seine große Liebe sprechen. Das konnten sie ihm nicht verwehren. Vielleicht hatte der Vater lediglich in einer ersten Aufwallung von Zorn gehandelt, als er Ahmet anrief. Etwas Mut gab ihm dieser Plan, den er am kommenden Tag umsetzen wollte. 
Es war wohl am besten, den neuen Anzug anzuziehen und gegen elf Uhr, ohne telefonische Vorwarnung, einfach vor der Tür von Tinas Eltern zu stehen. Allerdings hatte er sich bis jetzt nicht getraut, so nahe an das Haus heran zu gehen, dass er das Namensschild am Klingelknopf hätte sehen können. Ahmets Herz klopfte bedenklich, als er schließlich die Klingel bemerkte, unter der „Petropoulos“ stand. Bevor er läuten konnte, öffnete sich die Tür, und eine junge Frau verließ das Haus. Ahmet nutzte die Gelegenheit und trat ein. Es war der dritte Stock auf der linken Seite. Die Treppe war vornehm und großzügig angelegt. Er verzichtete auf einen Fahrstuhl und ging langsam die Stufen hinauf. Er läutete verhalten und wartete. Keine Reaktion. Seine Aufregung machte ihm zu schaffen. Er konnte kaum atmen. Die Türe öffnete sich nicht. Natürlich hatte er auch schon das Telefonbuch nach Petropoulos durchsucht, aber ohne jeden Erfolg. Sonst hätte er es auch telefonisch versucht. Er verließ das Haus wieder und würde am kommenden Morgen nochmals versuchen, mit Tinas Eltern zu sprechen. Seine Aufregung wurde allmählich von tiefer Verzweiflung abgelöst. Wie konnte er Tina nur finden?

Ahmet und Kristina, Teil 5




Zuhause angekommen, versuchte Ahmet sich über das Geschehene klar zu werden. Er hatte einen Menschen gefunden, den er liebte und von dem er geliebt wurde. „Ach, Tina, wir müssen alle Hindernisse überwinden und unseren Weg bis zu Ende gehen,“ dachte er und sah im Spiegel der Diele einen glücklich strahlenden Ahmet, der eine unüberwindliche Kraft in sich spürte. Er musste dieses Glück mit jemandem teilen, um nicht aus dem Lot zu geraten. Er beschloss, seiner Schwester, der er absolut vertraute, einen Brief zu schreiben. Dann war Nikos am Telefon. „Ich werde für ein paar Tage verschwinden. Kommst du mit?“ fragte er, doch Ahmet sagte nur, er könne das Haus nicht verlassen und müsse nach dem Rechten sehen. Dann setzte er sich an den Tisch und machte sich an den Brief.
„Meine liebe kleine Schwester,
Dein Bruder hat jetzt ein Mädchen gefunden, in das er hoffnungslos verliebt ist. Sie heißt Kristina Petropoulos und ist das schönste Wesen der Welt. Du bist die erste, die es erfahren soll. Sage es niemandem, bis ich es Dir erlaube. Wir haben uns geküsst und auch sonst geliebt, wenn Du verstehst, was ich meine. Wir werden heiraten. Ich weiß aber noch nicht, wann. Sie ist noch sehr jung. Ihre Eltern – und jetzt halte Dich fest – sind Griechen aus Limassol. Sie ist noch in Kyrenia geboren, also auf „unserer“ Seite. Wir sind uns im Klaren darüber, dass wir so  eine Art politisches Verbrechen begehen, aber glaube mir, Liebe ist etwas sehr Schönes und ist das genaue Gegenteil von einem Verbrechen. Ich wollte, Du könntest sie sehen. Sie ist sooo wunderschön. Aber das sagte ich schon. Du siehst, was aus Deinem Bruder geworden ist. Ich denke nur noch an sie. Leider hatten wir noch keine Zeit, von Dir zu sprechen. Das werde ich morgen nachholen, denn wir treffen uns wieder, wenn alles gut geht. Erzähle bitte Deinen Freundinnen nichts davon. Du weisst, wie schnell so etwas die Runde macht.
Wie geht es Dir? Hast Du in der Schule noch Probleme? Du weißt, dass Tante Jane Dich eingeladen hat, hierher zu kommen. Vielleicht wird daraus etwas. Es wäre schön, und ich könnte Dir meine Tina zeigen. Sie würde Dir ganz sicher gefallen. Denke nicht, ich würde hier nichts anderes tun, als Tina zu lieben. Wir kennen uns erst richtig seit zwei Tagen. Natürlich büffle ich auch für die kommenden Prüfungen an der Business School. Onkel und Tante sind zur Zeit in Schottland. Sie rufen gelegentlich an, um sich über das Wetter zu beklagen. Ich denke aber, dass es ihnen doch gut gefällt. Grüße Mama und Papa von mir!
Meine liebe kleine Leila, ich lache und weine vor Glück. Kannst Du mich verstehen?
                                                              Dein Dich liebender und für ewig verliebter Bruder Ahmet“  

Nachdem der Brief geschrieben, frankiert und zum Briefkasten gebracht war, legte Ahmet sich schlafen. Es war noch früh am Abend.
Kristinas Mutter sagte zunächst nichts, als die Tür sich öffnete. Mit einer Kopfbewegung deutete sie in die Richtung, in die Kristina gehen sollte, um ihren Vater zu sprechen. „Wo hast du gesteckt Kristina?“ sagte sie dann doch und vermied das vertrauliche „Tina“. Aber sie schien es nicht wissen zu wollen. Dies herauszufinden würde die Sache des Vaters sein. Betroffen ging Kristina in das Büro des Vaters. Er saß nicht am Schreibtisch sondern in einem Sessel, sichtlich bemüht, locker und gütig zu wirken. „Mein Schätzchen“ sagte er, und Kristina wusste sofort, dass dies nicht gut gemeint war, „du bist 17 Jahre alt und wirst bald volljährig sein. Dann steht es dir frei, über deine Zeit und dein Tun so zu verfügen, wie es dir passt. Aber fangen wir ganz von vorne an: gestern schon hast du mir einen gewissen Eindruck von – sagen wir mal – Verwirrtheit gemacht. Du kannst das sicher erklären. Aber später. Heute bist du fünf Stunden auf der Straße gewesen, oder weiß der Himmel wo. Wir leben in London, wie dir bekannt ist. Hier verschwindet man nicht einfach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ich hoffe, du kannst mir sagen, was geschehen ist.“ Um einer eventuellen Notlüge zuvorzukommen, fügte der Vater noch hinzu: “bei deinen Freundinnen, soweit ich sie kenne, habe ich angerufen. Dort warst du nicht.“ Nach dieser unüblich langen Vorrede ihres Vaters entstand eine gefährliche Pause, und Kristina wusste immer noch nicht, was sie antworten sollte. Lügen wäre nicht gut, dachte sie, und sie wusste, dass sie keine gute Lügnerin war. Also trat sie die Flucht nach vorne an und sagte: „Papa, ich habe mich verliebt, ---- in einen Jungen,“ fügte sie etwas unlogisch hinzu. Der Vater nutzte das und schnaubte: “dass es kein Mädchen ist, will ich hoffen. Aber davon verstehst du besser nichts. Wie heißt er, wer ist er, und kann man ihn sehen?“ Das klang sehr ungeduldig. „Den Namen will ich dir  nicht verraten. Er ist Student, zwanzig Jahre alt, kein Engländer, aber auch kein Grieche, und ich liebe ihn und möchte ihn heiraten.“ „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Das kommt nicht in Frage. Außerdem benötigst du noch eine elterliche Genehmigung. Die wirst du nicht erhalten.“ „Aber, Papa, das hat doch gar keine Eile, ich wollte damit nur sagen, wie ernst es mir ist.“ „Und wie kommt es , dass du fünf Stunden mit ihm zusammen bist, einfach so? Sage mir, wo das war!“ Kristina konnte jetzt besser erwidern als zu Beginn. „Wir waren einen Tee trinken, dann machten wir einen Spaziergang, und dann tranken wir noch einmal Tee,“ behauptete sie. Der Vater schaute skeptisch und schien diese Angelegenheit auf sich beruhen lassen zu wollen. Kristina hatte diese erste Probe bestanden, wie sie glaubte, und war erleichtert. Allerdings durfte sie Ahmet in den nächsten Tagen nicht sehen, ohne den totalen Widerstand ihrer Eltern herauszufordern. Sie würde ihn telefonisch über alles informieren.
Ahmet schreckte hoch, als das Telefon läutete. Es muss sehr spät sein, dachte er. Wahrscheinlich ist es Onkel Turgut oder Tante Jane. Es könnte auch Nikos sein, von dem er den ganzen Tag nichts gehört hatte. Eine männliche Stimme meldete sich. „Hier Petropoulos. Ich bitte sie, diese späte Störung zu entschuldigen. Mit wem spreche ich?“ „Aslan,“ sagte Ahmet kurz und fühlte sich wie benommen. „Kennen sie meine Tochter Kristina?“ war die nächste Frage. „Ja,“ klang es kleinlaut. Ahmet wusste auch nicht, warum er sich schuldig fühlen sollte. Er hatte sicher nichts getan, was Kristina hätte schaden können, dachte er. „Sind sie Türke?“ fragte Herr Petropoulos nun, und es entstand eine längere Pause, die Ahmet mit einem fast trotzigen „Ja, aus Zypern“ beendete. „Hören sie, Herr ......Aslan, wir wünschen diese Freundschaft nicht“. Daraufhin wurde der Hörer energisch aufgelegt. Ahmet hielt den seinen noch in der Hand. Zu einer Erwiderung hatte es nicht mehr gereicht. Seine Hände und seine Stirn waren feucht vor Aufregung. Er dachte an seine geliebte Kristina und wusste nicht, wie gut oder schlecht es ihr ging. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. 

