Samstag, 16. Oktober 2010

Was ist ein Betablocker?



Eine klare Antwort auf diese Frage kann nicht erwartet werden. Bitte, nicht auf den Beipackzettel, etwa von Bisoprolol, schielen. Die Verwirrung wäre groß. Auch Ärzte sind denkbar ungeeignet, hierauf zu antworten. Und noch etwas: fragen sie nie ihren Apotheker. Wenn schon die Pharmaindustrie verständliche Auskünfte verweigert, bleibt nur noch das Internet: der zweite Buchstabe des griechischen Alphabeths, wer weiß das noch(?), heißt Beta.




Ein Blocker war ganz früher ein schwerer eiserner Klotz, den man mit Hülfe eines in die Mitte eingelassenen Stieles mit rundem kugelartigem Metallteil in verschiedene Richtungen bewegen konnte, um Mutters Parkett zu scheuern. Einerseits habe ich das als Knabe gerne getan, weil es  eine wohlige Macht über den frischgebohnerten Haushalt vermittelte, andererseits war viel Arbeit damit verbunden, denn die Zahl an zu wienernden Quadratmetern wollte oft kein Ende nehmen. Wenn man gut gewienert hatte und das Gleichgewicht halten konnte, war es möglich, mit Schwung auf dem Blocker stehend durch das Zimmer zu sausen. Die Bremswirkung wurde dann von der Wand ausgeübt, auf die man prallte. Ich kenne noch immer keine Mutter, die solches Tun gebilligt hätte. 
Wenn der Mensch älter wird, oder sagen wir es mal so: wenn seine Jugend sich als brüchig erweist, und gewisse Gebrechlichkeiten sich unangemeldet in den Körper schleichen, dann ist die Zeit gekommen, sich über seine Gesundheit, oder über seine Krankheit(en) Gedanken zu machen. Das geschieht oft unter dem kompetenten Beistand des Onkel Doktors, den man noch aus Kindeszeiten in lebhafter Erinnerung hat. Doktor Nees war mein Lieblingsarzt. Er hatte eine lange Nase und kam mit seinem Opel angebraust, wenn wir Kinder ein Wewehchen hatten. Da wurd hier ein wenig gedrückt und da ein wenig geschüttelt, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen: ein Fläschchen mit Medizin, vom Apotheker liebevoll zusammengerüttelt. Bald war man wieder gesund. Doktor Nees war da ganz sicher.  Oder ist es inzwischen so, dass ein durchaus gesunder Mensch sich schon selbst um seinen zweifelhaften Zustand zu sorgen hat? Vielleicht gar die Pharmaindustrie, die sich hauptsächlich in Werbespots, Faltblättern und Apotherkerumschauen zu sorgen scheint? Motto: Wo bleibt der Umsatz? Inzwischen werden die Milliarden in die Kassen gespült, leider sind es nicht die Krankenkassen, sondern die gesunden Kassen der, na, wir wissen‘s schon...
Also, wer Betablocker nimmt, kann Erektionsstörungen bekommen, es sei denn, es handelt sich um einen rein weiblichen Patienten. Doch davon später. Viel alarmierender ist es, dass Frauen ihren Arzt informieren müssen, wenn sie schwanger sind oder werden wollen. Er wird dann entscheiden, ob ein B-Blocker eingenommen werden darf oder nicht. Dabei ist noch nicht einmal bekannt, ob dieser in die Muttermilch ausgeschieden wird. Das Stillen während der Einnahme von Betablockern ist also nicht erlaubt. Auch sollte man höchst vorsichtig sein, bei Diabetes, Nieren- und Leberproblemen, Durchblutungsstörungen, leichtem Asthma, schuppendem Hautausschlag und Schilddrüsenerkrankung. Was bei der Einnahme dieses Wundermittels auch häufig auftreten kann, sind: Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung. Von den gelegentlich oder selten auftretenden Wirkungen (Depressionen, Alpträume, Halluzinationen, verminderter Tränenfluss etc.) wollen wir hier nichts wissen. Erektions- und Hörstörungen, sowie Haarausfall sind schlimm genug. 
Also konzentriere ich mich auf das Wesentliche: Nach etlichen Jahren, die ich mit Betablockern, Blutverdünnern, Cholesterinspiegelsenkern und gelegentlichen Schlafmitteln verbracht habe, war eine ärztliche Generaluntersuchung nötig, die mich an die Uniklinik in Freiburg brachte. Dabei war die Lektüre der Beipackzettel, wahre Meisterwerke der Verschleierungskunst, das eigentliche Problem. „Lesen Sie die gesamte Packungsbeilage (wie vornehm!) sorgfältig durch, bevor Sie mit der Einnahme dieses Arzneimittels beginnen“. Die mysteriöse Formulierung, gepaart mit einer guten Dosis Langeweile, hat mich immer schon fasziniert. Sie erinnert an politisch gemeinte Ansprachen von Pastor Westerwelle oder Bischöfin Merkel. Fromme Ungenauigkeit pflastert ihre Wege. Der Herr möge sie dafür bestrafen!