Ahmet wälzte sich in seinem Bett und wartete schweißgebadet auf den anbrechenden Tag. Da hörte er wieder das Telefon und ging in die Diele. „Ahmet, Kristina. Meine Eltern haben mich in die Zange genommen. Ich kann dich morgen, nein, heute, nicht treffen. Es wäre zu gefährlich,“ sagte sie mit unterdrückter Stimme. „Dein Vater rief mich an,“ sagte Ahmet. „Er muss die Nummer bei dir gefunden haben. Ich sagte meinen Namen, und er wusste sofort, daß ich Türke bin. Er will nicht, dass wir uns wiedersehen.“ „Ich liebe dich, Ahmet, und wir werden uns wiedersehen,“ sagte Kristina, „auch wenn wir erst einmal abwarten müssen“. „Meine kleine Schwester Leila wird auch alles erfahren. Ich habe ihr gestern geschrieben.“ Ahmet wollte das Gespräch ausdehnen und Kristina noch sagen, dass er sie liebte, dass er alles tun würde, um sie glücklich zu machen, dass er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen könne. Da sagte sie leise: “ich muss auflegen.“ Das nächtliche Gespräch war beendet. Ahmet fühlte sich elend und verzichtete auf weiteren Schlaf. Hoffentlich war Tina nicht beim Telefonieren überrascht worden. Er machte sich Sorgen um sie.
Am folgenden Tag unternahm Ahmet nichts, um mit Tina Kontakt aufzunehmen. Es musste erst etwas Zeit vergehen, bevor sie sich sehen konnten. Aber er konnte nicht zu Hause bleiben. Übermüdet ging er am frühen Morgen den gesamten Weg entlang, den sie bis zu ihrem Haus zusammen gegangen waren. Es regnete, und er hatte Mühe, das richtige Haus zu finden. Die Fassaden ähnelten sich sehr. Er schaute hinauf, versuchte sich zu erinnern, welche Etage Kristina genannt hatte, aber ohne Erfolg, sodass er auf die andere Straßenseite wechselte, um alles im Auge behalten zu können. Würde sie ans Fenster treten? Wohnte sie auf der Seite, die nach hinten ging und der Straße abgewandt war? Waren es die Fenster im dritten Stock, bei denen alle Vorhänge zugezogen waren? Sollte er warten, bis die Eltern vielleicht das Haus verließen? Aber er kannte sie nicht. Einigermaßen durchnässt gab er seine Beobachtung nach zwei Stunden auf und ging nach Hause. Das Telefon klingelte, als er die Tür öffnete. Er stürzte sich in die Diele, um den Hörer zu ergreifen, aber am anderen Ende hatte man schon wieder aufgelegt. War es Tina? Er hoffte es, denn er konnte sich nichts anderes vorstellen. 
Der Anruf wiederholte sich nicht. Ahmet musste daran denken, wie kurz ihr Glück war, und wie alles so aussah, als würde es sich nie wiederfinden lassen.

Freitag, 25. November 2011

Herbstdemo 2011





Wenn der Herbst die Wälder lichtet,
Blätter von den Wipfeln fegt,
Amor die Bestände sichtet,
Findet er, ganz aufgeregt,
Dass das Jahr noch nicht gerichtet,
Mancher Park bleibt ungepflegt.
Wettermäßig, undsoweiter,
Mancher Zweifel wird gehegt
In den Hirnen fließt der Eiter,
Vögel singen unentwegt,
Stürmen hin zur Himmelsleiter;
Letztes Ei wird noch gelegt,
Bis der Herbst, ach Gott, jetzt schneit er,
Müde Hüften fortbewegt.

Ahmet und Kristina, Teil 4


Kristina hatte sehr schlecht geschlafen. Unruhig bewegte sie sich in ihrem Bett hin und her und dachte an diese völlig unerwartete Wende in ihrem Leben. Sie stellte sich vor, sie würde Türkisch lernen, einfach, um Ahmet eine Freude zu machen. Dies würden die Eltern aber nicht erfahren. Sie verwarf den Gedanken, denn Sprachunterricht kostete auch Geld, und das hatte sie nicht. Schließlich konnte auch Ahmet ihr helfen, die Grundbegriffe zu erlernen. Von ihren sprachlichen Fähigkeiten war sie einigermaßen überzeugt. Nicht aber davon, dass sie ihrer Mutter glaubhaft mitteilen konnte, warum sie unbedingt wieder gegen elf Uhr einen Spaziergang in die City machen musste, zumal es gerade angefangen hatte, zu regnen.. Notfalls würde sie einfach davonlaufen und danach einen Disput mit den Eltern riskieren. Es kam anders, und Tina hatte Grund zum Jubeln: die Eltern waren zum Brunch bei Bekannten eingeladen. Gegen elf Uhr wollten sie das Haus verlassen. Nun ging es nur noch darum, Ahmet nicht allzu lange warten zu lassen. 
Als Kristina etwas hektisch und leicht verspätet, fast außer Atem, sich schnell neben Ahmet auf die Bank setzte, waren beide froh, sich wiederzusehen. Ahmet küsste sie wie eine alte Freundin, dabei fehlte ihm bis gestern jede Erfahrung. Sie nahm seine Küsse wie Geschenke entgegen und lächelte verzaubert. Es dauerte nicht lange, und sie gingen fast automatisch in Richtung Haus von Onkel Turgut und Tante Jane. Kaum angekommen, sagte Ahmet: „Ich habe dich angelogen. Wir kommen von der gleichen Insel. Verzeihe mir, ich halte es nicht immer für notwendig, allen zu sagen, dass ich aus Zypern stamme. Meine Heimat, die von deiner Heimat durch eine Grenze abgetrennt ist, wird nicht einmal als Staat anerkannt, wie du weißt. Es tut mir so leid.“ Ahmets Augen glänzten verräterisch. Das alles hatte wie das Eingeständnis einer Sünde oder eines Verbrechens geklungen. Kristina sagte nur: „küsse mich“ und hielt ihm ihren ganzen Körper hin. Nun wusste Ahmet, dass Kristina ihn nicht verlassen würde. Sie würden für immer zusammen bleiben. Beide schauten sich glücklich an. Tinas weiche Brüste wurden sanft an seinen Körper gepresst. Einen Augenblick lang zögerten sie. Doch dann durchströmte sie ein Gefühl unbegrenzten Glückes und gegenseitigen Vertrauens. Wir gehören uns, dachten beide. Ahmet begann, wie im Traum, Kristina zu entkleiden. Es dauerte einige Zeit. Als sie ihm half, seine Sachen abzulegen, bemerkte sie, dass sie mehr Geschicklichkeit an den Tag legte als er. Seine Bewegungen waren eher unbeholfen. Doch sie liebte seine fast bärenhafte Art, sich zu bewegen und seinen männlichen und wohlproportionierten Körper. Sie sah, dass eine zarte Röte ihn umhüllte. Alle Befürchtungen und Hemmungen beiseite schiebend, liebten sie sich so intensiv, dass sie nicht bemerkten, wie unbequem das Sofa war, auf dem sie sich niedergelassen hatten. Das spielte auch keine Rolle. Tinas Körper konnte nicht schöner sein. Er war sehr geschmeidig, bog sich unter Ahmets Last und duftete nach Kräutern und Seife. Sie hatte nicht an das Parfüm ihrer Mutter gedacht. Ahmets Wäsche lag überall im Zimmer verstreut umher. Er hatte sie am Morgen frisch aus dem Schrank geholt, nach einer gründlichen Dusche, die Onkel Turgut gelegentlich dazu reizte, ironische Bemerkungen zu machen. Dennoch roch Ahmet ein wenig nach Tabak, denn er hatte das Warten auf Kristina mit dem Rauchen mehrerer Zigaretten überbrücken müssen. Beide hatten zum erstenmal das Schönste erlebt, was Menschen, die sich lieben, begegnen konnte. Ahmet erdrückte Tina fast mit seinen Küssen. Es verstrich sehr viel Zeit, bis sie etwas sagten. „Meine Aphrodite, willst du mich heiraten?“ jubelte er. „Ja, ja, ja!“ Es klang wie ein verhaltener Schrei. Dann nahm er sie zart um die Hüfte und führte sie in die Küche, wo sie, noch unbekleidet, anfingen, alles zu essen, was ihnen in die Hände fiel.
Ein Anruf riss sie aus ihrem Traum. Es war Onkel Turgut, der nur wissen wollte, ob alles in Ordnung war. Ahmet errötete tief und stotterte etwas auf Türkisch, das Kristina nicht verstand. Von seiner geliebten Besucherin sagte Ahmet nichts. Es war keine Ernüchterung, eher Nachdenklichkeit, die sich einstellte, als er den Hörer aufgelegt hatte. Wie würde es weitergehen? Ahmet dachte an seine Familie, sein Studium, die düsteren Aussichten, den türkisch-zyprischen Teil seiner Insel betreffend, an Tina, die er auf jeden Fall heiraten wollte, und die auf der griechisch-zyprischen Seite zuhause war. Ein Blick auf die Uhr veranlasste Sorgenfalten auf Kristinas Stirn, die Ahmet mit beschwichtigendem Lächeln wieder und wieder hinwegzuküssen versuchte. Dabei streichelte er sanft über ihren unbedeckten Rücken, hob ihr Kleid vom Boden und reichte es ihr zum Anziehen. Kristina musste dringend nach Hause. Es war weit über drei Uhr nachmittags. Die Eltern mussten schon längst vom Brunch zurück sein. „Was werde ich ihnen erzählen? Ich werde lügen müssen, denn die Wahrheit wäre für sie unerträglich.“ Vater hatte sogar einmal aus geringem Anlass, in einem Anfall von Ungehaltenheit, wohl auch, weil sie ein Mädchen war, die Hand gegen sie erhoben, im letzten Augenblick sich jedoch eines besseren besonnen. Das hatte sie nie vergessen. Ahmet folgte ihr bis zur elterlichen Wohnung, küsste sie noch einmal flüchtig, denn er wollte nicht, dass sie gesehen würden und verabschiedete sich, indem er ihr rasch seine Telefonnummer zusteckte. Natürlich würden sie sich wieder treffen: gleiche Zeit und gleicher Ort, am folgenden Tag. Es durfte nur nichts dazwischen kommen.