Ich hatte nach einer Tumorentfernung (Hypophysenadenom) und gut überstandenem Schlaganfall, den Ärzten versprochen, regelmäßig nach Freiburg zu kommen, um den Entwicklungsstand des Adenoms (eine meist gutartige Geschwulst) und meine endokrinologischen Verhältnisse überprüfen zu lassen. Das geschah zunächst einmal im Jahr. Dann wurde Entwarnung gegeben. Schließlich schlampte ich ein wenig und meldete mich erst wieder nach vier Jahren zu einer Kernspintomographie und einem Endocheck an. Entstprechend leise war der Tadel, anerkennend das Lob, doch wieder gekommen (da noch am Leben) zu sein. Da die Indikationen in den Beipackzetteln bezüglich Verkehrstüchtigkeit und Bedienen von Maschinen (was eigentlich dasselbe ist) nicht eindeutig gegen das Benutzen eines Autos sprechen, beschloss ich, an einem zweifelhaften Märztag im Jahr der Oberammergauer Passionsspiele nach Freiburg zu fahren. Zweifelhaft deshalb, weil Märztage ohnehin kalt und windig sind, und die lauen Versprechungen eines warmen Frühlingstages gewöhnlich nicht eingehalten werden. Diesmal sah es jedoch ganz gut aus: die Sonne zeigte sich, wenn auch etwas zögerlich. Also fuhr ich auf der Autobahn gen Freiburg: ein erster Raser blitzte mich wütend an, obwohl ich selbst am Überholen war, ohne allerdings 190 zu fahren. „Arschloch“, dachte ich, obwohl wahrscheinlich seine Hirnmasse nicht ausreichte, um zu kapieren, dass Autofahren nichts mit Krieg zu tun hat. Nach einigen solcher Nötigungen wird man dann wieder heiter. Arschlöcher gibt es überall. Womöglich leiden sie unter Testosteronmangel, oder ihre Ziehmutter hat sie nicht früh genug von der Brust genommen.
Das Klinikum
Viel zu früh kam ich dort an. Das architektonische Chaos, das ich vor Jahren schon physisch erlitten habe, ist sich treu geblieben. Allerdings haben sich die Parkmöglichkeiten verbessert. Ist es möglich, dass die Pharmaindustrie am Bau von Tiefgaragen mitverdient? An den Gebühren sollt ihr sie erkennen. Schwammdrüber: ich meldete mich an. Zuerst in der Kernspinto, wo ich von zwei süßen Babydoctors (einer schwarz, einer weiß) fast zärtlich in Empfang genommen wurde. Dennoch: die erste Spritze saß. Kontrastmittel. Ablegen aller metallischen Gegenstände. Freundliche Hinweise. „Drücken sie auf diesen Ballon in ihrer Hand, wenn sie ein Problem haben. Jaja. Diese Tortur kannte ich. Dann wurde ich eingeführt. Mit dem Kopf zuerst. Das Hämmern begann alsbald. Zwanzig Minuten sollten es sein: es wurden 23 lange Minuten. Ich versuchte,  mitzuzählen, um ein Gefühl zu bekommen, wann der Terror zuende sein würde. 20 mal bis 60 zählen, macht 1200. Ungefähr. Ängstlich blinzelte ich ab und an auf das Gehege, das meinen Kopf umgab. Platzangst ist das Gefühl. Nur keine Panik, ist die verzweifelte Vorstellung, mit der man auf das Ende wartet. Das kommt dann doch. Des Mitgefühls aller Beteiligten bin ich sicher. Wir trennen uns freundschaftlich, nachdem ich meine Habseligkeiten (Uhr, Geldbeutel, Gürtel, Brille und Autoschlüssel) wieder entgegen genommen hatte.