Ahmet und Kristina, Teil 3




Kristina zog es vor, ihre Eltern nicht anzurufen, um ihnen zu sagen, daß sie etwas verspätet zum Mittagessen kommen würde. Sie fürchtete Fragen ihrer Mutter, die sie vor Ahmet nicht mit einer Lüge beantworten wollte. Es war wohl klüger, die üblichen Normen der Verspätung nicht zu überschreiten und dafür glaubhaftere Erklärungen parat zu halten. Andererseits tat es ihr leid, sich von Ahmet zu verabschieden, der sie bis an die U-Bahnstation begleitet hatte. „Wann sehen wir uns wieder?“ rief Ahmet ihr noch zu, bevor sie durch die Sperre ging. „Morgen, um die gleiche Zeit im Park,“ keuchte sie und verschwand. „Ich liebe dich, Kristina,“ sagte Ahmet noch. Aber er wusste, dass sie es nicht mehr hören konnte. Jetzt war er mit seinem Glück ganz allein. Ein unsichtbares Lächeln begleitete ihn auf seinem Weg zur Wohnung des Onkels. Das Telefon klingelte, als er die Tür öffnete. Es war Nikos. Also hatte er noch keine konkreten Ferienpläne, dachte Ahmet. „Wo warst du heute morgen?“ fragte Nikos. „Ich habe dauernd versucht, dich zu sprechen.“ „Ach ich war spazieren,“ klang es etwas kleinlaut. Nikos hatte das Zögern bemerkt und fragte: „Allein, oder mit anderen?“ Ahmet lachte glücklich-verschämt und sagte nur: „Mit anderen.“ Das musste genügen. Am Nachmittag wollten sie sich zu einem Bier treffen. Für Ahmet eine willkommene Ablenkung, die ihm half, die Zeit bis zum nächsten Tag zu überbrücken. 
Kristinas Eltern hatten sich sehr spät aus ihren Betten erhoben. Ihre Mutter sah noch müde aus, als sie im Morgenmantel an der Tür stand. Sie hielt Kristinas Nachricht in der Hand und sagte nur: „Da bist du ja, mein Kind.“ Die Röte auf Tinas Gesicht erstaunte sie nicht. „Wie geht es Maureens Vater?“ fragte sie plötzlich, und Kristina hatte Mühe, sich zu erinnern, dass Mr. Healy sich vor einigen Wochen das Bein gebrochen hatte. „Er war nicht zu Hause,“ flunkerte sie. „Ich habe total vergessen, danach zu fragen.“ „Was ist mit dir, Tina?“ fragte ihr Vater, der unvermutet neben ihr stand. „Du wirkst so ganz verändert. Hattest du Streit mit jemandem?“ „Nein, nein,“ sagte sie verwirrt. „Es hat nur ziemlich viel geregnet.“ Dann ging Kristina schnell in ihr Zimmer, wo sie darauf wartete, von Mutter zum Essen gerufen zu werden. Der Nachmittag würde unendlich lange dauern, befürchtete sie. Was sollte sie sich für den kommenden Tag ausdenken, damit sie unbehelligt mit Ahmet zusammensein konnte? Wahrscheinlich würde sie ohnehin eine ihrer Freundinnen, Lydia oder Maureen einweihen müssen. Wie sollte sie so tun können, als wäre sie Ahmet nie begegnet? „Sicher fällt mir noch etwas ein,“ sagte sie sich und nahm eine Zeitschrift zur Hand.
„Na, du anatolisches Ungeheuer, bist du immer noch tantenlos?“ schnaubte Nikos fröhlich, als er Ahmet durch die Drehtür kommen sah. Nicht weit vom Ausgang des Pubs war noch ein Tisch frei gewesen. Er gehörte zu jenen, die sich nicht daran gewöhnen wollten, wie ein Brite am Tresen zu stehen. Die Kultur seiner griechischen Heimat war eine sitzende: man setzte sich, um ein Bier zu trinken, und auch der Wein wurde nicht im Stehen genommen. Ahmet zog das  Sitzen dem Stehen ebenfalls vor. Beim ersten Schluck schauten sie sich in die Augen, und Ahmet sagte: „Was hat mein hellenisches Großmaul alles erlebt, seit die Schule wegen Unfähigkeit geschlossen wurde?“ Sie waren sich immer einig gewesen, dass ihr College den Namen Hochschule eigentlich nicht verdiente. Aber man konnte es dort gut aushalten, und am Ende winkte ein „Degree“, das man in südlichen Breiten gebrauchen konnte. Nach dem Austausch erster Allgemeinheiten musste Nikos von seiner neuesten Eroberung sprechen: Ingrid, ein aschblondes Wesen aus Schweden, dem er nicht lange den Hof machen musste, um es sich für diesen Sommer hörig zu machen. „Wir waren gestern abend im Kino. Der Film war unwichtig. Wir saßen ganz hinten und schmusten,“ sagte Nikos mit zufriedenem Lächeln. Ahmet zeigte wenig Interesse, dieses Thema aufzugreifen, was Nikos sofort stutzig machte. „Bist du etwa auch fündig geworden?“ fragte er, und Ahmet hoffte verzweifelt, durch ein einfaches „Ja“ würde er sich aus der Affäre ziehen können. „Kristina,“ grinste Nikos. „Wusste ich es doch!“ Ahmet machte keine Anstalten, etwas zu sagen, und Nikos fügte ernst hinzu: „Wusstest du, daß Kristina eine Griechin besonderer Art ist?“ „Wieso?“ fragte Ahmet besorgt. „Ihre Eltern stammen aus Limassol, deshalb haben sie einen britischen Pass.“ Ahmet war außer sich. „Du siehst, wie weit es mit uns gekommen ist. Wir  schaffen es nicht einmal, unsere Herkunft preiszugeben. Was gibt es Schlimmeres, als Zyprer zu sein und eine zu lieben aus dem anderen Lager. Ich habe ihr auch nicht gesagt, dass ich  Zyprer bin, wie meine Eltern und Schwester. Wir kamen auch aus Limassol und mussten nach Norden fliehen, sonst hätten deine Landsleute uns ausgerottet.“ Ahmet wollte nicht bitter wirken, denn Kristina und Nikos waren an dieser Vergangenheit nicht schuldig. "„Ich weiß, daß du nichts damit zu tun hast und  nicht einmal ein Landsmann von Kristina bist. Meines Wissens haben es die Zyperngriechen immer noch nicht geschafft, unsere gemeinsame Insel an Griechenland zu verkaufen und die Anatolier, den Norden völlig zu überrennen.“ Nikos war etwas verlegen und sagte zu Ahmet:“ Jetzt könnten wir es genauso halten wie unsere Vorfahren: uns die Köpfe einschlagen. Ich will das nicht. Aber einen Anatolier werde ich dich nicht mehr nennen können. Wie geht es jetzt weiter, mit dir und Kristina ?“ „Ich liebe sie und werde sie heiraten, egal wie viele Verwandte sich auf uns stürzen werden. Leila wird zu mir halten, das weiß ich. Dass ich Kristina erst seit kurzem kenne, spielt keine Rolle. Ich kenne sie gut genug. Lass` uns von etwas anderem reden.“ Nikos wollte nicht in Ahmets Haut stecken. Er kannte Kristinas Eltern. Sie hatten nie ein halbwegs freundliches Wort für alles, was türkisch war. Er selbst überlegte, wo diese angeborene Animosität seiner Landsleute gegen die Türkei herrühren mochte. Natürlich kannte er alle Antworten. Er hatte sie ja immer wieder gehört, ohne dass sie ihn ganz überzeugt hätten. Er musste zugeben, dass das Hellenentum, der Traum von der griechischen Vorherrschaft, der Panhellenismus, immer noch in den Köpfen vieler Griechen herumspukte. Der Urknacks muss das Jahr 1453 gewesen sein. Der letzte byzantinische Kaiser, Konstantin XII., hatte in Konstantinopel im Kampf gegen die Osmanen sein Leben verloren, und die schöne Stadt fiel in die Hände von Mehmet II. dem Eroberer. Von da an begann die  Herrschaft der Osmanen über das gesamte ehemalige byzantinische Reich, und weit darüber hinaus. Obwohl die orthodoxen Christen mit einigem Respekt behandelt wurden, haben sie diesen Verlust nie richtig überwinden können. Nikos musste sich allerdings immer wieder fragen, ob es nicht wichtigere Gründe und aktuellere Anlässe geben sollte, um solchen Urhass zu rechtfertigen. Für ihn hatte Ahmet nichts damit zu tun. Es wäre einfach ungerecht.

Donnerstag, 24. November 2011

Ahmet und Kristina, Teil 2





Am nächsten Morgen war Ahmet etwas einsilbig beim Frühstück, das aus einer Mischung von englischen Eiern mit Speck und orientalischen Beigaben bestand: Ziegenkäse, Oliven und türkischem Kaffee. Auch Tee fehlte nicht, und Tante Jane war besonders guter Laune. Schnell verließen alle das Haus, Ahmet nahm den Bus und traf schon am Eingang zum College Jim und Nikos. Beide hatten bei Kostas wieder Eroberungen gemacht, was Ahmet entgangen war. „Hat Dir Kristina Petrides gefallen?“ fragte mit harmlos sein wollender Miene Nikos. „Sie heißt Petropoulos, Kristina Petropoulos,“ bemerkte Ahmet leicht gereizt. „Jedenfalls hast du dir den Namen merken können,“ grinste Jim. Ahmet hatte wieder das Gefühl, dass er errötete. Schnell beendete er das Gespräch indem er scheinbar abwesend bemerkte, Kristina werde wohl noch viele Jahre im Schutze ihrer Eltern dahin dämmern, bevor sie sich frei bewegen könne. Allerdings meinte er es nicht so, denn Kristina hatte ihm einen recht unabhängigen Eindruck gemacht. Was würde Onkel Turgut sagen, wenn er einfach mit einem Mädchen nach Hause kommen würde?  Dazu noch mit einer Griechin? Davor würde er sich fürchten.

Wochen vergingen. Kristina hatte ihren Eltern versprochen, in der Schule ihr Bestes zu geben, um bald mit ihnen in ihre Heimat zurückkehren zu können und auf den Schulwechsel vorbereitet zu sein. Eigentlich freute sie sich darauf, aber die Umstellung würde ihr einiges abverlangen. Onkel Dimitris hatte die beiden Geschäfte alleine weitergeführt, als Kristinas Eltern nach London gezogen waren. Der britische Pass hatte es ihnen ermöglicht. Jetzt sollten die beiden Brüder je eine Tuchhandlung übernehmen, und Dimitris könnte endlich heiraten. Der  Abschied von London, den Freunden, den Kinos und Theatern würde ihr schwerfallen, aber noch ist es nicht soweit. Dass Mutter eine abschätzige Bemerkung machte, als sie ihr auf der Heimfahrt nach der Party erzählte, sie habe einen netten Türken kennengelernt, tat ihr leid. Ahmet hatte ihr gut gefallen. Seine Zurückhaltung und sein offener Blick ließen Mut und Ritterlichkeit ahnen. Sie träumte mehrere Male von ihm, aber nie gelang es ihr, mit ihm im Traum zu sprechen. Auch konnte sie sich nicht mehr richtig vorstellen wie er aussah. Wenn sie ihm auf der Straße begegnen würde, das  weiß sie ganz sicher, würde sie ihn sofort wiedererkennen. Aber es gab überhaupt  keine Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Mit Mutter und Vater sprach sie nicht darüber.
Ahmet verabschiedete sich von seinen Freunden Jim und Nikos. Das College-Jahr ging zu Ende und Jim sollte seine Familie für einige Wochen auf einer USA-Reise begleiten. Nikos konnte noch nicht genau sagen was er tun würde. Auf keinen Fall würde er in London bleiben. Das spärliche Erscheinen seines Freundes zum abendlichen Bier im Pub, bei der Bushalte, ließ Ahmet vermuten, dass ein Mädchen im Spiel war. Daher auch die unpräzisen Ferienpläne. Ahmet liebte diese Zeit nicht. Viele waren nach Hause gefahren. Onkel Turgut und Tante Jane planten einen Trip nach Schottland. Der Salon sollte für zwei Wochen geschlossen werden, und Ahmet fand es ganz normal, dass man ihm nicht anbot, mitzukommen. So könnte er für das Studium arbeiten, seinen Eltern und Leila lange Briefe schreiben und ab und zu einen Film anschauen. Außerdem liebte er es, lange Streifzüge durch die City zu unternehmen. Der Besuch im Pub konnte leicht durch andere Tätigkeiten ersetzt werden, dachte Ahmet, obwohl er sich daran gewöhnt hatte, täglich zwei bis drei Gläser Bier zu trinken. Auch der Hyde Park war zu Fuß leicht zu erreichen. Hier gab es immer viel zu sehen. 
Turgut und Jane hatten sich gerade verabschiedet. Ahmet verließ ebenfalls das Haus und ging in Richtung City. Am Picadilly Circus kehrte er um und ging in Richtung Regent`s Park. Unterwegs hielt er an einer Bude und verlangte ein Sandwich. Er dachte an den lieben Brief, den ihm Leila geschickt hatte. „Ahmet, Du fehlst mir so,“ hatte sie geschrieben. Das tat gut. Manchmal fühlte er sich etwas verlassen. Er setzte sich auf eine Bank. Die Sonne schien kräftig. Er verspürte Lust, sich noch ein weiteres Sandwich zu holen, als er auf der anderen Seite des Parks zwei Mädchen gehen sah. Sofort erkannte er Kristina. „Hallo,“ rief er etwas verwirrt, denn ihr Name fiel ihm in der ersten Erregung nicht ein. Beide Mädchen blickten ihn an, Kristina erkannte ihn sofort. Er erhob sich und ging auf sie zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich wiedersehen würde,“ sagte er total unbeholfen. Sie verzichtete darauf, ihre Freundin vorzustellen, als er seinen Namen murmelte. Sie zuckte etwas verlegen mit den Schultern und ging mit ihrer Begleiterin weiter. Ahmet war zu gehemmt, um zu versuchen, Kristina aufzuhalten. Enttäuscht setzte er sich wieder auf seine Bank und überlegte, ob er ihnen folgen sollte. Nein, das würde er nicht tun. Würde er aber nocheinmal die Gelegenheit haben, sie zu sehen? Solche Zufälle sind eher selten. Unschlüssig vertiefte er sich in eine Zeitung, die er zusammen mit dem Sandwich gekauft hatte, als eine Hand ihn schüchtern berührte. Es war Kristina, die ohne ihre Begleiterin zurückgekommen war und plötzlich vor ihm stand.
„Kristina, ich freue mich. Wie kommst du hierher?“ „Ich wohne hier in der Nähe,“ sagte sie. „Meine Eltern sind heute nach Hertfordshire gefahren, Freunde besuchen.“  „Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken?“ fragte er leise. „Lieber einen Tee, wenn du Zeit hast.“  „Ich habe viel Zeit. Mein Onkel ist in Schottland. Ich bin ganz alleine.“ Ahmet dachte, dass dies aufdringlich klang, irgendwie plump, und fügte hinzu: „Natürlich sollte ich über meinen Büchern sitzen.“ Sie lachte ein wenig. Er bemerkte, dass ihre Stimme noch sehr mädchenhaft klang. Warum hatte er das Gefühl, sie schon lange zu kennen? Er hatte sie doch nur einmal gesehen. Jetzt setzte sie sich neben ihm auf die Bank. Ihr Arm kam dem seinen so nahe, dass er ihre Körperwärme zu spüren glaubte. Nur einmal hatte er ein Mädchen so geküsst, dass man es Küssen nennen konnte. Die Umstände waren allerdings eher beschämend. Narin war in ihn verliebt und hätte alles mit sich machen lassen. Er wollte eigentlich nicht, hatte aber zu viel getrunken, um seine natürliche Hemmung  zu  unterdrücken. So kam es zu diesem richtigen Kuss, dem jedoch nichts folgte als eine belanglose Schmuserei. Dies hatte Ahmet nie leid getan, aber für Narin hatte er keine erwähnenswerten Gefühle empfunden. Kristina kam ihm dagegen vor wie eine alte Vertraute. Er hätte sie gerne umarmt und geküsst. Das hätte aber alles zerstören können. Zwischen Griechen und Türken, dachte er, kann es nur Liebe oder Hass geben. Dazwischen  nur belanglose Höflichkeitsformeln, um das Schlimmste zu verhindern. Sie gingen einen Tee trinken, den Ahmet dadurch in die Länge zu ziehen verstand, dass er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Da der Himmel plötzlich schwere Wolken vorbei trug, konnte es bald zu Schauern kommen, denen beide aus dem Weg gehen wollten. Er begleitete sie bis an die Ecke, von der aus er das Haus sehen konnte, in dem sie wohnte. Weiter gingen sie nicht zusammen. Am nächsten Tag wollten sie sich wieder treffen.
Jane rief gerade noch aus einem Hotel in Schottland an, einem Ort namens Peebles, und schon war Ahmet in sein Zimmer gegangen, um sich schlafen zu legen. Die Reise von Onkel und Tante war ohne Probleme verlaufen.  Er hatte nichts von seiner Begegnung mit Kristina erwähnt. Die Vorfreude auf das nächste Treffen mit Kristina hinderte ihn lange am Einschlafen. Wie würde es weitergehen? Er konnte sich nicht so richtig vorstellen, mit ihr eine feste Beziehung zu haben, zumindest nicht eine unproblematische. Dazu waren sie zu verschieden; ihre Nationalitäten passten nicht zusammen. Als er ins Träumen geriet, sah die Welt wieder ganz anders aus. Er stellte sich vor, sie würde ihn abgöttisch lieben, ihm viele Kinder schenken und dazu noch eine bekannte Persönlichkeit werden, die von allen verehrt würde. Seine Rolle war die des großen Helden. Mit einem teuren Auto würde er seine Familie spazieren fahren. Seine Eltern wären voll Bewunderung. Leila würde ihn anbeten. Als er aufwachte, es war noch sehr früh, stellte er fest, dass alle seine Gedanken um Kristina Petropoulos kreisten. Er beschloß, sich sorgfältig zu waschen und anzuziehen und dann lesend auf die Stunde der Begegnung zu warten: Elf Uhr, Hyde Park Corner. 
Kristina zögerte nicht lange: sie ging ins Bad ihrer Eltern, die am späten Abend aus Herfordshire zurückgekommen waren und jetzt ausschlafen wollten, und nahm sich aus einem kleinen Parfümfläschchen ihrer Mutter ein paar Tropfen Vent Vert, das ihr besonders gefiel. Schnell hatte sie ihre Tasche gepackt, dazu den Schirm, denn es regnete heftig. Die Nachricht an ihre Eltern fiel etwas lakonisch aus: „Bin mit Lydia bei Maureen. Melde mich, sobald ich weiß, wann ich nach Hause komme. Tina.“  Kristina fühlte sich schon ertappt, als sie die Türe hinter sich zuzog. Der Regen hatte die meisten Fußgänger von den Straßen vertrieben. Kristina fragte sich, ob Ahmet zu Hause bleiben würde. Türken sagte man in ihrer Familie alles nach, was vorstellbar war. Kaum war sie ans Ziel gelangt, sah sie ihn. Den Kragen hochgeschlagen, weil er es für unnötig gehalten hatte, einen Schirm mitzunehmen oder einen Regenmantel zu tragen. Das Wasser floß über seine Wangen. „Kein unschöner Anblick,“ dachte Kristina, als sie ihm die Hand reichte. Nun waren beide ratlos. Im Regen konnten sie nicht lange bleiben, also fragte Ahmet, was sie unternehmen könnten. Ohne eine Entscheidung zu treffen, gingen sie weiter in die Richtung, aus der Ahmet gekommen war. Kristinas Schirm bot beiden Schutz, sodass es nicht mehr so wichtig war, schnell irgendwo einzukehren. Nach einem kräftigen Marsch fanden sie sich vor Onkel Turguts Wohnung, und Kristina schaute Ahmet fragend an. Ohne weitere Diskussion gingen sie zunächst mal hinein. Ahmet wusste, daß seine Tante ihm einige Kuchen gebacken hatte, die übereinander gestapelt im Kühlschrank ruhten. Er galt als großer Kuchenesser. Kristina nahm einen prall gefüllten Teller entgegen und setzte sich auf ein hellgrünes Sofa. Ahmet setzte sich neben sie, und beide aßen aus demselben Kuchenteller und fanden es aufregend.
Es wurde lange nichts gesagt. Ahmet fühlte sich außerstande, Kristina in die Augen zu sehen. Er wusste, daß er seine Angst, er könne sie irgendwie verletzen, überwinden musste. Es half nichts. Wie ein kleiner Junge saß er neben ihr und hoffte, die ganze Situation wäre vorbei. „Ich bin ein Versager,“ dachte er und ließ seine Hand zum Teller wandern, auf dem noch Kuchen lag. „Ahmet,“ sagte sie fast zu leise, „du bist so, wie ich mir immer einen großen Bruder vorgestellt habe. Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber ich möchte, daß du mich küsst.“ Ahmet konnte nicht begreifen was geschah. Er sagte nichts und neigte sich sanft zu ihr herab, um mit seinem Mund den ihren zu berühren. Ihre Lippen waren warm und feucht. Er hielt sie fest, damit er sie mit Nachdruck küssen konnte. Nun hatte beide ein Glücksgefühl gepackt, für das Worte nicht gebraucht wurden. Ahmets Hände glitten fast selbstverständlich über Kristinas Gesicht. Ein Schwall von Küssen ergoss sich über ihren Mund. Da sagte sie nur: „Ahmet, ich liebe dich. Ich glaube, ich liebe dich.“ Kristina erwartete nicht von ihm, dass er das gleiche sagte, er hätte es auch nicht vermocht, überhaupt etwas zu sagen. Zu vieles bewegte sich in ihm. Er hatte das noch nie zuvor erlebt. Wie schön sie ist, dachte er, was für eine herrliche Frau  sie sein wird, wenn  sie noch einige Jahre älter ist.  Lächelnd schien sie ihn aus seiner knabenhaften Schüchternheit zu entlassen. Vorsichtig  bewegte sich seine Hand körperabwärts. Leicht berührte er Kristinas Brust. Sie ließ es gewähren, hielt still und atmete tief. Ahmet wurde sich ganz abrupt  bewusst, dass Kristina noch nicht volljährig war. Die elterliche Erziehung tat ein übriges, um beide von weiteren kühnen Berührungen Abstand nehmen zu lassen. Ahmet und Kristina schauten sich an, küssten sich wieder und wieder. Keine Macht hätte in diesem Augenblick zwischen sie treten können. 