Nächster Termin: Anmeldung in der Endokrinologie, was nur einen begrenzten Hinweis auf den Reichtum der Spezialitäten dieser Abteilung vermittelt. Denn Endokrinologie beherbergt auch Diabetologie.  Dazu gehören gastrointestinale Tumore, Thoraxchirurgie, Schilddrüsensonographie, Knochendichtemessung und ein Forschungslabor. Was eine Diabetes-Fußambulanz ist, habe ich vergessen, zu fragen. Nun, diese Ambulanz wird schon ihre  Richtigkeit haben. Natürlich war diese Untersuchung durch Professor Meyer-Dietenfurth (Name geändert, die Redaktion) äußerst aufschlussreich, wurde jedoch überschattet durch die exzessive Entnahme von Blut, das dann laborseitig regelrecht ausgewertet wird. Das Wort „aufschlussreich“ verwende ich gerne, weil meine britische Gemahlin lange brauchte, um dahinter zu kommen, was es bedeuten könnte. Seither liebt sie dieses Wort, und ich liebe mit. Zurück zum Professor: Wir konnten uns sofort darauf verständigen, dass meine Lateinkenntnisse ausreichend sein würden, um der Unterhaltung folgen zu können. Im Großen und Ganzen wurden mir nur gute Nachrichten übermittelt. So konnte ich zum erstenmal offiziell in Erfahrung bringen, dass mein fast libidinöser Genuss von Alkohol (meist Wein) der Gesundheit durchaus dienlich sein kann, von übertriebenen Auswüchsen einmal abgesehen. Überrascht war ich andererseits, als meine schüchterne Frage bezüglich meiner Libido auf fruchtbaren Boden fiel: ohne mich schämen zu müssen, erzählte ich dem Doktor, dass es auf diesem, im allgemeinen, erfreulichen Gebiet manchmal Aufs und Abs gäbe, die womöglich mit der Einnahme von Betablockern zusammenhingen. Das hatte ich (siehe oben!) einem Beipackzettel entnommen und damit genau ins Schwarze getroffen. Nach einer ziemlich keuschen Unterhaltung, was mich schnell wieder froh machte, beschlossen wir, diesen verdächtigen Betablocker durch einen anderen zu ersetzen. Meine britische Frau wird dem Wort „aufschlussreich“ neue Bedeutung zuweisen. Ich kann und will sie nicht daran hindern. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein. Die abschließende Urinprobe verlief ohne Zwischenfälle. Schon war ich auf dem Weg zu  Professor Wittgenstein (die Redaktion hat das wieder geändert): Anderes Thema, anderes Gebäude. Nicht ohne zuvor lustlos einen Linseneintopf mit Wursteinlage verspeist zu haben. Diesmal ging es um die Folgen oder Nichtfolgen der Hypophysenoperation vor sieben Jahren. Auch hier ergaben sich keine größeren Mängel, außer, dass ich beim blinden Fußvorfußsetzen (was für ein Wort!) fast gestolpert wäre. Ein Augentest wird notwendig sein. Fast bin ich froh darüber, denn ich habe mich schon lange nicht mehr beim Augenarzt blicken (sic!) lassen. Schade, dass ich meine langjährige Augenärztin wegen einer unerträglichen Sprechstundenhilfe aufgeben musste. Sie hat diese Hilfe einfach nicht verdient. Da kann man nur froh sein, dass die Betreuung in der Freiburger Klinik auf der Höhe der Zeit ist. Auch Patienten sind Menschen. Manche haben sogar Abitur und Ähnliches. Nicht alle sind uralt und schwerhörig, sodass man für eine zivilisierte Behandlung immer dankbar ist. Dieses Kompliment muss ich auch den Damen machen, die für die organisatorische Behandlung eines Patienten zuständig sind. Gewöhnlich fühlt man sich schon gedemütigt, wenn man in einem lächerlichen Hemdchen auf einem quietschenden Bett auf das Klappern der zur Unzeit herbeieilenden Nahrung wartet, oder gar auf den zuständigen Arzt, der oft den Patienten zeitlich auf ein Minimum zusammenquetscht. Nichts von alledem: Man wird routiniert freundlich behandelt und fühlt sich den Umständen entsprechend wohl. Ende gut, alles gut. In fünf Jahren bin ich wieder dabei. Dann werde ich – so Gott will (das ist nie sicher) - ein Auto besteigen und nach Freiburg fahren. Hoffentlich wieder im März, denn mein mehrmaliger Gang durch den Park hat mir das herrliche Gefühl des ausbrechenden Frühlings vermittelt. Auf dem Rasen blühten Tausende Krokusse, violett und gelb, von leuchtenden Schneeglöckchen durchgesprenkelt. Ein Gedanke wandert hinüber in das Studentenheim, wo ich vor Jahren viele schöne Jahreszeiten erlebt habe. Eigentlich wollte ich noch einen Besuch bei lieben Freunden machen. Als ich dann mein Auto wiederfand, in der zeitgemäßen Tiefgarage, beschloss ich, auf dem schnellsten Wege nach Hause zu fahren. Der Verkehr war auf Arbeitsschluss programmiert. Die Arschlöcher hatten wieder das Sagen. Sie arbeiten auf die üblichen Staus hin: Gasgeben, bremsen, Gasgeben, bremsen. Aber Wolfgang fühlte sich erleichtert, fast heiter. Freiburg ist schön. Der Frühling ist schön. Ein Tag im Krankenhaus kann auch schön sein. Als er ohne Stau allen Übereifrigen auf der Autobahn verziehen hatte, reifte in ihm ein Plan: Heute Abend werden Cath und ich im Rebstock in Durbach dinieren. Mein Lieblingswein, der weiße Klevner-Traminer, schmeckte herrlich. Cath griff zum Durbacher Sekt. Leicht angedudelt (ich bitte alle Gesundheitsspezialisten um Verzeihung) fanden wir unseren Weg nach Hause. Die nette Dame bei Professor Wittgenstein (der Name wurde schon wieder geändert) werde ich in den nächsten Tagen anrufen um für ihre Freundlichkeit und ihr fröhliches Lachen zu danken.  So ein Frühlingstag hat etwas.                                                                                                                       Wolfgang Rössle 

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