Ahmet und Kristina, Teil 1




Die nachfolgende Geschichte ist nicht frei erfunden, doch mußte ich die Namen ändern, weil die Beteiligten es so wünschten. Enge Freunde von Ahmet und Kristina werden einzelne Episoden ohnehin leicht wiedererkennen. Ich kann nur hoffen, daß die von mir weitgehend aus dem Gedächtnis aufgezeichneten Begebenheiten faktisch und chronologisch richtig sind, denn weder Ahmet noch Kristina  sprechen  deutsch, um die Genauigkeit meiner Schilderungen selbst überprüfen zu können. Auch sind sie beide viel zu beschäftigt. Nie würden sie dafür die Zeit finden. 
                                                                      
Es ist eine jener privaten Business Schools im Londoner Westen, auf die wohlhabende Eltern aus aller Welt ihre hoffnungsvollen Sprößlinge gerne schicken, damit sie nach einigen Jahren das väterliche Unternehmen kompetent weiterführen können. Dabei verbessern sie ihre Englischkenntnisse, und manchmal bringen sie eine gut erzogene Engländerin mit nach Hause, was dem Ruf des Geschäftes,  weit draußen in der Welt, nicht schadet , sofern sie sich an örtliche Gegebenheiten anpassen kann. Frauen scheinen an dieser Schule weniger gefragt zu sein. Unter dreihundert Studenten sind gerade mal zehn Studentinnen zu finden. Ahmet Aslan ist erst seit knapp einem Jahr hier. Lange hatte es gedauert bis er einige Freunde fand, mit denen er sich gut unterhalten konnte und die nicht zu hochmütig oder zu albern waren. Vor kurzem hatte er seinen zwanzigsten Geburtstag bei seinem Onkel Turgut gefeiert, bei dem er wohnen kann, was die Kosten für sein Studium erheblich verbilligt. Turgut ist nur zehn Jahre älter als Ahmet,  mit einer Engländerin verheiratet, die von ihren Eltern einen Friseursalon für Damen übernahm, in dem auch Turgut arbeitet. Für Kinder war noch keine Zeit, weshalb Ahmet manchmal sich des Eindruckes nicht erwehren kann, für seinen Onkel so etwas wie ein Sohn zu sein, vielleicht aber auch wie ein jüngerer Bruder. Er fühlt sich sehr wohl in der bescheidenen, nicht zu kleinen Wohnung von Turgut und Jane, drei Bushaltestellen von seiner Schule entfernt. Allerdings sehnt er sich oft nach seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Leila, die ihn wie einen Helden verehrt, weil er sie oft beschützte und in der Schule einer der besten war. Er kann sich nicht mehr genau erinnern, wann er sie zuletzt gesehen hat. Nur einmal bekam er Besuch von seinem Vater, der für zwei Tage in London war, wohl um nach dem Rechten zu sehen und sich zu überzeugen, daß es seinem Sohn bei Onkel Turgut gut ging. Vorher war er geschäftlich in Glasgow gewesen und hatte täglich in London angerufen. Wichtig war für Ahmets Vater, daß sein Sohn sich nicht von den Verlockungen dieser Weltstadt benebeln ließe und sein Studium im Jahre 1984, wie geplant, zu bringen würde. Ahmet hatte es seinem Vater versprochen, als dieser davon sprach, Ende daß die Mädchen in London anders seien, viel freier und ungehemmter, und daß sie eine auffällige Vorliebe für gutaussehende Männer mit dunklen Augen und schwarzem Haar hätten. Ahmet wußte, daß er so etwas seinen Eltern nicht zumuten konnte, gestand sich aber ein, daß er nicht ungern nach diesen blonden Wesen schielte. Erfahrung hatte er aber noch nicht auf diesem Gebiet, dazu müßte er zunächst einmal seine Unbeholfenheit ablegen, die ihn ärgerte. Auch seine große Schüchternheit stand ihm im Wege und heute, mit zwanzig Jahren, muß er sich eingestehen, daß er immer noch errötet, wenn er von einem Mädchen angesprochen wird.
Ahmets Freunde Jim und Nikos scheinen keine Probleme mit dem anderen Geschlecht zu haben. Mit loser Zunge können sie die unterschiedlichsten Schönheiten beschreiben, die ihnen oft bei ihren abendlichen Streifzügen durch die Londoner Innenstadt begegnen. Für sie ist das ein wichtiges Thema. Deshalb vernachlässigen sie jedoch ihr Studium keineswegs. Jim kam aus Australien nach London und Nikos aus Athen. Es hat Ahmet nie gestört daß Nikos Grieche ist, der ewige Konflikt zwischen Türken und Griechen ist ihm allerdings mehr als vertraut, hatten doch seine Kinderjahre ganz unter diesem schrecklichen Zeichen gestanden. Doch Nikos war ein gütiger, humorvoller Zeitgenosse. Warum sollte Ahmet nicht einen Griechen zum Freund haben? Den Eltern mußte man dies ja nicht unbedingt anvertrauen. Onkel Turgut, der Nikos und auch Jim gut kannte, hatte  nichts gegen diese Freundschaft. Eines Abends ruft Nikos an: „Na, altes Haus, wieder bei Tante Jane am häuslichen Herd? Warum kommst Du nicht mit  zu Kostas? Er feiert morgen. Was, habe ich vergessen.“ „Warum, ich kenne ihn doch nicht?“ „ Ist das ein Grund? Es gibt allerhand hübsche Dinger dort, wie ich den Laden kenne. Außerdem hat Kostas drei Schwestern, die noch nicht unter der Haube sind“, sagt Nikos. „Und die sich natürlich für einen aus dem feindlichen Lager interessieren,“ erwidert Ahmet. „Vergiß den Quatsch und komme!“ Ahmet überlegte kurz und sagte zu. „Du mußt mir aber sagen, wo`s hingeht und ob ich etwas mitbringen soll.“ „Kein Problem, es ist alles da. Nur solltest Du nicht wie ein Klotz in der Ecke sitzen. Ich hole dich ab, gegen acht Uhr.“
Ahmet verabschiedet sich von seinem Onkel. Tante Jane ist noch nicht von Einkäufen zurück.  Turgut küßt ihn auf beide Wangen und wünscht ihm einen schönen Abend. „Komme nicht zu spät nach Hause,“ sagt er noch. Es klingt wie eine Pflichtübung. Kostas hatte dreimal sturmgeläutet und gleich beim Anblick Ahmets anerkennend gemurmelt: „ Damit wirst du Furore machen.“ Er meinte den neuen Anzug, ein dunkelblauer Zweireiher, den Ahmet zum erstenmal trug. Die Party hatte schon begonnen als sie ankamen. Lärm und Musik scholl ihnen entgegen, als eine von Kostas` Schwestern öffnete. „Hübsch,“ dachte Ahmet und errötete leicht. Das Wohnzimmer war bis in den letzten Winkel besetzt. An ein Ausweichen auf die Terrasse war nicht zu denken, da die winterlichen Temperaturen dies nicht zuließen. Also setzte sich Ahmet neben ein Mädchen, das freundlich zur Seite rückte. „Ich bin Ahmet“ sagte er nur. Sie antwortete: „Kristina“ und drehte sich zu einer Nachbarin um, die ein Tablett mit Getränken auf einer Hand balancierte. Sie nahm zwei Gläser herunter und reichte eines davon Ahmet, der sich erfreut bedankte. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, was er getrunken hatte. Kristina trug ein rotes Kleid und die dazu passenden Schuhe. Ahmet fiel auf, daß sie die anderen nicht kannte, außer der einen Schwester von Nikos, mit der sie zur Schule ging. Man spürte, daß sie schon länger in Großbritannien war. Ihr Englisch war fehlerfrei, ihr Akzent schwer auszumachen. „Ich bin Griechin,“ sagte sie, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. „Du ahnst sicher woher ich komme,“ meinte Ahmet, worauf sie flüsterte: “Aber das macht doch nichts.“ Gleich spürte sie, daß ihre Antwort etwas Verletzendes enthielt und fügte hinzu: „Es ist nicht unsere Schuld, was unsere Länder so treiben.“ Ahmet war glücklich über diese Bemerkung und lenkte das Gespräch auf andere Themen, bis er bemerkte, daß links von ihm Nikos saß, der mit Jim und Kostas Witze austauschte. Er wandte sich kurz ab und drehte sich wieder hin zu Kristina, die ihn verlegen musterte. Er wußte nichts zu sagen und hätte ihr doch gleich haufenweise Komplimente machen können, denn sie hatte blaugraue Augen und einen schönen intelligenten Mund. Es fiel ihm ebenfalls auf, daß sie nicht wie eine klassische Griechin aussah, eher wie eine Synthese aus Nord und Süd, vielleicht auch noch mit einem slawischen Einschlag. Seine Verwirrung war ihm anzusehen. Dennoch wagte er, sie zu einem Tanz aufzufordern, der gerade in einem anderen Raum begann und zu dem schon mehrere Paare aufgebrochen waren. Da kam es ihm in den Sinn, daß sie erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein mußte. Vielleicht hatte sie das Tanzen noch nicht gelernt. Etwas hektisch zog sie ihn jedoch hinter sich her, und als er sie leicht umfaßte, fühlte er, daß sie etwas zitterte. Ein aufregendes Gefühl durchströmte ihn, als der Tanz einigermaßen ruhig verlief und sie anschließend zu ihren Plätzen zurückgingen. 
Der Abend war sehr unterhaltsam. Ahmet schaffte es auch, irgendwie Interesse an Kostas` Schwestern zu zeigen, mit denen er nun auch tanzte. Sie kamen ihm etwas unreif vor, und sie waren nicht besonders erpicht darauf, neue Bekanntschaften zu machen. Kristina wurde ganz plötzlich von ihrer Mutter abgeholt. Ein kurzer Blick in die Runde, die sich nach Mitternacht schon etwas gelichtet hatte, und sie war verschwunden. Ahmet bedauerte, daß die Zeit so schnell vergangen war und daß er so wenig sagen konnte und nicht einmal erfuhr, daß sie bei       ihren Eltern in einem Londoner Vorort lebte. Jetzt fühlte er eine gewisse Leere und wollte ebenfalls aufbrechen. Nach einigem Hin und Her verabschiedete sich Ahmet, nicht ohne sich für die Gastfreundschaft zu bedanken, und kehrte mit der U-Bahn nach Hause zurück. Onkel Turgut schlief noch nicht, aber Ahmet wollte nicht viel erzählen. So gingen beide schlafen.




Zypern, meine große Liebe?

In den frühen achtziger Jahren hatte ich im türkischen Teil der immer noch geteilten Mittelmeerinsel Zypern ein Haus erworben und, so gut ich konnte, dort meine freie Zeit verbracht und dort den ewig blauen Himmel bewundert. Die Streitigkeiten zwischen der türkisch- und der griechisch-zyprischen Bevölkerung blieben weitgehend unsichtbar, denn die Insel wird auch heute noch von einer Demarkationslinie, der Green Line, durchschnitten, die durch Truppen der Vereinten Nationen kontrolliert wird. Von meinen griechischen Freunden hatte ich damals nur Unverständnis und auch offene Feindseligkeit zu spüren bekommen, wenn sie erfuhren, dass ich es gewagt hatte, im international geächteten türkischen Teil Urlaub zu machen. 

Inzwischen hat sich die Lage etwas entspannt. Beide Lager bekunden Interesse daran, die ethnischen Gruppen friedvoll wieder zusammen zu führen. Allerdings bleiben viele Probleme ungelöst. Frühere Besitzer von zwangsweise oder freiwillig verlassenen Häusern und Grundstücken wollen zurück oder wenigstens angemessen entschädigt werden. Die große Frage ist jedoch, wer gibt in einem "wiedervereinigten" Zypern den Ton an? Wie soll ein Land regiert werden, das von einer Mehrheit zyprischer Griechen im Süden und einer türkischen Minderheit im Norden bewohnt wird? Viele Jahre sind seit der Teilung vergangen und einige werden noch vergehen. Doch die Grenze ist durchlässig geworden. Es gibt neue Hoffnung.

Als ich 1984 in einem Café im Zentrum von Kyrenia, das die Türken Girne nennen, mit einem Zyprer ins Gespräch kam, erzählte er mir, dass er seinen Sohn, den ich später auch mal traf, nach London auf eine "Business School" geschickt hatte, damit er etwas lernen sollte. Die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien hatte die Insel 1960 in eine prekäre Freiheit entlassen, mit der die griechisch dominierte Insel nicht zurecht kam. Der Konflikt führte letztendlich zur Teilung und zur Entstehung zweier total voneinander getrennter Gebilde. Ahmets Vater hielt mich gelegentlich auf dem Laufenden. Daher wusste ich, dass Ahmet später als Politiker Karriere machte, worüber ich mich freute. Als ich über zwanzig Jahre später durch Zufall erfuhr, was Ahmet alles erlebt hat, und dass ich, ohne es zu wissen, mit seiner großen Liebe bekannt war, bevor er sie dann wieder gesehen hatte, beschloss ich, deren Geschichte aufzuschreiben. Sie hat die Form eines Kurzromanes angenommen, den ich in "Raten" hier wiedergeben möchte. Kristina stammte von der griechischen Seite. Es war nach der Teilung der Insel, 1974, so gut wie undenkbar, dass ein Inseltürke und eine Inselgriechin zusammenkommen. Doch die Liebe findet immer Wege, manchmal auch Umwege. Meine Geschichte, von der ich hoffe, dass sie auch in Details noch stimmt, nenne ich "Ahmet und Kristina".


IMG_0739.JPG.jpg



Mittwoch, 23. November 2011

Speed Dating, Fast Food, Rating Agenturen!



Dass wir das Wort "Rating Agenturen" nicht schon durch "Rating Agencies" ersetzt haben, ist wohl der deutschen Schlampigkeit anzulasten. Geschwindigkeitsstelldichein, Schnellessen, igittigitt! Was für Wortungeheuer. Wo bleibt das geliebte Wortgut? Die Querung des Flusses? Die Findung einer Lösung? Der Abtrieb eines ungewollten Kindes, eines Babies, sozusagen? Wir nennen alles beim Namen und wissen nicht mehr, wovon wir reden.

Wir verirren uns täglich, finden uns hingegen nur noch selten. Was wir finden, ist der von Konzernen gemachte Bedarf. Er entspricht keinem Bedürfnis. Bedürfnisse sind nämlich ganz einfach zu befriedigen: selbst der Sexualtrieb macht da keine Ausnahme. Statt teurer Lederjacke: Strickjacke. Statt Straßenkreuzer: Autöchen. Statt Speed Date: liebevolles Herumsuchen nach geeigneten Partnern.

Man muss keine frische Gänseleber, gebraten, auf gedämpftem Apfelbett, mit einem Glas Champagner, täglich auf dem Tisch haben. Dieses Bedürfnis kann man vielleicht einmal im Jahr stillen. Einen Bedarf gibt es hier nicht. Das gilt auch für Hummer. Und für Luxusautos. Und für Kreuzfahrten im Allgemeinen.

Entschleunigung, Entkrampfung, Entsagung, Entrüstung, Entwarnung, Entzerrung: Was für
schöne Ent-Wörter haben wir da? Nehmen wir die noch ernst? Jetzt, vor Weihnachten, fällt mir ein, dass maschinengebackenes Gebäck auch mit Wiegroßmutteresnochmachtenamen beschissen schmeckt. Großmutter bleibt Großmutter. Ersatz gibt es dafür nicht. Weihnachtslieder, die schon im November zu dröhnen beginnen, hören sich beschissen an. Festbeleuchtung an allen Ecken bevor es losgeht, auch beschissen. Machen wir uns frei davon, damit wir uns von den Neureichen, den Habenichtsen und den Altbürgern unterscheiden können, indem wir der Entmenschlichung entgegentreten.

Weihnachtliches Entsetzen

Christkind duftet stark nach Tannen,
Nicht nur unter Achselhöhlen,
Zieht geschminkt und froh von dannen,
Weit hört man sein frommes Gröhlen.
Bodylotion, Salben, Zimtstern,
Schleppt es mit auf seinem Wege
Zu den Menschen, jeder nimmt gern
Alles für die Körperpflege.
So wird Weihnacht immer wieder
Zur privaten Katastrophe.
Und dann klingen frohe Lieder
Ganz gescheite und auch doofe.

Montag, 21. November 2011

Was stimmt bei euch nicht, Frauen?



Gehe ich recht in der Annahme, dass die Hälfte des menschlichen Bestandes (in etwa) weiblich ist? Was heißt das denn? Das heißt, dass die halbe Menschheit mit Titten herumläuft und auch hormonell anders geartet ist als der Mann. Das führt mitunter zu Geschlechtsverkehr, und das wiederum, zu jenem herrlichen Nachwuchs, mit dem wir Väter besonders gerne "killekille" machen, wenn man uns lässt. Darüber hinaus verstehen es manche Paare (wohl auch die gleichgeschlechtlichen), ein auf Liebe beruhendes Dauerverhältnis hinzukriegen, das man Familie nennen kann. Oft geht es zwar auch schief, doch ist unser Leben auf der Annahme aufgebaut, die Suche nach Glück, im einzigen Leben, das man hat, sei etwas Anständiges.

Die Gelehrten der alten Religionen, seien sie jüdischer, griechischer oder römischer Orientierung gewesen, haben ein niederträchtiges Schema der Beherrschung entwickelt: das Heraushalten jeglicher Frau vom salbungsvollen Gehabe des Priestertums. Bis zum Jahr Tausend nach Christus etwa, waren die meisten katholischen Priester noch verheiratet. Dafür gab es aber auch die Banco di Santo Espirito (ich prüfe die Schreibweise mal nicht nach) noch nicht. Andererseits aber viele glückliche Priester, die sich von den Reizen einer Frau nicht abschrecken ließen.

Dann kam die Verschämtheit: der reine Mann könne sich nur dem Dienste des Herrn widmen, wenn er auf Geschlechtsverkehr verzichtet, wenigsten nach außen hin, wurde fromm argumentiert. Natürlich ist es Jedermanns Sache, wie er es mit dem intimen Umgang hält, sofern Minderjährige und Abhängige nicht betroffen sind. Das salbungsvolle Herumturnen in speziell angefertigten Gewändern, so wissen wir es schon lange, ist ein Instrument der Herrschaft bzw. der Beherrschung. Richter, Könige, Ärzte und natürlich hauptberufliche Zeremonienmeister könnten  ein Lied davon singen, wenn sie es wollten.

Wir wissen, dass Frauen in der Politik selten zu Verteidigungsministern ernannt werden. Warum wohl? Weil sie nicht aggressiv genug vorgehen? Wie wäre es denn, wenn die katholische Kirche die verknöcherten Machtspielchen endlich aufgäbe und Frauen zu Diakoninnen ernennen würde? Zieht ihnen schöne Kleider an, dann ist der Schock nicht so groß. Ich habe jedoch den Verdacht, dass Frauen gar nicht so pompös veranlagt sind. Sie stehen den Realitäten gewöhnlich näher als Männer. Ich bin immer noch von dem Gedanken fasziniert, dass es einmal eine Päpstin gegeben haben soll. Diesen (heftig geleugneten) Durchbruch hat die Kirche allerdings nicht geschafft. Ein neuer Anlauf wäre nötig.

Sonntag, 20. November 2011

Die Mutter - glücklich wiedergefunden


Man sollte nicht annehmen, dass Mütter verloren gehen. Hier handelt es sich jedoch um Muttern, genauer, um Schraubenmuttern, ganz genau um eine Mutter. Aus Metall. Klar genug?
Wir hatten in einem schicken Geschäft ein faltbares Holztischchen gekauft. Weiß. Sommerlich. Seitdem benutzen wir es regelmäßig als Frühstückstischchen, vor allem in der kühlen Jahreszeit.

So weit, so gut. Eines Tages ließ das Tischchen sich nicht mehr falten. Eine Mutter hatte sich gelöst. Sie fehlte. Lange suchte ich nach einem Ersatz. Dann fand ich sie. Sie passte, wurde an der Stelle eingeschraubt wo sie hingehörte. Seit dieser Zeit weiß ich, wenn ich am Tischchen sitze und mir ein Brötchen streiche, dass die Mutter nicht die richtige ist. Sie kann jederzeit wieder herunterfallen. Was dann? Habe ich ein Problem? Warum klappt die Schraubenmuttergenesung nicht? Bräuchte ich gar einen Mutterschaftsurlaub? Einen Schraubenmutterschaftsurlaub? Die Ersatzschraube hat bisher gut gehalten, aber, man muss auch an die Zukunft denken, denke ich.

Was dann passierte, schlägt jeder Theorie von der Unauffindbarkeit von Schrauben und Muttern ins Gesicht: Seelenruhig lag sie da. Ich erkannte sie sofort. Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ich musste sie irgendwann gefunden haben, ohne zu wissen, zu wem sie gehörte. Also   lag sie still da, wo sie hingelegt wurde. Und wartete. Auf einem Regal. Jetzt ist die Zeit gekommen: sie kann ruhen bis sie gebraucht wird. Der Tag kommt bestimmt. Dann weiß ich, wo ich meine Mutter finde. Am Frühstückstisch muss ich jetzt nicht mehr immer an sie denken. Wie schön, wenn man seine Mutter glücklich wieder gefunden hat.